Dresden, Kulturpalast, Dresdner Philharmonie, Messe in h-Moll, BWV 232, J. S. Bach, IOCO

3. Oktober 2025
Mit der Aufführung von Bachs h-Moll - Messe begeht die Dresdner Philharmonie den Tag der Deutschen Einheit.
Interessant im kompositorischen Spätschaffen von Johann Sebastian Bach (1685-1750) erweisen sich seine vier lateinischen Messen BWV 233 bis 236, das Magnificat BWV 243 mit seiner 1723 uraufgeführten Erstfassung BWV 243a und die große Messe in h-Moll BWV 232. Was zunächst für uns heute etwas unerklärlich erscheint, findet seine Ursache darin, dass auch noch viele Jahre nach der Reformation in den beiden Leipziger Hauptkirchen, St. Thomas und St. Nikolai, für die Bach musikalisch verantwortlich war, auch der protestantische Gottesdienst eine Nähe zum katholischen Ritus bewahrt. So bleiben zunächst die choralischen Hauptbestandteile der lateinischen Messe, die choralische Form für Kyrie, Gloria, Credo und Sanctus werden an Sonn- und Feiertagen weiter verwendet, allerdings werden die Sätze in figuraler Form durch die protestantischen Kirchenkantaten verdrängt, und nur bei besonderen festlichen Anlässen werden Kyrie, Gloria und Sanctus als Einzelsätze aufgeführt. So hat Bach auch sein Gloria aus der h-Moll – Messe zu Weihnachten anstelle einer Kantate aufgeführt.
Mit dem Tod August des Starken sieht Bach eine Chance, sich beim Nachfolger Friedrich August II. um das Amt eines Hof-Compositeurs zu bewerben, und er überreicht am 27. Juli 1733 dem neuen sächsischen Kurfürsten und König von Polen den Stimmensatz des Kyrie und Gloria seiner späteren großen Messe. Ob die zwei Teile einer lateinischen Messe den zum katholischen Glauben konvertierten Kurfürsten und König gnädig stimmen sollten, bleibt dahin gestellt; die Hoffnung Bachs auf den Titel jedenfalls erfüllt sich erst 1736, nach einem nochmaligen Ersuchen, einigen Huldigungsmusiken, und Widmungen, denn Friedrich August ist zunächst kriegerisch beschäftigt. Doch endlich wird Bach zum Hofkomponisten am sächsischen Hof ernannt und bekommt so den nötigen Einfluss und Rückhalt, sich der leidigen und ständigen Auseinandersetzungen mit Stadt und Geistlichkeit in Leipzig zu erwehren. Übrigens ist nicht erwiesen, dass die beiden Teile im damaligen Dresden oder in Leipzig jemals aufgeführt wurden.
Ob Bach bei der Komposition von Kyrie und Gloria bereits die Absicht hatte, eine große Messe zu schreiben, ist nicht klar. Ab Mitte der 1730-ger Jahre beginnt Bach mit der Komposition zyklischer Werke wie der Goldberg- Variationen, der Kunst der Fuge und des Musikalischen Opfers, sie alle gelten als Höhe- und Schlusspunkt einer musikalischen Epoche zugleich. So ist anzunehmen, dass er auch mit seiner letzten Komposition, der h-moll – Messe, ein musikalisches Vermächtnis, sein opus summum hinterlassen will.

Für die Entstehung der Messe braucht es Jahrzehnte. Das Sanctus schrieb Bach bereits 1724 für den ersten Weihnachtsfeiertag, das Crucifixus geht auf einen Chorsatz aus seiner Kantate Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen von 1714 zurück. Die übrigen Sätze sind wohl zwischen 1734 und 1738 entstanden. Das Credo und Confiteor werden neu komponiert, deutlich vom stile antico der Kirchenmusik vor 1600 beeinflusst.Wie schon in seinem Weihnachtsoratorium bedient er sich des in der Barockmusik üblichen Parodieverfahrens, der Verwendung bzw. Überarbeitung eigener Kompositionen. Die Auswahl erfolgt nach Eignung für die zu formulierende theologische und musikalische Botschaft. Wenn wegen des neu unterlegten Textes nötig, wird die Vorlage kompositorisch verändert, neu instrumentiert oder transponiert. Mindestens 10 der insgesamt 27 Sätze gehen mit Sicherheit auf früher komponierte Kantatensätze zurück.
Das gilt beispielsweise für Osanna, Benedictus und Crucifixus. Das Gratias agimus tibi ist eine Überarbeitung des Chors „Wir danken dir, Gott“ aus der Kantate BWV 29. Auch der Einfluss von Bachs intensiver Beschäftigung mit der Gregorianik, den Messkompositionen von Palestrina, den Werken italienischer Musiker, von denen einige in Bachschen Abschriften erhalten sind, die er teilweise bearbeitet, auf die Komposition ist deutlich. Mit einem Kunstgriff unterstreicht Bach den geschlossenen Charakter des Werks: Der Schlusschor Dona nobis pacem greift auf das Gratias des ersten Teils zurück. Doch der Schluss ist, obgleich die Töne nahezu identisch sind, kein jubelnder Lobgesang, sondern eine innige Bitte um Frieden. Trotz der langen Entstehungszeit, gelingt es Bach, ein in sich geschlossenes Werk zu erschaffen. Die Messe in h-Moll ist in ihrer konfessionsübergreifenden Allgemeingültigkeit, ihrer tief bewegenden, meisterhaften Ausdeutung des Messtextes, ihrer außerordentlich kunstvollen Ausgestaltung, der Verarbeitung archaischer, traditioneller und moderner Formen und Kompositionstechniken, die auch gelegentlich das Opernhafte nicht scheuen, ein Gipfelpunkt der musikalischen Weltliteratur.
Die Messe in h-Moll übertrifft in ihrer zeitlichen Ausdehnung, mit ihren großartigen, komplexen Chorfugen, mit 18 Chorteilen, ihren Arien und Duetten, ihrer auf Kontrast und Abwechslung zielenden Vielfalt alle bis dahin bekannten Messvertonungen. Eine Aufführung bedarf keines kirchlichen Feiertags, sie bedarf hingegen eines konzertanten Rahmens. Mit seiner großen lateinischen Messe schreibt Bach ein Werk im protestantischen Geist, der nach einer ökumenischen Versöhnung beider Konfessionen strebt.
Während viele Kompositionen von Bach nach seinem Tod zunächst in Vergessenheit geraten, entwickelt sich um die Messe eine Art Mythos. Kirnberger, Haydn, Beethoven – sie alle bemühen sich um Abschriften des Autographen.
Dennoch sollte es bis zum Jahr 1811 dauern, bis Carl Friedrich Zelter beginnt, mit seiner Berliner Singakademie Teile der Messe und 1813 das gesamte Werk zu proben. Für Zelter ist das Werk „…das größte Kunstwerk, das die Welt je gesehen hat“. Wie schon Bach erlebt auch Zelter eine Aufführung der Messe nicht mehr. Erst seinem Nachfolger im Amt, Carl Friedrich Rungenhagen, gelingt 1834 und 1835 eine Gesamtaufführung der Messe in zwei Teilen. Heute gehört die h-Moll – Messe zum festen Chorrepertoire und den meistaufgeführten Vokalwerken.
Das Autograph im Bestand der Berliner Staatsbibliothek ist seit 2015 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes.
Der Musikwissenschaftler Friedrich Blume hielt die h-Moll – Messe für „eines der eindrucksvollsten Zeugnisse, das die Geschichte kennt, für jenen überkonfessionalen und gesamteuropäischen Geist, der die Musik am Ausgang des Barockzeitalters durchdrungen hat.“
Unter dem inspirierenden und umsichtigen Dirigat von Hans-Christoph Rademann, dem Gründer und Leiter des Dresdner Kammerchors, der in diesem Jahr sein vierzigjähriges Jubiläum feiert, gelang eine beeindruckende und vom Publikum gefeierte Aufführung.

Der Erfolg war in besonderem Maße ein Verdienst des erweiterten Chores, der sich durch sorgfältige Einstudierung, seinen jugendlichen, homogenen Klang und gute Textdeklamation auszeichnete und zu Recht bejubelt wurde. Die archaische Polyphonie, der sakrale Duktus kamen ebenso zu ihrem Recht wie die konzertante Virtuosität. Die großen Chorszenen atmen frei, alles ergibt musikalisch wie inhaltlich einen Sinn. Die Solisten Christina Landshamer, Marie Henriette Reinhold, Patrick Grahl und Matthias Winckhler wurden den immensen Anforderungen des Werks nicht immer gerecht. So sollten Bass– und Sopranpartien wegen ihres stimmlichen Umfangs oft zweigeteilt dargeboten werden. Wesentlich für mich war der Mangel an rhetorischer Eindringlichkeit, das galt auch für das Orchester. Vibrationsarmes Spiel der Streicher, ein zuverlässiger Basso continuo, hervorragende Violin- und Flötensolistinnen, ein schönes Solo der Oboe d´amore sind nicht genug. Ich hätte mir ein auf die vielfältigen Möglichkeiten, Farben und Spielweisen der Alten Musik eingestelltes Kammerensemble gewünscht.