Darmstadt, Staatstheater Darmstadt, LA MUETTE DE PORTICI - Daniel Auber, IOCO

Die Lebensjahre des Komponist Daniel Auber, sieben Jahre vor der Französischen Revolution geboren, also noch im Ancien Régime, der „terreur“ in der Folgezeit, Napoléon, das Second Empire und zuletzt sein Lebensende 1871 – er weigerte sich während der Preußischen Besatzung Paris zu verlassen – sind bestimmt von gesellschaftspolitischen Umwälzungen, die sich nicht explizit in seinem Werk wiederfinden. Sein Aufstieg begann mit der Opéra-comique, später sollte er mit Eugène Scribe wegweisend für die Grand Opéra werden. Auber bewies schon früh musikalisches Talent, ab 1812 wurde er von keinem Geringeren als Luigi Cherubini am Pariser Conservatoire unterrichtet, diese Institution leitete er von 1842 bis an sein Lebensende. Seine Opern waren äußerst erfolgreich, überall in Europa und Übersee wurden sie aufgeführt, doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verblasste der Ruhm.

Mit La Muette de Portici, 1828 in Paris uraufgeführt, begann die Zusammenarbeit zwischen dem erfolgreichen Librettisten Scribe und Auber. Die Handlung der fünfaktigen Oper, in diesem Fall war auch Germain Delavigne am Textbuch beteiligt, ist in einen historischen Kontext eingebettet: Neapel und Portici 1647. Die Stadt am Vesuv steht unter der Fremdherrschaft der Spanier, womit die drängenden, aber heiklen sozialen Fragen, nach der Revolution von 1789 hatten sie nicht an Gültigkeit verloren, von den Schöpfern des Werks auf eine eher patriotische Schiene gehoben wurden. Was im Übrigen auch für die Brüsseler Aufführung der Oper von 1830 gilt, das immer wieder eingeblendete Bildmaterial bezieht sich explizit auf diesen Vorfall, die letztendlich in der Gründung Belgiens mündete. Vielleicht auch deswegen ertönt Bella Ciao, jenes vermeintliche Kampflied der Antifaschisten, doch dieses geht vermutlich auf eine norditalienische Volksweise des 19. Jahrhunderts zurück. In einer veränderten Version, worauf sich der spätere musikalische Kampfgruß stützt, beschreibt es die unter schweren Bedingungen arbeitenden Menschen im Reisanbau; dass Auber von diesem Liedgut wusste, ist nicht anzunehmen, aber es hätte tatsächlich der Inszenierungsidee – Revolution oder Kampf den unterdrückerischen Lebensweisen – eher Rechnung getragen. So bleibt es bei einem netten musikalischen Einsprengsel, wirkungslos verpuffend. Dabei würde es durchaus in die Rahmenhandlung passen, auch die Fischer in Aubers Oper leben unter harten Bedingungen. Das eingeblendete Gemälde von Eugène Delacroix Die Freiheit führt das Volk (La liberté guidant le peuple) von 1830 fügt sich zeitlich gut hinein, hat aber mit Portici wenig zu tun, denn der Aufstand in Neapel richtete sich gegen die Besatzer, was jedoch die Zeitgenossen in Brüssel folgerichtig auf ihre eigene Lage bezogen und der (von der Inszenierung beschworene) revolutionäre Geist zur Trennung von den Niederlanden und der Bildung eines eigenen belgischen Königreiches unter Leopold von Sachsen-Coburg, wohlgemerkt keiner Republik, führte. Ein weiterer musikalischer Einfall – Die Gedanken sind frei – lässt deutsches Liedgut erklingen (und Georg Büchner wird pflichtschuldig mehrfach gezeigt), aber es bleibt ebenso folgenlos für das Bühnengeschehen.

Paul-Georg Dittrichs Regie – die Inszenierung ist eine Übertragung des Staatstheaters Kassel an das Staatstheater Darmstadt und hatte dort in der Spielzeit 2021/22 Premiere – setzt auf große Wirkung und versucht die Grand opéra ins Heute zu übertragen, indem aber der unbedingte Verweis auf Fortsetzung der Revolution ins Hier und Jetzt allzu oft wiederholt wird, tritt die eigentliche Geschichte zurück. Denn zuvorderst ist es ein persönlicher Konflikt, der eine machtpolitische Komponente besitzt. Der stummen Fenella – von Alphonse, dem Sohn des spanischen Vizekönigs, verführt und vom Vizekönig eingekerkert – gelingt die Flucht, während ihr Bruder Masaniello verzweifelt auf Nachricht von ihr hofft. Eine Verbindung zwischen dem Fischermädchen und dem Prinzen ist selbstredend nicht standesgemäß, neben dem sozialen Gefälle überschreitet sie die Kluft zwischen den spanischen Herrschern und den beherrschten Neapolitanern, verkörpert von den einfachen Fischern, bei denen der Unmut gegen die verhassten Spanier wächst.
Elvire, bei der Fenella Zuflucht gefunden hat, gewährt ihr Schutz, erweist sich aber als spanische Prinzessin und Braut des untreuen Alphonse. Megan Marie Hart besitzt einen geschmeidigen und kräftigen Sopran, besonders beindruckend klingt ihre Stimme in der Höhe, und zeigt ihre Elvire als eine selbstbewusste und unabhängige Frau. Ihre Dominanz zeigt sich insbesondere im Duett mit Alphonse im dritten Akt, Ricardo Garcias lyrischer Tenor passt insofern, als er seine Treue ihr gegenüber recht mühsam zu beweisen versucht. Dieser wegen Fenella ausgetragene Streit wird maßgeblich von der Regie behindert; auf den heruntergelassenen eisernen Vorhang wird das Duett der beiden Liebenden projiziert, die sich unversehens in einem Disput zwischen dem historischen Double des Komponisten (Stephan Hübner) und einem Regisseur aus der Jetztzeit (Christian Raab) wiederfinden. Was als komische Einlage verstanden werden könnte, unterbricht Musikfluss und Ablauf gleichermaßen. Schon der Musik- und Kunstschriftsteller Oskar Bie (1864-1938) klagte, dass es „den Sinn der Handlung noch mehr zerstört, wenn es gestrichen wird“. Gestrichen wurde das Duett zwar nicht, aber bis zur Unkenntlichkeit oder Bedeutungslosigkeit zerrupft. Denn tatsächlich nehmen die Ereignisse erst danach ihren unabänderlichen Lauf.

Fenella hat ihrem Bruder Masaniello den Namen des Verführers nicht verraten, dennoch schwören er und sein Freund Pietro Rache. Matthew Vickers gibt den besorgten und fürsorglichen Bruder; gerade diese Figur ist es, das zeigt Vickers nachdrücklich, an der sich Privates und Politisches unauflösbar verschränken. Der Verantwortung als Anführer der Fischer kollidiert mit den zeitgleichen Begebenheiten, als Elvire und Alphonse, die er als Prinzenpaar nicht erkennt, bei ihm Zuflucht vor den Rebellen finden, während das Fischervolk ihn zum König von Neapel erhebt. Fenella schließt mit ihnen Frieden und will ihnen helfen, nur Pietro nicht, Georg Festls imposanter Bass-Bariton vollzieht den Wandel vom Freund zum Feind Masaniellos mühelos. Für ihn stellt es einen Verrat dar, für den auch sein bisheriger Kamerad mit dem Leben bezahlen wird. Er vergiftet ihn, worauf Masaniello die Kontrolle über die Geschehnisse verliert. Er kann seine Kameraden nicht mehr in den Kampf führen, wird aber Elvire vor dem Tod retten und an ihrer statt sterben. Zuletzt bricht der Vesuv aus, Fenella stürzt sich, als sie vom Tod ihres Bruders erfährt, in die Lava. Die Wucht der Musik und der Ereignisse wurden von den laut verstärkten Kommentaren der Besucher, die ein „Aktionsticket“ erworben hatten und auf der Bühne an Konferenztischen sich jeweils zu zweit gegenüber sitzen, überlagert, ja fast schon ausgebremst: „Wofür würdest Du eine Revolution anzetteln?“ lautet die Frage. Die Regie blieb darauf eine Antwort schuldig, die Stumme von Portici hatte auch nicht danach gefragt.
Die weiteren Mitwirkenden sind Zaza Gagua als Borella, Marco Mondragón als Lorenzo, Johannes Seokhoon Moon als Selva und Kwanghee Choi als Fischer. Für das teils historische und ansprechende Kostüm sorgte Anna Rudolph (Mitarbeit Lara Belén Jackel), für Licht Marie-Luise Fieker und Heiko Steuernagel sowie für die Videoaufnahmen Kai Wido Meyer (Mitarbeit Lio Klose).

Fenella wird nicht von einer Tänzerin verkörpert wie von Auber und Scribe angelegt, sondern von einer Puppe (Puppenbau Magdalena Roth), was durchaus plausibel ist und dem Ungleichgewicht und Abhängigkeitsverhältnis zwischen Alphonse und Fenella einerseits entspricht, andererseits aber der Figur jegliche menschliche Regung nimmt und den sie führenden Mitdarstellerinnen Franziska Dittrich und Lilith Maxion einiges an Koordination abverlangt. Dies gilt ebenso für die Live Kamera von Ricardo Di Lorenzo, David Kasperowski und Edith Haller, insbesondere im Schlussakt, wenn sich die tragischen Entwicklungen zuspitzen und sie sich zwischen den Tischen, an denen die Bürgergespräche stattfinden, schlängeln müssen. Das Bühnenbild von Sebastian Hannak (Mitarbeit Bühne Maria Walter) trägt damit der Idee eines die Jahrhunderte umspannenden revolutionären Gedanken Rechnung, der allerdings in einem wenig schmucken Amtsraum endet; zuvor waren Schloss- und Kirchenarchitektur wie auch das Fischerdorf evoziert worden.
Der Chor – Einstudierung Alice Meregaglia – leistet hervorragende Arbeit, musikalisch beeindruckend und szenisch ein wandlungsfähiger und wichtiger Akteur, der wie das Orchester großen Zuspruch vom Publikum erhält.
Johannes Zahn, erster Kapellmeister des Staatstheater, und das Staatsorchester Darmstadt schlagen sich bravourös, indem sie das Geschehen tragen und zusammenhalten, den handelnden Personen die nötige musikalische Entwicklung zugestehen, wovon sich allerdings die Regie wenig beeindruckt zeigt. Dem Format der Grand opéra mit ihrem Melodienschatz, Tanzeinlagen, die zur Tragik gewendete Geschichte, den vielen großen Chorszenen (eindrücklich das Gebet) und riesigen Tableaus auf der Bühne werden Zahn und das Orchester gerecht, wie sie auch die diversen szenischen wie musikalischen Einlagen gut „überspielen“. Nicht zuletzt geben sie der stummen Rolle musikalisch Ausdruck.
Mit Revolutionen ist das so eine Sache. Der Funke des Furors „Revolution“ soll von dieser Inszenierung auf das Publikum überspringen, dieses heute wieder „revolutionär“ aktiv werden, endete jedoch für das Regieteam in einer vielleicht erwarteten oder auch unabsichtlichen, doch starken und unüberhörbaren Ablehnung. Es spricht aber für die Darstellende Kunst, wenn ein Abend wie dieser für Diskussionen und Reaktionen sorgt. Und nicht zuletzt wurde natürlich allen Mitwirkenden kräftig applaudiert.