Hamburg, Staatsoper, RUSLAN UND LJUDMILA, M. Glinka, IOCO
- November 2025 Premiere
Michail Glinka (geboren 1804 in Nowgorod – gestorben 1857 in Berlin) gilt als der Begründer der klassischen russischen Musik und ist als zentrale Figur des russischen Nationalstils im 19. Jahrhundert anerkannt. Sein kompositorisches Schaffen legte den Grundstein und diente als Vorbild für die späteren Generationen russischer Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts wie Borodin, Rimski-Korsakow und Mussorgski, die die russische Musiksprache weiter entwickelten und international bekannt machten. Seine erste, 1836 uraufgeführte Oper „Ein Leben für den Zaren“, gilt als erste russische Oper überhaupt und wird als nationales Meisterwerk angesehen.
Glinka studierte am Musikkonservatorium in St. Petersburg, unternahm Studienreisen nach Italien und Deutschland, wo er die europäische Operntradition studierte, in Neapel die Bekanntschaft mit Rossini und Donizetti machte, und von dort neue Impulse für das russische Musikdrama mitbrachte. Und so verfolgte er eine Vision von eigenständiger russischer Musik, die auf slawischen Volksmelodien, russischen Harmonien und dramatischer Ausdruckskraft basiert.
Seine Oper „Ruslan und Ljudmila“ wurde nach dem gleichnamigen Gedicht von Alexander Puschkin geschaffen. Durch seine Bekanntschaft mit Puschkin und mit anderen fortschrittlichen Persönlichkeiten des russischen Geisteslebens jener Zeit wurde sich Glinka bald des großen humanistischen Gehalts der russischen Kultur bewußt und er fühlte, wie er selbst sagte, eine Verpflichtung in sich, „auf russische Art zu komponieren“. Und so verbindet er in dieser Komposition russische Folklore-Melodien, volkstümliche Klangfarben, patriotische Stimmungen durchaus mit gewissen europäischen Opernformen, jedoch ohne diese nachzuahmen.
Glinkas „Ruslan und Ljudmila“ ist eigentlich eine Märchenoper aus der slawischen Welt mit Helden, Zauberern, magischen Kreaturen. Doch davon ist in der Neuinszenierung des ungarischen Regie-Duos Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka an der Hamburgischen Staatsoper nichts übrig geblieben. Beide Damen zeichnen auch für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich.

Die Bühne ist düster, Swetosars Festsaal ist ein grauer Klotz, das Schlachtfeld ist eine U-Bahn-Station mit Graffiti beschmierten Wänden, das Haupt des Riesen ist die Front eines U-Bahn-Waggons, das Zauberreich der Naina ist im Rotlichtmilieu angesiedelt mit schrill gekleideten Paradiesvögeln.
Ruslan greift gern zur Flasche und ist wohl auch an Ratmir interessiert, Ljudmila soll tablettensüchtig sein, und Ratmir fühlt sich im Trans-Milieu offenbar wohler als an der Seite seiner Geliebten Gorislawa. Und damit sind wir bei den Intentionen der beiden Regisseurinnen, nämlich in die Handlung von Pushkins und Glinkas „Ruslan und Ljudmila“ auf Biegen und Brechen eine, laut Programmheft, „Coming-of-Age-Geschichte jenseits der patriarchalen Ordnung“ hineinzupressen, weil das Thema LGBTQI+ derzeit noch irgendwie angesagt, aber eigentlich auch nicht mehr so brandaktuell ist, daß man nun unbedingt ins Staunen gerät bei dem, was auf der Bühne geboten wurde. Ein sehr großer Teil des Publikums war am Ende jedenfalls nicht einverstanden mit dem, was dem Regie-Duo zu Glinkas wunderbarem Werk eingefallen war und buhte lautstark.

Aber da war ja auch noch die musikalische Seite des Abends, und die ließ kaum Wünsche offen. Glinkas anspruchsvolle Partitur lag bei dem jungen russischen Dirigenten Azim Kamirow in besten Händen. Unter seiner sachkundigen Leitung lief das Philharmonische Staatsorchester sogleich mit der rasant genommenen Ouvertüre, fast Rossini-mäßig, zu großartiger Form auf, spielte sehr differenziert (abgesehen von ein paar Entgleisungen bei den Bläsern), zauberte volkstümliche Stimmungen, bot klare melodische Linien, setzte dramatische Akzente und sorgte über fünf Akte für intensive Spannung.
Barno Ismatullaeva gab an der Hamburger Staatsoper bereits Rollendebüts als Norma und als Elisabetta in „Maria Stuarda“, nun fügte sie ein weiteres hinzu und präsentierte als Ljudmila ihren klangschönen wandlungsfähigen Sopran, den sie sowohl dramatisch aufblühend, dann aber auch weich und empfindsam mit zarten Piani, feinen Zwischentönen, langen Bögen und sicheren Koloraturläufen einzusetzen verstand. Einen anrührenden Moment bot sie in ihrer angedeuteten Selbstmordszene, wenn sie sich mit den Kufen der Schlittschuhe ihre Pulsadern aufzuschneiden hatte, und sie sah entzückend aus zuletzt in ihrem weißen Brautkleid.

Ansonsten gibt es, was die Personenregie anbelangt, nicht viel erwähnenswertes, denn meistens standen die Solisten an der Rampe und konzentrierten sich auf ihren Schöngesang.
Ilia Kazakov, ein neues Ensemblemitglied an der Hamburger Oper, beeindruckte als Ruslan mit einer markanten, technisch perfekten Bass-Stimme von klangschöner edler Mittellage und sonorem Tiefenregister.
Der schottische Tenor Nicky Spence übernahm die Partien des Sängers Bajan im ersten Akt sowie die des Zauberers Finn und gefiel sowohl von seiner zu diesen Rollen passenden Bühnenpräsenz als auch durch sein angenehmes lyrisches Stimmtimbre.
Der russische Countertenor Artem Krutko stammt aus Tschelyabinsk, gastiert u.a. am Moskauer Bolshoi-Theater, am St. Petersburger Marinsky-Theater, verfügt über ein interessantes Repertoire von Orlowsky über Cherubino, Siebel, Fjodor, bis hin zu Händels Julius Caesar. Sein Hamburg-Debüt gab er nun als Ratmir, eine Partie, die Glinka eigentlich für eine Altistin geschrieben hatte. Sein dunkles Stimmtimbre war nahezu ideal für den Ratmir, wobei er gesanglich im unteren Bereich doch an seine Grenzen stieß. Während seines Auftritts im dritten Akt im Travestie-Milieu durfte er sich seines Anzugs entledigen und stand in Korsage mit Strapsen da.

Kristina Stanek lieh ihre satte Alt-Stimme der bösen Zauberin Naina, die lyrische Sopranistin Natalia Tanasii aus Moldawien gefiel in der Partie der von Ratmir vernachlässigten Gorislawa, und die beiden Bässe Alexei Botnarciuc als Farlaf, einer der Verehrer von Ljudmilla, und Alexander Roslavets als Swetosar, Großfürst von Kiew und Ljudmilas Vater, füllten engagiert und perfekt ihre Partien aus. Auch der Staatsopern-Chor, von der neuen Chordirektorin Alice Meregaglia einstudiert, agierte in seinen Szenen mit vokaler Kraft.

Großer Jubel am Schluss für die musikalische Leitung und für sämtliche Solisten, erhebliche Missfallenskundgebungen fürs Regie-Duo.