Bremen, Theater Bremen, PIQUE DAME - Peter Tschaikowsky, IOCO Kritik, 29.05.2023

Bremen, Theater Bremen, PIQUE DAME - Peter Tschaikowsky, IOCO Kritik, 29.05.2023
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Theater Bremen

Theater Bremen / Theater am Goetheplatz © Jörg Landsberg
Theater Bremen / Theater am Goetheplatz © Jörg Landsberg

PIQUE DAME - Peter Tschaikowsky

- Eine Zivilisation ist dem Untergang geweiht, doch deren Menschen feiern....... -

von Thomas Birkhahn

Eine Welt im Zerfall. Eine Zivilisation, die dem Untergang geweiht ist und deren Mitglieder dennoch in bester Feierlaune eine zügellose Geldgier an den Tag legen – das ist die düstere Vision von Regisseur Armin Petras in der Neuproduktion der Oper Pique Dame von Peter Tschaikowsky am Theater Bremen; besprochene Vorstellung 27.05.2023

Es herrscht von Beginn an eine Endzeitstimmung, wenn die beiden Soldaten Tschekalinsky und Surin einem Autowrack entsteigen, in dem sie anscheinend hausen. Jedoch interessiert man sich anscheinend nicht für den Fortbestand der Zivilisation, sondern mehr für das Glücksspiel und damit die Aussicht auf das ganz große Geld. Ein klarer Fingerzeig Petras' auf unsere heutige, rein materialistisch geprägte Welt. Bei Petras lösen sich die künstlichen Grenzen, die der Mensch in vielerlei Hinsicht durch die Errichtung der Zivilisation gezogen hat,  wieder auf.

Theater Bremen / PIQUE DAME hier Chayka-Rubinstein, Partyka, Morloc, Lehner, Han, Chor © Jörg Landsberg
Theater Bremen / PIQUE DAME hier Chayka-Rubinstein, Partyka, Morloc, Lehner, Han, Chor © Jörg Landsberg

So gibt es keine klare Trennung mehr zwischen menschlicher Behausung und Natur, denn die Häuserfront, die Bühnenbildner Julian Marbach für diese Produktion konstruiert hat, ist nicht nur verfallen, sondern es wachsen auch schon Pflanzen aus den kaputten Fenstern. Die Natur kommt in jene Bereiche zurück, aus denen der Mensch sie über viele Jahrhunderte hinweg zurück gedrängt hat.

Und die Rückseite des Hauses – die wir mithilfe der Drehbühne im zweiten Bild sehen – ist eine Mischung aus Hinterhof und Wohnzimmer. Wir sehen vor dem Haus einen Konzertflügel, ein Sofa und einen Kamin. Ist das noch „drinnen“ oder ist das schon „draußen“?  Auch hier sind die Grenzen fließend.

Zusätzlich ist auch die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem  aufgehoben. Ständig ist die Bühne mit schwarz gekleideten „Fremden“ bevölkert, die in den Privaträumen des Hauses von Lisa und der Gräfin ein und aus gehen, ohne dass es jemanden zu stören scheint. Dazu gehören auch Straßenkinder, die Unterschlupf suchen und von niemandem beachtet werden.

Theater Bremen / PIQUE DAME hier Kunert, Lehner, Chayka-Rubinstein, Chor, Statisterie © Jörg Landsberg
Theater Bremen / PIQUE DAME hier Kunert, Lehner, Chayka-Rubinstein, Chor, Statisterie © Jörg Landsberg

Kann Liebe in so einer Welt überhaupt gelingen? Denn darum geht es ja auch in Tschaikowskys vorletzter Oper aus dem Jahr 1890. Sein Bruder Modest schrieb das aus sieben Bildern bestehende Libretto nach einer Novelle von Alexander Puschkin, in der sich der Soldat Hermann in die Adlige Lisa verliebt, die aber aufgrund der Standesunterschiede für ihn unerreichbar scheint. Als er dann erfährt, dass Lisas Großmutter, eine hochbetagte Gräfin, ein Geheimnis hütet, wie man beim Glücksspiel reich werden kann, will er sein Glück erzwingen. Ob es ihm dabei wirklich um Lisa geht oder doch eher um den Reichtum an sich, mit dessen Hilfe er der Welt, in der er nicht glücklich ist, zu entfliehen versucht, ist nicht ganz klar. Und Hermann weiß es vermutlich selber nicht so genau.

Tschaikowsky hat Hermann und Lisa zwei große Liebesszenen geschrieben, jedoch bleiben sie bei Petras in beiden Szenen auf Distanz zueinander. Die Sehnsucht nach Nähe ist deutlich zu spüren, aber Petras lässt Lisa nur einmal kurz rückwärts an Hermann heran robben, um danach gleich wieder auf Distanz zu gehen. Ein starkes Bild, das deutlich macht, dass in dieser Welt, die sich in Auflösung befindet, kein Platz für menschliche Nähe  ist.

Petras wird bei seinem „Zurück-zur-Natur“-Ansatz von der Videokünstlerin Rebecca Riedel unterstützt, deren sehr ausdrucksstarke bewegte Bilder auf die Hauswand projiziert werden. Mal zeigen sie die durch die Wildnis streifenden Protagonisten,  mal die feiernde Gesellschaft.

Es ist eine Gesellschaft, die keiner bestimmten Epoche angehört. Die Kostüme (Patricia Talacko) reichen von opulenten Abendkleidern des 19. Jahrhunderts für Lisa und ihre Vertraute Polina bis zu futuristisch anmutender schwarzer Kluft. Die Gesichter dieser Menschen sind teilweise verunstaltet, was eine Anspielung auf zukünftige Genmanipulationen sein könnte. Der Mensch war also schon immer so, und wird wohl auch immer so bleiben, das ist die wenig optimistische Botschaft.

In dieser Inszenierung wird der Zuschauer mit Bildern geradezu überflutet: Die Videoprojektionen, die vielen Menschen, die die Bühne bevölkern, dazu die vielen kleinen Details des Bühnenbilds – sie zwingen den  Zuschauer, herauszufiltern, was er für relevant erachtet .

Theater Bremen / PIQUE DAME hier Han (links), Olivares Sandoval (rechts), Chor © Jörg Landsberg
Theater Bremen / PIQUE DAME hier Han (links), Olivares Sandoval (rechts), Chor © Jörg Landsberg

Stellvertretend für die vielen Gegenstände auf der Bühne sei hier ein alter  Fernseher genannt – bis in die 90er Jahre noch die wichtigste Quelle des Menschen für Information, Unterhaltung und Zerstreuung – der hier so vermodert ist, dass schon Pflanzen aus ihm heraus wachsen. Ein eindrucksvolles Symbol, dass die Vergänglichkeit all dessen deutlich macht, was wir Menschen für einen gewissen Zeitraum für unverzichtbar hielten.

Überhaupt geht in dieser Oper auffallend oft ein wehmütiger Blick zurück in die Vergangenheit. Lisas Vertraute Polina singt zu Beginn des zweiten Bildes von vergangenen Freuden (sehr anrührend: Ekaterina Chayka-Rubinstein) und auch die Gräfin (Renée Morloc) kann sich mit der Gegenwart nicht so recht anfreunden. Obwohl sie bei Petras eine vitale Frau mitten im Leben ist und keine 90-jährige Greisin, wie es das Libretto vorsieht, gehen ihre Gedanken zurück  in die Zeiten, als sie in Paris eine Dame von Welt war.

Und dies ist das musikalische Highlight des Abends, denn Renée Morlocs phantastische Bühnenpräsenz und ihre wunderbare musikalische Gestaltung machen aus ihrer großen Arie im vierten Bild ausdrucksstarkes Musiktheater. Wann hat man je so ein durchdringendes Piano gehört? Ihre sehr wandlungsfähige Stimme und ihr bestechendes Timing lassen besonders das Morbide ihres Charakters („Ich fühle mein Herz schlagen und weiß nicht, warum.“) lebendig werden.

Im Gedächtnis bleibt darüber hinaus vor allem – mal wieder, möchte man bewundernd hinzufügen - Nadine Lehners hochemtionale Verkörperung der Lisa: Wenn diese großartige Sänger-Darstellerin im sechsten Bild mit der Pistole vor Hermanns Nase herum fuchtelt, hat man als Zuschauer regelrecht Angst, sie könnte vom Libretto abweichen und ihn auf der Stelle erschießen, so überzeugend spielt und singt sie Lisas Wut und rasende Verzweiflung  („Einem Mörder, einem Scheusal gehört auf ewig meine Seele.“).

Luis Olivares Savoyal spielt Hermanns innere Zerrissenheit, die sich oftmals in Passivität äußert („ Ich möchte gerne davon laufen, aber ich habe nicht die Kraft dazu.“) mit großer innerer Anteilnahme. Jedoch hat er vor der Pause – man unterbrach nach dem dritten Bild, also in der Mitte der zweiten Akts – stimmlich zu kämpfen. Es fehlt seiner Stimme zunächst an Durchsetzungskraft und Glanz. Im weiteren Verlauf kann er sich dann aber steigern und hat seine stärksten Momente im lyrischen Gesang des sechsten Bildes („Die Stunde des Wiedersehens ist gekommen.“).

Auch die Nebenrollen sind hervorragend besetzt. Hier ragt besonders Elias Gyungseok Han als Graf Tomsky heraus, dessen eindringliche Erzählung des Geheimnisses der „Drei Karten“ bei Hermann die Gier nach Glück und Reichtum erst auslöst.

Lisas Verlobter, der elegant gekleidete Fürst Jeletzky, ist ihr gegenüber erstaunlich verständnisvoll  für einen Mann des 19. Jahrhunderts. Diese Weichheit in seinem Charakter wird von Michal Partyka im dritten Bild mit lyrischer Stimme sehr überzeugend dargestellt, aber er findet auch die nötige Härte in der Stimme, wenn es im siebten Bild zur offenen Konfrontation mit Hermann kommt.

Bleibt am Ende noch zu hoffen, dass Yoel Gamzou, der bis 2022 Generalmusikdirektor am Theater Bremen war, noch oft den Weg zurück nach Bremen finden wird. Was er und seine Musiker, die offensichtlich sehr gerne unter seiner Leitung spielen, an diesem Abend leisten, ist phantastisch. Das einfühlsame Spiel der Philharmoniker sowohl in den lyrischen Passagen als auch die hochdramatischen Gefühlsausbrüche machen aus dieser Aufführung einen Abend der großen Gefühle. Gamzou erzeugt dabei Dramatik nicht durch Lautstärke, er  hat immer die Sänger im Blick und deckt sie nie zu, was bei diesem spätromantischen Orchesterklang eine großartige Leistung ist. Und auch der bestens aufgelegte Opernchor (Einstudierung: Alice Meregaglia), der stimmlich und darstellerisch voll überzeugen kann, soll nicht unerwähnt bleiben. Man hätte diesem Opernchor gerne noch mehr zugehört und zugesehen, doch leider wurden etliche Chorpassagen gestrichen. Traut man dem Publikum nicht mehr zu, sich länger als zweieinhalb Stunden auf ein Werk konzentrieren zu können?

Wie dem auch sei, es ist der einzige Wermutstropfen an einem Abend ganz großen Musiktheaters, der mit lang anhaltendem Applaus für alle Beteiligten endet.