Hamburg, Kampnagel, FRÜHLINGS ERWACHEN - Ludger Vollmer, IOCO
22. 6.2025
Mit der Uraufführung der Oper „Frühlings Erwachen“ von Ludger Vollmer gastierte die 'Opera piccola' der Hamburgischen Staatsoper im Kulturzentrum Kampnagel, gelegen im Stadtteil Barmbek.
Im Jahre 2002 hatte die Staatsoper die 'Opera Piccola' ins Leben gerufen, mit der Intention, in diesem Rahmen Aufführungen von kleineren Opern für Jugendliche zu präsentieren, um sie auf diese Weise an die Kunstgattung 'Oper' heranzuführen. Und die „Kampnagelfabrik“ ist ein für solche Projekte durchaus geeigneter Spielort.
Für Ludger Vollmer, einem Komponisten der jüngeren Generation (Jahrgang 1961), ist „Frühlings Erwachen“ bereits seine neunte Oper, d.h. der Komponist selbst bezeichnet dieses Werk als „Singspiel in zwei Akten“. Einige seiner bisherigen Opernkompositionen waren u.a. „Paul und Paula“ nach dem DDR-Kultfilm, „Lola rennt“ nach Tom Tykwers preisgekröntem Film, sowie die „Buddenbrooks“ nach Thomas Mann, uraufgeführt 2024 am Kieler Theater.
Nun hat sich Ludger Vollmer Frank Wedekinds 1891 geschriebener Kindertragödie „Frühlings Erwachen“ angenommen, ein Drama, welches zu den bedeutenden Werken des expressionistischen Theaters zählt. Thematisiert werden in diesem Stück das Leiden und die tragischen Erfahrungen von Jugendlichen im Übergang vom Kindsein zum Erwachsenen und wie deren Konflikte, die aufkommende Sexualität und die gesellschaftlichen Zwänge auf diese jungen Menschen einwirken – ein immerwährendes Thema, aktuell damals wie heute.
Der Librettist Martin G. Berger (Jahrgang 1987) verfasste aus Wedekinds Vorlage den Operntext in passender, teils salopper, manchmal aber auch recht derber Jugendsprache und veranschaulichte treffend und zeitgemäß die Handlung, die sich um eine Gruppe von Jugendlichen dreht, die in einer repressiven Gesellschaft aufwachsen und mit ihrer Sexualität, ihrer Identität und den Erwartungen der Eltern und ihrer Umwelt konfrontiert werden. Das Drama zeigt, wie Missverständnisse, Unwissenheit und gesellschaftliche Tabus zu tragischen Konsequenzen führen können.
Die Charaktere, insbesondere Melchior, Wendla und Moritz erleben Liebe, Verwirrung und Leid, wobei die restriktiven gesellschaftlichen Normen sie in eine existenzielle Krise stürzen.
Moritz ist ein schlechter Schüler und bangt um seine Versetzung in die nächste Klasse. Er hat Probleme mit seiner erwachenden Sexualität und sucht Rat und Hilfe bei seinem sich sehr selbstbewußt gebenden Freund Melchior, dem jegliche Unterstützung durch seine liberale und weltoffene Mutter Fanny Gabor zuteil wird. Der problembeladene Moritz jedoch, intensiv dargestellt von Timon Weber, erkennt für sich keinen Ausweg und begeht schließlich Selbstmord.
Wendla wird bei Vollmer gleich von zwei Mädchen dargestellt und gesungen, einerseits brav, folgsam, hört auf ihre Mutter, andererseits wissbegierig, will ihre Erfahrungen machen, läßt sich auf Melchior ein, der sie nimmt und wird prompt schwanger. Wendlas Mutter, Frau Bergmann, hatte es peinlichst versäumt, ihre Tochter aufzuklären, kümmert sich aber um die Abtreibung und nimmt den Tod ihrer erst 15jährigen Tochter lieber in Kauf, als die Schande ihrer Schwangerschaft zu ertragen.
Thea, eine weitere Mitschülerin, ist selbstbewußt, frühreif, und schläft dreimal in der Woche mit Otto, ohne sich an ihn binden zu wollen. Ernst und Hänschen haben Gefallen aneinander gefunden und gehen völlig unverklemmt mit ihrer Homosexualität um.
Die szenische Umsetzung durch den Regisseur Neco Celik auf dunkler, fast leerer Bühne mit einem Metallgerüst, auf und hinter dem sich einige Szenen abspielen, die dann per Livekamera auf eine Leinwand projiziert wurden (Alexander Wolf, Jan Speckenbach), zeichnete sich aus durch eine temporeiche, lockere Personenregie, die den Darstellern hinreichende Bewegungsfreiheiten und allerlei Ausdrucksmöglichkeiten erlaubte.
Ludger Vollmers tonale, durchaus gefällige Komposition wechselt ständig zwischen den Stilen, erinnert in weiten Teilen an Bernstein-Musicals, klingt phasenweise wie Janacek, manchmal wie Britten, oder auch mal Spanisch-folkloristisch wie im Mitch-Leigh-Musical „Der Mann von La Mancha“. Das Verführungslied der Ilse im zweiten Akt klang wie eine hebräische Volksweise.
Das Orchester setzte sich zusammen aus Mitgliedern des Felix Mendelssohn Jugendorchesters und des Philharmonischen Staatsorchesters, es wurde engagiert und einfühlsam geleitet von Luiz de Godoy, der die Intentionen des Komponisten perfekt umsetzen konnte. Es gelang hier eine außergewöhnliche Darbietung mit etlichen Höhepunkten. Es gab dramatische Passagen mit bombastischen Ausbrüchen der Bläser und der Schlaginstrumente, oder beseelte Arien wie die von Martha, die zuhause von ihrem Vater mißhandelt wird – Spohie-Miyo Kersting beeindruckte hier ganz besonders mit ihrem hellen, absolut höhensicheren lyrischen Sopran und dem herzerweichenden Lied „Wenn ich mal Kinder haben werde“.
Claire Gascoin hatte herausragende Momente als Mutter Melchiors und mütterliche Freundin von Moritz, ebenso wie Grzegorz Pelutis als ihr Ehemann, Lehrer, besorgter Stiefvater von Melchior.
Einen furiosen Auftritt mit dramatischem Aplomb hatte Naáma Shulman in ihrer Doppelrolle als Frau Bergmann, Mutter von Wendla, und im zweiten Akt als verführerische Ilse.
Das restliche junge Ensemble ging darstellerisch wie stimmlich wunderbar ambitioniert in ihren Rollen auf, ebenso wie die Mitglieder des Young ClassX Chors und des Alsterspatzen-Jugendchors der Hamburgischen Staatsoper.
Das begeisterte meist junge Publikum spendete sämtlichen Mitwirkenden lang anhaltenden Beifall, in den auch der anwesende Komponist mit einbezogen wurde.