Essay zu „DAS SCHLAUE FÜCHSLEIN “ von Leoš Janáček sowie Reflexionen zum Pantheismus in der Musik, IOCO

„Abenteuer der Füchsin Bystroušky“
Angelegentlich der Wiederaufnahme in der kommenden Saison am im Oldenburgischen Staatstheater
Essay von Thomas Honickel
Prolog
„Die Natur und der Mensch in und mit ihr“, so könnte man die erste Opernsaison unter Generalintendant Georg Heckel auch im Nachklang überschreiben. Begonnen hatte es mit einem (allerdings ambivalenten) „Freischütz“, wo die gepeinigte Natur die Folie für das Böse und Übersinnliche in der Wolfsschlucht war. Fulminant setzte man es fort mit „Die Vögel“, ein enormes inszenatorisches Ausrufezeichen, bei dem Machtwille und Egomanie drauf und dran waren, gleich drei Welten zerstören zu wollen. Im Sinfonischen war die Welt und in ihr der verlorene Mensch bei Mahlers 2. Sinfonie massiv unter Druck, und nun also die bedeutende Opernfabel vom „Schlauen Füchslein“ aus der Feder des großen Tschechen Janáček. Premiere war am 21. Juni, Wiederaufnahme wird am 8. Oktober sein.
Wie uns hier diverse Spiegel vorgehalten werden und wie sich die üppige Personnage an Gesangsdarstellern aus fast drei Generationen schlagen wird, wie sich das Regieteam und die Ausstattung um dieses Werk bemühen und was wir aus dem Graben hören, über alles das möchten wir berichten, wenn wir zur Wiederaufnahme im Oktober diese Inszenierung besuchen werden:
Oldenburgisches Staatstheater: Das schlaue Füchslein | Oldenburgisches Staatstheater
Als „Appetizer“ blenden wir schon hier einige Bilder der farbenfrohen Inszenierung aus Oldenburg ein.

Janáček und die Oper
Erst spät im fortgeschrittenen Alter schuf Janáček den bis heute geläufigen, beliebten und großartigen Kanon seiner sehr speziellen Opern, die sich sowohl in ihrer Machart als auch in ihren Themen vom damaligen Zeitgeschmack abheben und weit in die Zukunft weisen. Dass, wie bei allen nationalen Schulen der Jahrhundertwende, das spezielle Idiom der eigenen Nation widergespiegelt wird, ist der Zeit geschuldet. Einer Zeit, die in ihrem Kunstschaffen generell (aber besonders im Musischen) die Orte aufsuchte, an denen sich eine Nation ihrer Geschichte, ihrer Mythen, ihrer Traditionen und vor allem auch ihrer Sprache vergewisserte.
Die speziellen Dialekte der Spätromantik führten in nahezu allen europäischen Ländern, aber auch jenseits des Kontinents zu höchst individuellen Ausformungen dessen, was die letzten Ausläufer der Tonalität, der Gattung und des großen sinfonischen Apparates zu bieten hatten. Klassische Stoffe bedeutender Dichter der Vergangenheit wurden abgelöst durch zeitgenössische Autoren vornehmlich aus dem eigenen nationalen Umfeld. Die Identifikation mit diesen neuen Werken aus dem individuellen nationalen Kontext hatte ihren Ursprung im kulturellen Erbe: Im Melos, im Sprachrhythmus, in spezifischen Klangfarben, in harmonischen Reizen und in der Fabulierkunst der eigenen Nation, wie sie sich in Märchen, Sagen, Mythen und Alltagsgeschichten darstellt.
Leoš Janáček (*1854) schuf seine Opernmeisterwerke „Katja Kabanowa“ (1921), „Das schlaue Füchslein“ (1924), „Die Sache Makropulos“ (1926) und „Aus einem Totenhaus“ (posthum 1930) alle in seinem letzten Lebensjahrzehnt (+ 1928). Lediglich „Jenufa“ entstand deutlich früher (1904).
Die Jahrzehnte, die vor seinem Schaffen im Bereich des Musiktheaters liegen, sind angefüllt mit bedeutsamen Werken für Orchester („Taras Bulba“, „Sinfonietta“) und Epochalem für Chor („Glagolitische Messe“), dazu viel Kammermusik, Klaviermusik und einige Lieder. Von seinen frühen Opern hat bis heute nur die „Jenufa“ den Sprung ins Repertoire geschafft. Wie gut also, dass Janáček ein langes Leben in anhaltender Kreativität beschert war. Sonst hätten wir das o.g. finale Opern-Quartett nie von ihm als Geschenk erhalten.

Janáček, der sich zuvor in der Entwicklung einer individuellen Tonsprache im o.g. Sinfonischen, Chorischen und Kammermusikalischen bemüht hatte, fand in einer besonderen Weise zu seinem Stil, den man als „deklamatorisch“ bezeichnen kann. Nicht unähnlich der „unendlichen Melodie“ Wagners, von dessen Ästhetik er allerdings denkbar weit entfernt war, ist seine Behandlung der Gesangsstimme von einer Art permanentem Rezitativ geprägt, in welchem der Fluss der Erzählung weder in der Linie noch in der Großform irgendwie „gemaßregelt“ wird. Der Text scheint wie improvisiert zu strömen, was den Eindruck einer tatsächlichen Erzählung wiedergibt. Dabei ist die zentrale Quelle im Schöpfungsprozess von Melodie und vor allem Rhythmus die tschechische Sprache. Im Programmheft der Oldenburger gibt es dazu ein Essay mit lesenswerten biographischen Einlassungen zu Janáček und seiner Sammelwut nach akustischen Sprachmelodien; selbst von Tieren. Hier war er Vorläufer und geistesverwandt dem späteren Olivier Messiaen, der den Vögeln mit seinem „catalogue d´oiseaux“ ein klingendes Denkmal setzte.
Insofern muss man es schon etwas (oder ziemlich?) bedauern, dass das Oldenburger „Füchslein“ aus dem Jahr 1924 eben nicht im tschechischen Original gesungen wurde (immerhin hat man am Haus ja schon russisch, polnisch und sogar in Sanskrit gesungen). Die deutsche Fassung von einem Autorenteam um Ute Becker und Alena Wagnerová ist zwar um Längen günstiger als jene des in der Sache so verdienstvollen Max Brod. Aber es fehlt der Geist der tschechischen Sprache, welcher den Duktus von Melodie und Rhythmen durchzieht. Die tschechische Sprache hat einen gänzlich anderen rhythmischen Grundgestus als die deutsche. Brod, der bedeutende Verleger, der ja auch als Mentor und im Impulsgeber von Franz Kafka gilt, erstellte 1925 eine Übersetzung, die dem Werk ein Überleben im deutschsprachigen Raum ermöglichte (1925). Allerdings ist die Entfernung zum Original nicht zu überhören. Brods Version ist im Nachklang eher eine eigenständige Librettofassung, die manch schönes Detail des Librettisten Rudolf Těsnohlídek verwischt oder gar ausmerzt. Auch dazu gibt es im Programmheft der Oldenburger sinnstiftende Hinweise.
Die Fassung von Becker/Wagnerová, die solch prominenten Vorläufern wie Felsenstein (DDR, 1965) und Neuenfels/Kosky (2000) folgt, hat immerhin neben Brods etablierter Fassung Eingang in die aktuelle kritische Gesamtausgabe des Werkes gefunden.

Das Füchslein – eine Parabel
Ein wenig Aesop, ein wenig Freud, Allegorie und Tiefenpsychologie, vielleicht sogar etwas Symbolismus schwingen in dieser Geschichte mit, die auf Comics des Zeichners Stanislav Lolek und den daraus später entstandenen Feuilletons des Journalisten Rudolf Těsnohlídek basierten. Ein farbenfrohes, mehrdeutiges Spiel, das Janáček als eine „Opera-Idylle“ bezeichnete und die eine Fundgrube für jeden Spielleiter darstellt.
Anknüpfungspunkte finden sich im Deutungsspektrum der Personen, deren Verhältnis zueinander, in Fragen zum Verhältnis Mensch und Natur, in Aspekten, die das Leben in Freiheit und Ungebundenheit betreffen, aber auch und vor allem in Fragen, die das Altern berühren. Eben jener Aspekt des kritischen Blicks auf das Verhältnis zwischen den Generationen ist auch eine der Triebfedern Janáčeks, wenn er 1923 schon an Max Brod schreibt:
„Ich habe die Füchsin gefangen um des Waldes und der Traurigkeit des Alterns willen.“
Damit ist viel gesagt zu der Bedeutung der Bildebenen dieser Parabel um das Leben und seines Verlaufes, ebenso viel auch über die enorm zentrale Beteiligung der Rollen, die durch Kinderstimmen erzählt werden. Die „Traurigkeit der späten Jahre“, die Janáček mehrfach in Korrespondenzen erwähnt, ist auch eine Auseinandersetzung mit den Grenzen menschlichen Lebens: Wie gehe ich mit meiner Biographie um? Welchen verpassten Chancen trauere ich hinterher? Wie gehe ich mit Sterblichkeit und Tod um? Wie neige ich mich vor dem natürlichen Kreislauf des Vergehens?
Fragen rund um die Schöpfung, die der Komponist wertschätzte als „in jeder Kreatur ein Funke Gottes“, spielen ebenfalls massiv in die Ästhetik des Tschechen Janáček. All dies eine umfassende Kosmologie, wie das lesenswerte Programmheft (Redaktion: Antje Müller) mitteilt. Mit dem von Janáček dargestellten Kreislauf des Lebens und dem Ablösen der Generationen im ewigen Spiel konnte der eher säkulär ausgerichtete Brod wenig anfangen: „Offen gestanden mutet er (der Text) mir sehr fremd an.“
Über diese Fremdheit und in ihrer Folge über die übersetzerischen Fehlgriffe, die Brods vollständige Fehldeutung oder Verschlimmbesserung des Librettos verdeutlichen, berichtet das Autorenteam des Oldenburger Programmheftes eingehend. Wie zentral die beiden Welten von Natur und Menschen miteinander verwoben sind, wie sie gegenseitig sich durchdringen und beleuchten, in Kontakt treten und sich entfernen oder trennen; davon erzählt dieses „Füchslein“ in einem reichen Bilderbogen, der zu allerhand metaphorischem Grübeln anregt. Janáček befand selbst, dass es sich um „eine fröhliche Sache mit einem traurigen Ende“ handelt.

Gedanken zur Storyline
Das Oldenburger Haus gibt als Leitlinie für die Deutung dieser Opernallegorie die Richtung vor, dass man es beim „Füchslein“ mit der „Geschichte des alten Kampfes von Zivilisation und all ihren Konventionen gegen die Natur“ zu tun habe. Darüber hinaus stehe „die Sehnsucht nach Freiheit, die man sich aber versagt und stattdessen auch andere in ihrer Freiheit beschneidet, ihnen sogar das Leben nimmt“ im Fokus. „Eifersucht und Zorn“ seien die Triebfedern der Handelnden, die auf jene blicken, die fernab der Konventionen leben.
So bleiben am Ende vom „Füchslein“ stets mehr Fragen als Antworten: Wie gehen wir mit unserer Umwelt, mit der Natur und der uns anvertrauten Lebenszeit um? Wie mit Schuld? Was ist unser Auftrag und unser Vermächtnis? Wie gelingt ein erfülltes Dasein im Einklang mit der Natur?
Phantome der Bühne
In nicht wenigen Opern kommen immer wieder einmal Personen vor, von denen berichtet wird, die aber nie als Figuren die Bühne bevölkern: Paminas Vater in der „Zauberflöte“, Carmens Mutter in der gleichnamigen Oper, Cio-Cio-Sans Vater in „Madame Butterfly“, Baron Ochs´ Schwester im „Rosenkavalier“ oder Gildas Mutter im „Rigoletto“. Sie alle und viele mehr dienen den Librettisten aus gutem Grund: Intrinsische Motivationen der Handelnden wie Rache, Liebe, Schuld, Sorge können ebenso eine Entscheidung zum indirekten „Auftritt“ sein wie die Erzeugung von dramatischer Spannung durch latent verbreitete Gerüchte oder Geheimnisse. Zumeist sind es vergangene Tragödien, über welche die Protagonisten berichten; Figuren, die Unheil verheißen oder einen prägenden Einfluss auf die Handelnden hatten. Zumeist aber sind es Erinnerungen aus der eigenen Biographie.
So auch bei der nie auftretenden Terynka, die im Leben dreier alter Männer eine zentrale Rolle spielte. Doch diese Zeit liegt weit zurück. Der Förster, der Schulmeister und der Pfarrer betrauern, jeder auf seine Weise, die verpassten Gelegenheiten, diese Terynka für sich zu gewinnen. Jeder von den Dreien lebt ein für ihn falsches Leben.

Worum geht es?
Das schlaue Füchslein, eine Fuchsdame, die sogar einen Namen trägt (Bystroušky), wird zunächst als Placebo für die schöne Terynka vom Förster gefangen genommen, weiß jedoch listig zu entfliehen. Bei der anschließenden alkoholischen Tröstung in der Kneipe des Dorfes kommen alle drei „Honoratioren“ auf die Vergangenheit mit Terynka zu sprechen. Weder der Schulmeister konnte die wild und ungebundene Terynka, die das Abbild der freien Natur symbolisiert, mit Disziplin für sich gewinnen, noch der Förster, der behauptet, sie einmal im Wald geliebt zu haben.
Für den Pfarrer kommt es gar nicht erst zu einer Begegnung; für ihn bleibt der sich Carmengleich gebärdende Wildfang eine platonische Liebe, die er unter dem Mantel von kirchlicher Moral begräbt. Ersatzbefriedigung findet der Schulmeister in der anbetenden Verehrung einer Sonnenblume. Der Pfarrer sucht Zuspruch im Entsagen der Lust und Liebe in antikem Bildungsstoff. Traurige Gestalten!
Die im Libretto als „Schlaukopf“ bezeichnete Füchsin hatte der Förster sinnigerweise in den Hühnerstall gesperrt, was für allerhand Aufruhr dort sorgte. Ihre Bemühungen, erfolgreich gegen den Hahn, Herrscher im Hühnerstall, den lüsternen Dackel und die Menschen auf dem Hof aufzubegehren, misslingen. Ihr gelingt die Flucht in die Wildnis, die Natur, ihre Heimat. Nachdem sie einen alten Dachs aus seiner Höhle vertrieben hat, nistet sie sich im Wald häuslich ein und genießt die Freiheit.

Hinter Dachs, Dackel und Hahn darf man getrost die drei männlichen Menschen vermuten: Pfarrer, Schulmeister und Förster, die auch als Tiere die menschlichen Marotten ihrer AlterEgos widerspiegeln. Im Wald freundet „Schlaukopf“ sich mit einem Fuchs an, der ihr vollendet (und vorbildhaft für die drei Männer der Menschenwelt) den Hof macht. Die Hochzeitsszene am Ende des zweiten Aktes gehört zu den schönsten Momenten der Oper und der Operngeschichte. Die Familiengründung mit zahlreichen Jungfüchsen lässt ein Happyend erahnen, aber daraus wird nichts.
Den drei frustrierten Männern der Dorf-Schickeria konnte sie entfliehen, aber in dem Landstreicher und Geflügelhändler Hárašta hat sie einen Gegner gefunden, der sie bezwingt. Er erschießt sie, um aus ihrem Fell einen Muff für seine Braut in spe zu machen: Es ist keine Geringere als Terynka, was vor allem den Förster zutiefst bedrückt. Aber er, der am Ende alleine in der Natur des Waldes verbleibt, nimmt es, wie es ist. Im Einverständnis mit dem ewigen Rad der Geschichte des Lebens, mit dem Werden und Vergehen, mit dem sich Ergeben in eben dieses Schicksal macht der Förster seinen Frieden. Die Oper endet als pastorale Sinfonie und Loblied auf das Leben, wenn kleine Füchse, junge Frösche und somit die nächste Generation die Welt (des Waldes) bevölkern.

Fazit
Die Natur schaut gelassen zu und bewegt sich im Zyklus von Werden und Vergehen.
„Das schlaue Füchslein“, das Janáček selbst häufig als sein bestes Werk bezeichnete, ist das lyrischste seiner späten Opern, weniger expressionistisch, eher illustrierend, fein gemalt wie von den Franzosen der Zeit, aber im tiefsten Innersten eben eine Hommage an seine Heimat, ihre Menschen und die Fauna der mährischen Wälder.
Der religionskritische, vor allem der institutionalisierten Kirche gegenüber kritische Janáček schuf mit dem Opus einen Hymnus an den Pantheismus auf der Opernbühne. Eine klingende Hommage an das Leben, das Vergehen und die Natur, dem wir im folgenden Epilog noch weiter nachspüren möchten. Ein Werk, das zum Besuch der Wiederaufnahme ab dem 8. Oktober am Oldenburgischen Staatstheater (oder wo sonst immer diese Oper aufgeführt werden mag) ermuntern möchte.

Epilog für Interessierte
Gedanken zum Pantheismus in der Musik
Wir illustrieren diesen folgenden Beitrag mit Bildern des bedeutenden norddeutschen Malers Caspar David Friedrich (1774-1840), der wie kaum ein anderer Maler der Romantik mit seinen Bildern bis in unsere Zeit hinein strahlt. Jüngst feierte man erst den 250. Geburtstag mit zahlreichen Sonderausstellungen vor allem in seiner Heimat Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern. Seine Werke verschmelzen stets aufs Neue sakrale Bauwerke mit der Natur und geben einen Blick auf das Wunder der Natur, wie sie der Mensch in ihr erlebt.
Angesichts der o.b. besonderen Thematik, in der Menschen- und Tierwelt, Zivilisation und Natur so eng miteinander verzahnt sind, wie es das beim „Schlauen Füchslein“ der Fall ist, lohnt sich ein Blick in die Geschichte des Pantheismus in der Musik seit der Aufklärung. Und erhellend wird, wie viele Komponisten direkt oder indirekt, mit Worten oder in Tönen ausgesprochen, ihr weltanschauliches Bild in Klängen offenbart haben.
Die ersten literarischen Vorboten wie Goethe oder Schopenhauer und Spinoza lieferten in Gedichten, Gedanken, Schauspielen und Äußerungen die Folie für Musikschaffende von der Frühromantik bis in unsere Zeit.
Der Kreis um Franz Schubert mit Malern, Dichtern und Philosophen stand allem institutionalisierten Glauben und kirchlicher Metaphysik denkbar fern. Ihr Ort der Treffen war zumeist der Wald, die Natur. Im gewölbten Blätterdach hatten sie ihre Kathedrale, in der sie das Loblied auf die Kunst, die Spiritualität und die Erkenntnis sangen, dass alles Leben miteinander verwoben sei. Goethe war dabei ihr geistiger Mentor.

„O Sonne, Königin der Welt“, „Gott im Ungewitter“ u.v.w. Werke des frühvollendeten Schubert zeugen davon, dass der Ort des Göttlichen sich in der Natur, der Welt, dem Kosmos wiederfand. Ähnlich dem „Sonnengesang“ des Hl. Franz von Assisi fanden sie ihren individuellen Glauben in der sie umgebenden Welt und nicht durch die Anbetung einer fernen Gottheit im Sakralraum. Schubert hat in keiner seiner sechs bedeutenden Messen den Vers „et unam sanctam catholicam“ vertont. Das schien ihm, dem Goethenahen Musiker, suspekt. Erst spätere Herausgeber haben den Glaubenssatz des Credo teils mühselig und mit der Brechstange dort in die Kompositionen wieder eingefügt.
„Ich war nie dazu bestimmt, mit dem Pomp der großen Kirche zu glänzen.“ (Schubert)
Schon im frühen 19. Jahrhundert, einer Zeit in der Nachaufklärung, wo sich Sinnsuche nicht mehr zwangsläufig auf den sakralen Raum fokussierte, gelangten führende Philosophen in den Blick, die solche pantheistischen Vorstellungen aussprachen: Spinoza, der voraufklärerische Denker des Barock, Schopenhauers „Metaphysischer Pessimismus“ und in der Nachfolge von Spinoza als lebensbejahender Naturphilosoph Goethe. Auch Hölderlin, Novalis und später Rilke, Blake, Feuerbach, Whitman und der indische Mystiker Tagore sind in späteren Zeiten Vertreter dieser Welt- und Menschensicht. Sie alle verfochten eine Idee, wonach alles in der Welt von einem Weltprinzip durchdrungen sei. Damit wird die Natur nicht mehr zur gefälligen Kulisse degradiert, sondern ist selbst handelndes Subjekt und wesenhaft. Die Seele des Individuums in diesem Miteinander zu betrachten, ihre Sehnsüchte, ihre Ängste, ihre Wünsche und Klagen, dazu konnte gerade die Musik einen wichtigen, wesentlichen Beitrag leisten.
Von Beethovens „Pastorale“, die der Komponist eben nicht als Landschafts- sondern als Seelenmalerei verstanden wissen wollte, über Webers „Wolfschluchtszene“ bis zu Wagners „Ring des Nibelungen“ und weiter zum „Titan“ von Mahler geht die Linie der Werke und ihrer Schöpfer, die das Göttliche in der Natur zu entdecken wussten.
„Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen“ heißt es bei Mahler in dessen 1. Sinfonie. Bei ihm auch vor allen finden sich die Anklänge an Mystizismus in allen Schattierungen: Mal fernöstlich im „Lied von der Erde“, mal kindlich-naiv mit „Wir genießen die himmlischen Freuden“ in der 4. Sinfonie und endlich im 2. Satz der 8. Sinfonie, wenn die „Waldung heranschwankt“. Hier in der Kompilation größter bis dato erreichter Mittel in Verbindung mit dem mystisch-symbolistischen Text Goethes aus dessen „Faust II“ wird die Haltung der Künstler mit pantheistischem Hintergrund vielleicht am stärksten deutlich. Die Ohnmacht vor der Naturmacht ist ekstatisch und für den Menschen überwältigend. Eine Erscheinung, die mancher von uns so oder ähnlich erfahren haben mag beim Anblick bedeutender Naturschöpfungen, beim Anblick des Meeres, eines Gewitters, der Wolken, eines Sonnenuntergangs oder einer idyllischen Waldesruhe.

Solche oben beschriebenen musikalischen „Gottesdienste“ gibt es zuhauf in den verschiedensten Dialekten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Hier folgen einige Beispiele:
Beethoven – Pastorale Sinfonie Nr. 6 „Dank an die Gottheit nach dem Sturm“ / „Die Ehre Gottes aus der Natur“ Chor op. 48, 4
Schubert – „Ganymed“ D 544 (nach Goethe) „Hinauf, hinauf strebt´s“
Wagner – „Ring des Nibelungen“, daraus Teile des „Rheingold“ und „Götterdämmerung“
Mahler – Sinfonie Nr. 3 mit hierarchischer Naturtheologie ohne Impuls von außen, sondern als Entwicklung im Weltganzen: „Was mir die Blumen…, die Tiere…, der Mensch…, die Engel…, die Liebe… erzählt.“
Skrjabin – „Prométhée“ als synästhetisches Gesamtkonzept und dem Verschmelzen mit dem Kosmos
Sibelius – „Tapiola“ – der Wald als lebendiges, göttergleiches metaphysisches Wesen („Tapiola war nicht komponiert. Es hat sich offenbart.“)
Debussy – „La Mer“ als Sinnbild für einen atmenden und träumenden Organismus („Ich liebe die Musik mehr, wenn sie keine Regeln befolgt – wie die Natur.“)
John Cage – „4´33´´ - „Stille ist nicht leer – die Welt spielt von selbst. Alles, was ist, ist Klang.“
Vaughan Williams – „The Lark Ascending“. Die aufsteigende Lerche am Morgen mit ihrem Gesang ist die Musik der Natur. In ihr verschmelzen Mensch, Klang und Himmel zu einer Einheit.
Und natürlich in zahlreichen Liedern, Chorwerken und Opern(szenen) insbesondere der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert.

Und was sagten oder schrieben die Künstler selber über ihre innere Befindlichkeit bei diesem Thema? Auch hier einige sinnfällige und prägende Aussprüche, die uns vielleicht helfen, machen Schöpfer noch unmittelbarer zu verstehen:
„Ich bin fromm; zu Gott im Walde finde ich mehr als in der Kirche. Wer sich Gott ganz nah fühlt in der Natur – ist nicht auch das ein Pantheismus?“ (Beethoven)
„Glauben Sie an einen Gott?“ – „Nein, ich glaube an Gott in der Natur. Gott ist in den Tieren, in der Luft, im Wasser, in den Bergen.“ (Mahler)
„Ich bin Gott – weil ich Teil des Alls bin.“ (Skrjabin)
„Die Natur ist die Sprache Gottes. Wenn ich auf mein Land hinausblicke, fühle ich Gott – nicht als Person, sondern als Gegenwart.“ (Sibelius)
„Die Welt selbst ist göttlich. Götter sind Projektionen – die Natur und der Wille sind das Wahre.“ (Wagner)
„Ich habe eine spirituelle Verbindung zur Natur.“ (Vaughan Williams)
„Musik ist die geheimnisvolle Entsprechung zwischen Natur und Träumen.“ (Debussy)
„Vögel sind die größten Musiker Gottes. Alles in der Natur preist den Schöpfer – meine Musik ist ein Echo davon.“ (Messiaen)
„Ich habe keine Notwendigkeit für Religion. Ich habe den Klang der Natur.“ (Cage)
