Hamburg, Elbphilharmonie, "Kintsugi" + "Silentium", Leon Gurvitch Ensemble / Hamburger Kammerballett, 16. Mai 2025

Hamburg, Elbphilharmonie: LEON GURVICH ENSEMBLE und das HAMBURGER KAMMERBALLETT–16. 5.
Während der in Hamburg lebende Komponist und Pianist Leon Gurvitch in letzter Zeit bereits auf mehrere erfolgreiche Auftritte in der Hamburger Elbphilharmonie zurückblicken konnte, war es für das Hamburger Kammerballett am Abend des 16. Mai eine Premiere. Dieses von dem Choreographen und Erstem Solisten des Hamburger Staatsopern-Balletts Edvin Revazov im Jahre 2022 gegründete Kammerballett bietet insbesondere aus der Ukraine geflüchteten Tänzern nicht nur eine neue künstlerische Heimat, sondern auch soziale Sicherheit und eine neue Perspektive hier in Deutschland.
Mit dem aus Minsk stammenden Komponisten Leon Gurvitch verbindet Edvin Revazov seit einiger Zeit eine fruchtbare künstlerische Zusammenarbeit. So entwickelten beide erst kürzlich das Tanzprojekt „Kintsugi“, welches im vergangenen Jahr am Kieler Theater uraufgeführt wurde und jetzt im März auch am Lübecker Theater als Teil des Tanzabends „Der flüchtige Augenblick“ gezeigt wurde.
Der Begriff „Kintsugi“ bezeichnet eine traditionelle japanische Reparatur-Methode für zerbrochene Keramik, bei der die Bruchlinien kunstvoll vergoldet werden und dadurch eine völlig neue Schönheit des wieder zusammengesetzten Objektes entsteht. Hiervon inspiriert schuf Edvin Revazov eine recht ausgefallene Choreographie, welche z.B. zerbrochene zwischenmenschliche Beziehungen thematisieren soll, deren Konflikte und Probleme aufgearbeitet werden und ein möglichst positives Resultat liefern – eine Hommage an die Schönheit der Versöhnung, des Verzeihens, der Erneuerung und des glücklichen menschlichen Zusammenseins.
In leicht veränderter Choreographie im Vergleich zur Lübecker Aufführung, jedoch nicht weniger eindrucksvoll wurden sieben als „Kintsugi“ zusammengefaßte Kompositionen von Leon Gurvitch tänzerisch von zehn Tänzern und Tänzerinnen interpretiert. Gurvitch saß selbst auf der Bühne am Flügel, wurde Teil der Inszenierung und verlieh ihr somit eine zusätzliche emotionale Dimension. Hingebungsvoll begleitete er das tänzerische Geschehen zu den Kompositionen von seiner im vergangenen Jahr erschienenen CD „Musique Mélancholique“, beginnend mit „Melody of Childhood“ für vier Tanzpaare, „Mélodie nostalgique“ und „La Tristesse“ als Pas de Deux, und den besonders schwermütig wirkenden „Silent Waves“, beeindruckend melancholisch auch in der darstellerischen Umsetzung durch die Tänzer. Zwei Stücke wurden von Gurvitch extra für „Kintsugi“ komponiert: „Force majeure“, spannungsgeladen und fast ungestüm vertanzt, und „Female Dance“, grazil und feengleich von drei Tänzerinnen verkörpert. „Paroles de Solitude“ als tänzerischer Höhepunkt, in der die Musik und die Bewegungen wiederum zu einer formvollendeten Harmonie verschmolzen, beendete schließlich den ersten Teil des Abends mit sämtlichen Tanzsolisten.
„Silentium“ ist Leon Gurvitchs neueste meisterliche Komposition und erlebte im zweiten Teil dieses Tanzabends ihre glanzvolle Erstaufführung. Dieses Werk für Klavier und Streichorchester in acht Teilen begann er noch während der Corona-Pandemie sowie zu der Zeit und unter dem Eindruck des Ausbruchs des Ukraine-Kriegs zu schreiben.
Beim ersten Anhören besticht dieses opulente, spannungsgeladene Werk, interpretiert von Leon Gurvitch am Flügel und seinem 9-köpfigen Streicher-Ensemble (4 Violinen, 2 Violen, 2 Celli und 1 Kontrabass), zunächst durch eine elegische, verträumte Schlichtheit (Silentium 2), übergehend in getragene Streicher- und Piano-Klänge bis hin zu schmerzlicher Unruhe (Klaviertrio), sich aufbäumende quälerische Momente, wobei die Streicher grandios klangen (Silentium 4), aufbegehrende temperamentvolle Passagen mit hämmernden Klavierakkorden (Silentium 5), teils sanftmütige folkloristische Motive à la Tschaikowsky, dann wieder forschere Passagen (Perpetuum Mobile), dynamisch-dramatische Gefühlsregungen auch mal mit dissonanten Klängen (Con Anima), übermütige, erregende Streicherklänge mit schmachtenden Soli (Silentium 8), verspielte Pianosoli mit sanft dahinfließendem Streicher-Klangteppich und getragenem, versöhnlichem Ende (Silentium 7).
Es ist eine Musik, die förmlich unter die Haut geht und deren Klangwirkung man sich nicht entziehen kann. Passend zu diesen geradezu verschwenderisch mannigfaltigen, berauschenden Klängen gestaltete Edvin Revazov mit seinen bis zu 15 Tanzsolisten für jede dieser acht Teile ein wahres choreographisches Happening, welches mit den jeweiligen Temperamenten der acht Kompositionsteile vorzüglich korrespondierte. Jede dieser acht technisch perfekten „Silentium“-Choreographien Revazovs, sowohl im klassischen Ausdruck als auch durch ihre modernen Bewegungselemente von bestechender Leichtigkeit, beeindruckte in dieser Kombination durch ihre artistische Brillanz, ästhetische Schönheit und ihre emotionale Tiefe.
Für Leon Gurvitch, der in diesem Monat bereits Konzerte in New York und in Wien gab, war dieser Abend in der ausverkauften Elbphilharmonie wieder ein von Erfolg gekröntes Heimspiel. Für ihn und sein Streicher-Ensemble sowie für Edvin Revazov und die 15 Mitglieder seines Kammerballetts gab es am Ende Rosen und nicht enden wollende Ovationen des begeisterten Elphi-Publikums.
Wolfgang Schmitt