Bayreuth, der lebende Mythos, IOCO

Iris Flender erlebt ihren ersten Bayreuth-Besuch: zwischen Haute Couture, Wetterkapriolen, legendären Holz-Klappsitzen und festlichen Blechbläserklängen – ein Tag voller Musik, Glanz und unvergesslicher Opernmomente auf dem Grünen Hügel.

Bayreuth, der lebende Mythos, IOCO
Festspielhaus © Bayreuther Festspiele - Enrico Nawrath

Essay von Iris Flender

Das Bayreuth-Küken ist heute das erste Mal selbst vor Ort auf dem Hügel. Und erlebt den Mythos endlich nicht nur aus der „Konserve“ von Presse und TV. Nun, was gibt es alles zu erleben? Zusätzlich zu der eigentlichen Aufführung natürlich, dem Lohengrin I, den wir heute sehen.

Das Bayreuth-Küken sitzt mit einem Glas Geldermann-Sekt auf einer Bank vor dem Festspielhaus und kann genießen, was zu sehen ist. Dies ist zunächst einmal ein sehr einladendes und aufmerksames Festspielhaus. Nicht nur das dekorative Kopfsteinpflaster ist flach und fugen-eng verlegt, die Absätze bleiben heute sicher heil. Auch die Zeltdächer über den Stehtischen sind wunderbarerweise so gestaltet, dass der Regen ohne Traufe abfließt. Eine wunderbare Konstruktion, kein Kleid sollte heute ruiniert werden. Außerdem gibt es viele zur Verfügung stehende Regenschirme in der Farbe Pink. Sie werden angeblich von Dienern bei Bedarf hin und her getragen. Und es gibt sogar kleine Schließfächer wenige Schritte von den Blickpunkten entfernt, wo die Damen ihre Schuhe wechseln können.

 

Die Haute Couture – und das Wetter

Vor Beginn der Oper steht natürlich die Garderobe ganz im Mittelpunkt, das „Sehen und Gesehen-Werden“. Die Gelegenheit für die große Robe, alle Jahre wieder. Und das nicht nur für die Damenwelt. Es sind alle wunderbare Mode-Kreationen der Welt zu finden, von Issey Miyake, Dior, Gucci, Vivian Westwood; schöne Kleider, die der Trägerin offenbar ein gutes Gefühl geben; einige junge Frauen in Vintage-Kleidern aus den späten 50er Jahren; alte Damen in erprobter Rüstung mit besonderen Halsketten und Ohrgehängen; auch die Herrenwelt punktet mit gepflegtem Äußeren und auffälligen Accessoires. Selbst im Rollstuhl trägt man Smoking.

Eine schwankende Besetzungsfrage stellt sich in Bayreuth immer mit dem „Wetter“. Üblicherweise belegen „große Hitze“ und „Sonne“ die Rollen, doch dieses Jahr ist der Intendant Petrus sich noch ziemlich unschlüssig. Sollte er es doch mit „grauem Himmel“, „Kühle“ und „Platzregen“ versuchen? Er stellt diese Aussichten zumindest auf den Plan, was das verehrte Publikum doch in diverse Nöte brachte. Feine Stoffe, zartes Schuhwerk, oder doch die sichere Variante, in der man nicht womöglich nass und kalt im 2. Akt sitzt? Der Bayreuth-versierte Partner bemerkt brummend: „Bei den großen Alpentouren war weniger detaillierte Wetterprognose erforderlich als hier!“ Nun, heute gibt sich Petrus doch noch als Fashionista. Gegen 15 Uhr verschiebt er die Wolken, den Regen. Die Sonne kommt heraus, angenehm, ein leichtes Lüftchen dazu … perfekt!

Festspielhaus © Bayreuhter Festspiele - Enrico Nawrath

 

Alle strömen ins Haus

Und dann: Die Bayreuth-Fanfaren kündigen den Beginn der Oper an. Die Blechbläser spielen jeweils unterschiedliche Leitmotive aus dem Akt, den wir gleich hören werden. Das ist zweifelsohne viel festlicher als ein profanes Geklingel. Es macht schon etwas Gänsehaut, wenn die golden blitzenden Instrumente vor dem weiß-blauen Himmel auf dem Balkon erschallen und sagen: Jetzt fängt es an. Sie sind dreimal zu hören, spätestens beim dritten Mal muss man sich beeilen, um noch hineinzukommen. Also, zu den Plätzen. Ein Blick auf die Karte: Ah ja, links, nach oben. Aber man geht nicht einfach so hinein, mit einem kurzen Vorzeigen der Platzkarte. Nein, nein, der Name steht auf der Karte und ohne Vorzeigen des Personalausweises gibt es keinen Schritt über die Schwelle des Tempels. Erwähnte ich schon den Mythos? Dann geht es über eine hölzerne Seitentreppe – dafür gäbe es heute gewiss keine Abnahme mehr vom Brandschutz -, aber atmosphärisch ist es eine gute Einstimmung, man geht nicht nur örtlich in einen anderen „Raum“. Und dann steht man im Zuschauerraum, die Magie entfaltet sich.

 

Der Sitz

Mit zur Magie, dem Mythos gehört DER SITZ. Die von der Bühne ausgehende Faszination reicht offenbar aus, dass man auf einem historischen Not-Klappsitz aus Sperrholz 2 Stunden lang sitzend aushalten kann. Und das wiederholt und freiwillig!  Immerhin ist wenigstens die Sitzfläche mit Stoff bezogen, so dass man bei den üblichen hohen Temperaturen nicht im eigenen Schweiß festklebt. Doch was soll ich sagen? Der erste Gedanke ist: „Das geht maximal 15 Minuten gut. Wie halten die älteren Semester das bloß aus?“ Dieser defätistische Gedanke beantwortet sich schon nach dem ersten Aufzug, der gefühlt keine 10 Minuten gedauert hat. Der Gesang, das Bühnenbild, die atmosphärische Dichte fesselt einfach alle Aufmerksamkeit, es ist wunderbar und die Rückenlehne ist vergessen.

 

Der Applaus

Erst wird zur völligen Verblüffung am Ende des ersten Aufzugs nicht nur geklatscht, sondern „lauthals“ getrampelt. Und zwar nicht nur von Einzelnen, sondern gefühlt vom ganzen Publikum. Offen gestanden, das Bayreuth-Küken hat nach dem ersten Erstaunen beherzt mitgetrampelt. Die aufwühlende Emotion der Wagner-Musik an die Holzdielen abgebend. Großartig! Gut, dass der Holzboden dies seit Jahrzehnten aushalten kann.

 

Die Pausen und die Festspielwiese

Zu Beginn der Pause strömen alle wieder hinaus auf den großen Vorplatz. Man kann zwischen den Aufzügen flanieren, sich zeigen und die typischen Fachgespräche über das führen, was man soeben gesehen hat. Sozusagen das Gegenstück - nein, die wunderbare Ergänzung zum Erlebnis der Oper selbst.

Selbstverständlich kommt man an der sog. „Festspielwiese“ nicht vorbei. Hier gibt es alles, was das Herz kulinarisch begehrt und die Nerven für die Experimente des Regietheaters stärkt. Open Air oder auch überdacht in geräumigen Zelten. Die 1-stündige Pause reicht völlig aus für ein Abendessen. Wer nur eine kleine Erfrischung sucht, wird vielleicht bei den beiden Eisständen fündig. Die Namen der Eisbecher können natürlich nur auf „Wotan“, „Rheingold“ usw. lauten. Smoking und „Eisbecher auf die Hand“ gehen hier auf der Festspielwiese eine anderswo selten gesehene Verbindung ein.

Die Pause endet auf jeden Fall mit einer erneuten Fanfare.  

Festspielhaus © Bayreuhter Festspiele - Enrico Nawrath

Das Konzept des Gesamthügels

Und überhaupt, der „Hügel“ ist mit seiner ganzen Umgebung und allem, was dazugehört, ein stimmiges Gesamtkonzept:  

  • Das Festspielhaus allein sieht schon prachtvoll aus. Sowohl vor grauem als auch vor blauem Himmel.
  • Dazu kommt dann noch der großzügige Park, in den das Haus eingebettet ist. Die Gärtner haben wunderschöne Rabatten - eher Blumenmedaillons - angelegt, die bei jedem Wetter mit ihrer Leuchtkraft erfreuen.
  • Außerdem sind im ganzen Park auch Skulpturen und Büsten aus der Wagner-Welt zu finden.
  • Weiter gibt es auch eine sehr informative Fotoausstellung zur Geschichte des Festspielhauses. Eine Pause allein reicht nicht, um alles zu sehen. Durchaus auch mit den kritischen Seiten über die nationalsozialistische Haltung von Cosima Wagener und Familie. Chapeau dafür.
  • Sehr schön ist auch der kleine Laden, in dem es Erinnerungsstücke für den Bayreuth-Besuch gibt: ausgesuchte CDs und DVDs, Literatur um Wagner, kleine Skulpturen und amüsante T-Shirts mit Zitaten aus den Werken.
  • Und dann noch ein paar Worte zu den Menschen, die hier arbeiten. Wirklich alle sind freundlich, zugewandt, hilfsbereit. Ganz egal ob die Einlasskontrolle, der Verleih von Operngläsern und Fächern, der Kartenverkauf – einfach überall. Sogar beim Einweisen am großen Publikums-Parkplatz wird man sehr zuvorkommend behandelt.

Ein Gesamt-Erlebnis, das überall auf dem Hügel Freude macht.

 P.S.: Während der letzten Minuten der Oper - Lohengrin singt gerade seine Gralserzählung - zieht draußen ein schweres Gewitter mächtig grollend zum Hügel auf. Wetter-Umbesetzung, zuletzt doch noch ganz zum Schluss. Auch dieser Spurt in Abendgarderobe zum Parkplatz bleibt sicher ein unvergessliches Bayreuth-Erlebnis.