Dresden, Semperoper, 475. Orchestersaison – Sächsische Staatskapelle, IOCO Kritik, 04.09.2023
475. Orchestersaison – Eröffnungskonzert
Sächsische Staatskapelle in ihrer Jubiläumssaison – Hindemith und Strauss
von Thomas Thielemann
Für das erste Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle der 475. Saison 2023/2024 waren mit Hindemiths „Schwanendreher“ und Strauss´ „Alpensymphonie“ zwei Stücke ausgewählt, deren Benennungen Gelegenheit zum Nachdenken geben, warum die Komponisten beider Werke zu den derzeit gebräuchlichen Titelbezeichnungen gekommen sind.
Paul Hindemiths (1895-1963) hatte als praktizierender Bratschist sein drittes Bratschenkonzert „Der Schwanendreher“ vor allem während eines Art Urlaubsaufenthaltes im September 1935 in der Schweiz in angeblich gelöster Stimmung geschrieben, obwohl seine Kompositionen in seinem Heimatland Deutschland von den damaligen Machthabern verfemt waren.
Einem 1877 in Leipzig erschienenen „Altdeutschen Liederbuch“ des in Dresden wirkenden Chordirektors und Musiklehrers Franz Magnus Böhme (1827-1898) entnahm Hindemith aus dem Angebot von 660 altdeutschen Volksliedern vier Gesangssstücke, um diese in einem Konzert für Viola und kleines Orchester zu verarbeiten. Hat uns Paul Hindemith mit der der Auswahl dieser vier Lieder aus der Fülle der Sammlung eine Denkaufgabe hinterlassen?
Die Auswahl der vier Gesänge deutet nicht unbedingt auf eine Bewusstheit hin, dass sich Hindemith, der zwar seit 1929 von Nationalsozialisten angefeindet wurde, einem verfestigten System gegenüber gesehen hätte. Das im ersten Satz verarbeitete Lied Nummer 163 „Zwischen Berg und Tal“ beinhaltet im Text gute Ratschläge für Liebesleute, wie sie ihr Zusammenleben gestalten sollten und wann die Fortsetzung einer Gemeinsamkeit keinen Sinn mehr habe. Das Lied 175 „Nun laube Lindlein laube“ ist die Klage eines Mädchens, einer jungen Frau, um eine verlorene Liebe. Beide Lieder beinhalten letztlich alltägliche Umstände. Auch die im zweiten Satz eingeschobenen Motive des Liedes Nummer 167 „Der Gutzgauch auf dem Zaune“ deuten doch eher auf eine Deutung des Kuckucks als Frühlingsbote, statt als Sinnbild widerlicher, gefährlicher Dinge hin. Möglicherweise hat Hindemith gerade deshalb alte Volkslieder aufgenommen, um sich in seiner Überzeugung zu vergewissern, dass der Wert eines Volksliedes nicht nur im hinterlassenen musikalischen Eindruck besteht, sondern durch volkstümliche, landschaftliche und zeitliche Beziehungen besondere Empfindungen im Musiker erweckt. Es ist aber auch durchaus legitim, im zweiten Satz mit den Textzeilen „Nicht länger ich´s ertrag“ sowie „hab gar ein´ traurig´ Tag“ einen Ausdruck von Hindemiths Isolation vom deutschen Kulturleben sehen zu wollen.
Dem widerspricht jedoch die Wahl des Gesanges Nummer 315 „Seid ihr nicht der Schwanendreher“, dem letztlich das Konzert seinen Namen verschaffte, deutlich. Deren Motive für die Variationen waren lediglich einem Neck- und Scherzlied entnommen, das die Popularität seiner Eignung als Tanzmusik zu verdanken hatte. Da steckte kein philosophischer Gedanke dahinter. Ich halte schon Böhmes Vermutung, dass mit dem Schwanendreher der Betreuer der Geflügelzucht eines mittelalterlichen Gutes verspottet wurde, für zweifelhaft. Dass der Spießdreher beim Braten eines. Schwanes gemeint war, dürfte absolut zu tief gedeutet sein. Und für völlig unzutreffend dürfte sein, dass sich Hindemith von Heuschwaden, die in einigen Gebieten als Schwanen bezeichnet und nach Regen gewendet werden müssen, wegen ihrer vermeintlichen Notenstruktur-Ähnlichkeit den Komponisten inspiriert haben könnten.
Mithin: Hindemith sah sich als fröhlichen Musikanten und fand im „Schwanendreher”-Begriff den zugkräftigen Titel für seine Komposition. Selbst als Wilhelm Furtwängler wegen einer Verteidigung des Schaffens Hindemiths im November 1934 Probleme mit der Kulturbürokratie der NSDAP bekam und Hindemiths Werke im Rundfunk nicht mehr gespielt wurden, blieb er gelassen. Erst als die jüdische Abstammung seiner Frau in der Öffentlichkeit thematisiert wurde, verließ das Ehepaar 1938 Deutschland und ging zunächst in die Schweiz und dann in die Vereinigten Staaten.
Als „Capell-Virtuos“ hatte Antoine Tamestit dem Publikum der Sächsischen Staatskapelle mit seiner klangschönen Viola „Mahler“ von 1672 aus der Cremonenser Werkstatt Antonio Stradivaris (um 1644-1737) in der der Saison 2021/2022 die Möglichkeiten und Schönheiten seines Instruments in einem breiteren Umfang vermittelt. Am Pariser Konservatorium, der Yale Universität und vor allem bei Tabea Zimmermann ausgebildet, hatte sich Antoine Tamestit innerhalb weniger Jahre zu einem der gefragtesten Bratschen-Virtuosen entwickelt. Für die Kompositionen Hindemiths hat sich Antoine Tamestit mehrfach engagiert und dabei als faszinierender Interpret dieser Musik erwiesen.
Im „Schwanendreher“ kommt die Bratsche wegen des kleinen und bei den Streichern nur mit Celli und Kontrabässen gering besetzten Orchesters besonders zur Geltung. Bereits mit den einleitenden Passagen zog Antoine Tamestit die Zuhörenden in seinen Bann. Er demonstrierte, dass er einer der fähigsten Bratscher unserer Zeit ist und Hindemith in ihm seinen Meister gefunden hat.
Seine Phrasierung und die Eleganz seines Spiels begeisterten. Für ihn ist der „Schwanendreher“ keine ruppige Neoklassik, sondern Musik, die sanfte Töne und eine feine Klangbalance erfordert. Selbst die teilweise kantig-schroffe Mehrstimmigkeit fächerte er mit charmanter Gelassenheit auf und nahm sich Hindemiths Volksliedtons an. Spieltechnisch zeigte er seine gewaltige Souveränität in den Doppelgriffen, aber auch Wärme und sanglichen Ausdruck in den Verarbeitungen des mittelalterlichen Liedgutes.
Das in tiefer Instrumentation erklingende Orchester wirkte präsent als Partner des Solisten, ohne in seinen Klangraum einzugreifen. Christian Thielemann konzentrierte seine Orchesterbegleitung sensibel auf die rhythmische Diktion. Im zweiten Satz wurde der Bratscher über eine längere Passage sogar nur von der Harfe von Sophia Litzinger zart und empfindsam begleitet. Das dritte Lied lieferte nicht nur dem Konzert den Namen, sondern auch Stoff für einen fulminanten Variationssatz zum Schluss.
Für den gewaltigen Applaus bedankte sich Antoine Tamestit mit einer fulminanten Zugabe.
Seit am 28. Oktober 1915 Richard Strauss (1864-1949) sein Opus 64 bei der Dresdner Hofkapelle zum ersten Mal dirigierte, gehört das Werk zum Standard Repertoire des Orchesters. Deshalb durfte es auch im Programm des Eröffnungs-Symphoniekonzerts der 475. Saison der Sächsischen Staatskapelle nicht fehlen. Das Opus 64 des Richard Strauss wird üblicherweise in den Konzerten unter der Bezeichnung „Eine Alpensymphonie“ aufgeführt und in den Programmheften ist von der Beschreibung der Erlebnisse einer Bergwanderung die Rede. In unseren jüngeren Jahren haben wir über Jahrzehnte die Berge der slowakischen „Hohen Tatra“ sowie die Höhen der bulgarischen Pirin-und Rilagebirge durchwandert, waren selbst begeisterte Bergwanderer. Wir kennen die Euphorie des Erreichens eines Bergzieles, aber auch die Schrecknisse eines Höhengewitters im kleinen Bergzelt und die Ungewissheiten im hochsommerlichen Schneesturm. Somit können durchaus nachvollziehen, dass man derartige Erlebnisse mit der Musik des Richard Strauss verbindet.
Ein ungutes Gefühl, dass da aber mit der Bezeichnung „Eine Alpensymphonie“ etwas nicht stimmt, hatte sich aber bei uns stets beim Hören des Schlusses der Komposition eingestellt. Den Abschluss der Musik des Richard Strauss konnten wir nicht mit Befindlichkeiten einer glücklichen, wenn auch erschöpften Heimkehr nach einer anstrengenden Bergtour in Übereinstimmung bringen. Für uns erscheint das Ende der Symphonie als eine der wundervollsten Beschreibung des Versterbens eines Menschen. Unterstützung finden wir bei der Komponistin und Songschreiberin Emily Green. Als Green sich, damals noch Flötistin in einem Orchester, auf ihre Mitwirkung in einer Aufführung des Strauss´schen op.64“ ziemlich intensiv vorbereitete, war sie zur Erkenntnis gekommen: „Doch jetzt mal realistisch: als vielgefragter und intensivbeschäftigter Komponist verschwendet man doch nicht vier Jahre seines Lebens, um einen Ausflug in die Alpen zu beschreiben- Da steckt doch mehr dahinter!“.
Auch die Irritationen um den Titel, das Werk sollte ursprünglich „Antichrist“ heißen, hat zur Vermutung geführt, dass wir tatsächlich eine Vertonung der Künstlertragödie des aus der Schweiz stammenden Malers und Bildhauers Karl Stauffer- Bern (1857-1891) hörten. Inzwischen wissen wir, dass sich Richard Strauss bereits um 1900 mit der Tragödie Stauffers beschäftigt hatte und dessen schweres Schicksal mit der Philosophie Friedrich Nietzsches (1844-1900) verknüpfen wollte.
Der aus der Schweiz stammende Karl Stauffer, der tatsächlich ein begeisterter Bergwanderer gewesen war, lebte als begrenzt begabter Portraitmaler, Radierer und Kupferstecher in Berlin, als ihn sein Schulfreund Friedrich Emil Welti (1825-1899) bat, seiner Gattin Lydia Welti-Escher (1858-1891) und ihm beim Aufbau einer Sammlung moderner Kunstwerke behilflich zu sein. Lydia war die Alleinerbin des Schweizer Eisenbahn-Pioniers Alfred Escher (1819-1882) und damit zu dieser Zeit die reichste Frau des Landes. Dank der finanziellen Unterstützung der Weltis, konnte Stauffer seiner Neigung zur Bildhauerei nachgehen und in Rom und Florenz unter anderem auch mit Max Klinger (1857-1920) arbeiten. Nachdem im Oktober 1889 auch das Ehepaar Welti nach Florenz übergesiedelt war, aber Emil unmittelbar auf Geschäftsreisen ging, riss die Begeisterung Lydias für Karls künstlerische Projekte diese aus dem tristen Eheleben heraus. Die 31-jährige Lydia und der 32-jährige Karl wurden ein Paar. Ihre Flucht nach Rom wurde mit den diplomatischen Beziehungen der Familie Welti zur Schweizer Gesandtschaft gestoppt und Stauffer wegen Diebstahls und der „Vergewaltigung einer Irrsinnigen“ eingesperrt. Lydia Welti-Escher wurde mit der Diagnose eines „systematisierten Wahnsinns“ zunächst in Rom interniert, konnte sich aber nach einem viermonatlichen Aufenthalt in einer Irrenanstalt mit einer Entschädigungszahlung in Höhe von 1,2 Millionen Franken aus der Ehe mit Welti lösen. Mit ihrem noch beträchtlichem Vermögen gründete sie 1890 die „Gottfried-Keller-Stiftung“, die der „Selbstständigmachung des weiblichen Geschlechts-wenigstens auf dem Gebiet des Kunstgewerbes, dienen sollte“.
Nachdem Karl Stauffer mit einer Kaution frei gelassen worden war, hatte das Paar nicht die Kraft, wieder zusammen zu finden. Stauffer unternahm mehrere Suizidversuche bis ihm 1891 der Selbstmord gelang. Auch Lydia beendete ihr Leben im Dezember 1891 mit einer Gasvergiftung.
Deshalb konnte ich mir im zweiten Teil des Konzertes durchaus, statt der üblichen Bezeichnungen der Teile der Komposition als Abschnitte einer Bergwanderung, die Entwicklung der Beziehung der Lydia Escher und des Karl Stauffer von der zarten Anbahnung bis zum tragischen Suizid-Ende der beiden vorstellen, zumal der Aufbau des Werkes dem klassischen Drama folgte. Aber das ist letztlich meine subjektive Auffassung, die ich hier nunmehr wiederholt postuliere.
Dem Werk werden oft Effekthaschereien vorgeworfen. Dabei ist es mit einer deutlichen Abgründigkeit an Nietzsches „sittlicher Reinigung aus eigener Kraft“, dem Antichrist angelehnt und von Geradlinigkeit geprägt.
Auch am Beginn seiner letzten Spielzeit als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle war Christian Thielemanns Herangehen an das Strauss-Opus 64 von intensiver Kenntnis der Partitur gekennzeichnet. Kraftvoll zupackend, gestaltete er die Darbietung abwechslungsreich, durchdacht und dennoch höchst emotional, dabei in sich geschlossen.
Ohne Scheu vor den Möglichkeiten des gewaltigen Orchesters wusste Christian Thielemann diese Klangmasse überlegt mit höchster Sorgfalt und Klangpracht zu formen. Die Streicher der Staatskapelle gaben mit ihrem phantastischen Klang in den filigranen und lyrischen Partien dem Gesamteindruck eine besondere Färbung. Momente wie diese sind an Zartheit der Wiedergabe kaum zu überbieten und ließen fast vergessen, dass hier ein Orchesterapparat mit weit über einhundert Musikern saß. Vor allem die Solisten und Instrumentengruppen bekamen Gelegenheit, bei diesem für die Musiker anspruchsvollen Werk zu zeigen, was in ihnen steckt.
Die Präzision der hervorragenden Bläser war besonders beeindruckend: vom blitzsauberen Trompetensolo des Helmut Fuchs „auf dem Gipfel“, dem bewegendem Flötensolo der Rozália Szabó, bis zur ausdrucksvollen Oboe von Bernd Schober nicht nur wegen der bestechenden Technik, sondern auch bezüglich des musikalischen Ausdrucks.
Die dramatische Schilderung im letzten Drittel des Werkes mit einem höchst spannungsvoll aufgeladenen Zerfasern der Orchesterstimmen verschaffte der Situation zusätzliche Dynamik.
Das Volumen des Semper-Zuschauerraumes ist für den symphonischen Koloss eigentlich zu klein. Aber man kann es dem Chefdirigenten am Beginn seiner letzten Saison nicht verübeln, dass er es noch einmal hat “richtig krachen lassen” wollen. Letztlich zügelte er sich und es gelang dem Dirigenten, in den dynamischen Höhepunkten die raffinierte Instrumentation des Werkes derart dosiert einzusetzen, dass ich bei meinem Vergleich des Konzerteindrucks mit früheren Konzert-Erlebnissen der „Alpensymphonie“, zunehmend mehr Thielemann, als Strauss zu hören glaubte. Die Tempi, die Pausen und die leisen Stellen sind kaum besser zu gestalten. Alle Instrumente klangen ausgewogen, waren deutlich wahrnehmbar und prachtvoll eingebettet in den Gesamtklang.
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