Aix-en-Provence, Grand Théâtre de Provence, DON GIOVANNI - W. A. Mozart

FESTIVAL D’AIX-EN-PROVENCE 2025 / 04.07.2025
Wolfgang Amadeus Mozart:
DON GIOVANNI OSSIA IL DISSOLUTO PUNITO, K 527 (1787)
Dramma Giacoso in zwei Akten. Libretto von Lorenzo da Ponte
nach Don Giovanni ossia il convitato di Pietra von Giovanni
Bertati (1787) nach Molière und Tirso de Molina.
TAUSENDUNDDREI METAMORPHOSEN ODER DIE NACHWELT DES DON GIOVANNI…
Jenseits der Gattungen: Mozarts „Don Giovanni“…
Misst man den Erfolg einer Oper an der Zahl ihrer Aufführungen und der Orte, an denen sie nachgespielt wird, so gehört Don Giovanni, ungeachtet des Triumphes, den Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) in Prag bei der Uraufführung am 29. Oktober 1787 erlebte, im 18. Jahrhundert zu den erfolglosen Exemplaren. Ob in Wien oder Leipzig, Mainz oder Mannheim, Frankfurt oder Hamburg – nirgendwo konnte zu Mozarts Lebzeiten der Anfangserfolg wiederholt werden, und der Sprung über die Alpen in die italienischen Opernzentren wie Venedig oder Neapel schaffte Mozarts Don Giovanni schon gar nicht.
Misst man dagegen den Erfolg einer Oper an dem Einfluss, den sie auf nachfolgende Generationen ausübt, an den Diskussionen, die sie auslöst, an der Repertoirefähigkeit im Theater auch über den Tod des Komponisten hinaus, so gehört Don Giovanni sicher zu den erfolgsreichsten Werken der Operngeschichte. Unzählige Literaten von E. T. Hoffmann (1776-1822) über Alexandre Puschkin (1799-1837) bis zu Prosper Mérimée (1803-1870), Philosophen von Sören Kierkegaard (1813-1855) über Friedrich Nietzsche (1844-1900) bis Theodor W. Adorno (1903-1969) oder Maler von Francisco de Goya (1746-1828) über Eugène Delacroix (1798-1863) bis Max Slevogt (1868-1932) setzten sich mit Mozarts Oper auseinander, gaben immer neue Impulse für das Verständnis des Werkes und damit auch für immer neue Interpretationen auf der Bühne.

Zu dieser rezeptionsgeschichtlichen Diskrepanz gesellt sich eine weitere. Auffällig ist nämlich, dass die Diskussionen, die das 19. Jahrhundert um Don Giovanni führte, zwar ohne Mozarts Musik nicht einmal in Gang gekommen wären, dass die Musik selbst in ihnen aber bestenfalls am Rande, gleichsam als Auslöser der einen oder der anderen psychologischen Deutung eine Rolle spielt. Keine andere Oper Mozarts ist so sehr von späteren Generationen, ohne Rücksicht auf ihre Originalgestalt und auf das, was der Komponist selbst in ihr realisieren wollte, vereinnahmt worden. Am deutlichsten lässt sich dies an der Schlussszene nach Don Giovannis Höllenfahrt beobachten: Dieses Sextett, in dem alle Beteiligten mit Ausnahme des Titelhelden und des Komturs noch einmal zusammenkommen, um gemeinsam das Ende des Wüstlings zu einer moralischen Sentenz umzumünzen, war den Liebhabern dieser Oper spätestens seit dem 19. Jahrhundert ein Dorn im Auge. Schon im 18. Jahrhundert wurde es bei Aufführungen zumeist einfach weggelassen, so dass die Oper – nicht um eines tragischen Schlusses, sondern um des Spektakels willen – mit der Höllenfahrt endete. François Castil-Blaze (1784-1857) dagegen betonte den tragischen Aspekt dieses Schlusses, indem er das Sextett in seiner Bearbeitung für die Opéra Royal de Paris im Jahre 1834 durch Ausschnitte aus Mozarts: Requiem, KV 626 (1793) ersetzte. Und noch 1967 warf Adorno dem Dirigenten Otto Klemperer (1885-1973) „ominöse Werktreue“ vor, weil dieser das Sextett in einer Schallplatteneinspielung nicht gestrichen hatte.
Mozart selbst war an den Irritationen, die Don Giovanni auslöste, nicht unbeteiligt. Zum einen nahm er keinerlei Rücksicht auf die üblichen Aufführungsbedingungen; kaum ein Orchester außerhalb Prags oder Münchens ist vermutlich in der Lage gewesen, den Orchestersatz mit seinen differenzierten und schwierigen Bläserstimmen, allen voran in der Klarinette, zu bewältigen. Zum anderen aber überschreitet diese Oper musikalisch alle Grenzen der Gattungsgeschichte. Dass er sie als „opera buffa in 2 Atti“ in sein eigenhändiges Verzeichnüß aller meiner Werke eintrug, ist deshalb richtig und falsch zugleich – richtig, weil die Dramaturgie des Librettos mit ihren zahlreichen Ensembleszenen zu Beginn, im Verlauf und am Ende der zwei Akte ebenso unabweisbar ein Kennzeichen der opera buffa war wie die unterschiedliche soziale Herkunft der Protagonisten, und falsch, weil sich die kompositorische Umsetzung dieser vorgegebenen Dramaturgie von der gängigen Musiksprache der komischen Oper meilenweit entfernte. In Don Giovanni verschmolz Mozart die Stilebenen der ernsten und der komischen Oper. Dieses gegenseitige Durchdringen des ernsten und des komischen Genres, die Offenheit beider Gattungen für die musikalischen der jeweils anderen waren zwar ein generelles Merkmal der Operngeschichte in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts; mit der Radikalität aber, in der er diesen Gedanken in Don Giovanni verfolgte, scheint Mozart seine Zeitgenossen überfordert zu haben.

Lorenzo da Ponte (1749-1838) hatte es ihm mit seinem Libretto leicht gemacht, die musikalischen Gattungsszenen zu überschreiten; denn während er im äußeren Handlungsablauf nicht von den zahlreichen Don Juan-Librettos zuvor abwich, konzentrierte er die Fabel auf wenige, gleichsam exemplarische Ereignisse und Personen: Der Libertin Don Giovanni und sein schlitzohriger Diener Leporello, die bedrängte Donna Anna, die betrogene Donna Elvira, die umworbene Zerlina, der unerschütterliche Sanftmut des Don Ottavio und die polternde Eifersucht des Masetto. Vor allem aber bereitete er den Boden für eine musikalische Interpretation des Don Juan als tragische Figur; denn während dieser in den vorausgehenden Versionen munter eine Frau nach der anderen verführte, bis er seine Strafe erhält, will ihm in Da Pontes Libretto von Anbeginn an nichts mehr so recht gelingen – weder bei Donna Anna noch bei Zerlina kommt er zum Zuge, und seine Nemesis Elvira abzuschütteln glückt ihm nur kurzfristig. Das schreckliche Ende des Verführers kommt daher nicht wie ein Strafgericht von außen über ihn; es ist der Getriebene selbst, der dem Verderben konsequent und unaufhaltsam zustrebt.
Mozart aber ging in der Komposition über diese Vorgabe Da Pontes weit hinaus. Don Giovanni ist die vielleicht konsequenteste Umsetzung jenes in Zusammenhang mit dem Singspiel Die Entführung aus dem Serail, KV 384 (1782) formulierten musikdramatischen Credos, dass „die Poesie der Musick gehorsame Tochter seyn“ müsse. Mozart sah seine Aufgabe als Opernkomponist nicht darin, die Handlung durch Musik zu illustrieren, dem Text also gleichsam einen passgenauen musikalischen Mantel umzuhängen; er ließ das Drama aus der Musik heraus entstehen, so dass der Text nicht mehr als eine Erläuterung des musikalischen Geschehens war. Die Musik des Dan Giovanni ist Bühnenraum, Handlung, sozialer und emotionaler Ort zugleich und ein Kommentar zu all dem, was der Text verschweigt. Mit den Mitteln der Musik knüpfte Mozart ein Geflecht unauflöslicher Beziehungen zwischen den Personen, die sich in ihren Worten und Taten doch so ganz anders gaben.

Welches aber sind diese Mittel, mit denen der Komponist eine zweite Geschichte neben der des Librettos erzählt – jene nämlich, die die Personen der Handlung ängstlich zu verbergen suchen? Da ist zuallererst die Wahl der Tonarten zu nennen, die sich im Lauf des 18. Jahrhunderts zu Bedeutungschiffren verfestigt hatten. Kein Komponist wäre in dieser Zeit auf die Idee verfallen, ein Lamento anders als in c-Moll oder F-Moll zu vertonen oder eine pastorale Szene anders als in F-Dur. Mozart greift diese Chiffren auf, nicht ohne sie freilich in einen individuellen, nicht auf andere Werke übertragbaren Bedeutungszusammenhang zu stellen. Dass d-Moll in Don Giovanni die Tonart des Verderbens ist, mit der Mozart den Bogen von der Ouvertüre bis zur Schlussszene spannt, ist weidlich bekannt. Wie Säulen eines Proszeniums markiert das d-Moll den Rahmen, in der die Geschichte sich vollzieht. Und auch die weitere Verwendung dieser Tonart bestätigt ihren Zusammenhang mit Schuld und Verderben des Protagonisten, denn sie erscheint in der gesamten Oper nur noch ein weiteres Mal als Grundtonart – in dem Duett „Fuggi, crudele, fuggi!“ zwischen Donna Anna und Don Ottavio, in dessen Zentrum der Mord an dem Komtur steht. Die Verwunderung darüber, dass alle Arien des Don Giovanni in Dur-Tonarten stehen, weicht bei näherem Hinsehen freilich dem Staunen darüber, mit welcher Raffinesse Mozart diese Tonarten auf das d-Moll bezieht. In D-Dur etwa, der traditionellen Tonart des Krieges und der herrscherlichen Pracht, stehen vier Arien, die weder mit dem einen noch mit dem anderen in Beziehung zu setzen wären: Leporellos Registerarie, Donna Elviras „Ah fuggi il traditor“ und Don Giovannis Ständchen „Deh vieni alla finestra“. Alle diese Arien handeln, aus jeweils unterschiedlicher Perspektive, von den Verführungskünsten des Wüstlings; Mozart löst die Tonart aus ihrem altvertrauten Bedeutungszusammenhang und gibt ihr einen neuen, individuell auf das Drama bezogenen Sinngehalt. Das D-Dur stellt hier gleichsam die irdische Kehrseite des d-Moll, die Vorgeschichte des höllischen Strafgerichts dar.
Auch die Verwendung des A-Dur enthält eine Botschaft an den Hörer, die der traditionellen Bedeutung der Tonart neue, unmittelbar auf das Drama bezogene individuelle Facetten hinzufügt. In seinen 1784 veröffentlichten Ideen zur einer Ästhetik der Tonkunst hatte Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791) A-Dur so charakterisiert: „Dieser Ton enthält Erklärungen unschuldiger Liebe, Zufriedenheit über seinen Zustand, Hoffnung des Wiedersehens beim Scheiden des Geliebten, jugendliche Heiterkeit und Gottesvertrauen“. Schubart hatte damit auch die Tradition der opera seria beschrieben, in der Liebeserklärungen edler junger Männer häufig in A-Dur standen. Mozart selbst hatte diese Tradition etwa in Lucio Silla, 135 (1772) fortgeführt, in dem sich der Primo uomo Cecilio von seiner Geliebten Giunia mit der A-Dur-Arie „Pupille amate“ vermeintlich für immer verabschiedet, bevor er zur Hinrichtung geführt wird, und damit dokumentiert, dass er selbst in dieser Extremsituation die Regeln höfischer Contenance beherrscht. In Don Giovanni stellt Mozart diese Tradition auf den Kopf! In A-Dur steht das Duettino „Là ci darem la mano“ und das Terzett “Ah taci, ingiusto core” – das erste jener verführerische Angriff Don Giovannis auf Zerlinas Unschuld, dessen suggestiver Wirkung sich nicht nur Zerlina nicht entziehen kann; das zweite die schrecklichste aller denkbaren Liebeszenen – jene entwürdigende Situation, in der Donna Elvira glaubt, dass Don Giovanni zu ihr zurückgekehrt sei, während sie doch nur seine Stimme hört und Leporello in den Kleidern seines Herrn buchstäblich von der Bildfläche gezogen wird, damit dieser mit ihrer Zofe anbandeln kann. In beiden Fällen steigert Don Giovanni die Intensität seiner Werbung, wenn er von der Tonika in die spannungsreichere Dominante E-Dur wechselt. Schon durch die Wahl der Tonart allein macht Mozart sinnfällig, warum die Frauen Don Giovanni in Scharen erliegen; gleichzeitig destruiert und pervertiert er die Tonart der edlen, heiteren, unschuldigen Liebe und fordert den Zuschauer auf diese Weise zur Stellungnahme heraus. Denn ebenso wie Zerlina und Donna Elvira wider besseres Wissen dem Verführer erliegen, gerät auch der Zuschauer in den Sog der übernatürlichen Täuschung und muss sich Rechenschaft geben, wie ihm dies widerfahren konnte. Unvermutet, durch diese Tonart irregeführt, findet sich der Zuschauer in derselben Position wieder, in der er die vermeintlich leichtgläubigen Frauen wähnte. Unnötig zu erwähnen, dass A-Dur als Dominante sowohl zu D-Dur als auch d-Moll mit den Don Giovanni charakterisierenden Tonarten aufs Engste verbunden ist.

Ein zweites herausragendes Mittel der musikalischen Konstruktion des Dramas ist die Verwendung von „realer“ Musik als Grundlage des Geschehens, wie sie Mozart im ersten und zweiten Finale darstellt. Doch während im zweiten Finale die Musik auf der Bühne, das Harmonie-Musik-Ensemble aus Oboen, Klarinetten und Hörnern lediglich dazu dient, das Fest, bei dem Don Giovanni später sein Schicksal ereilen wird, musikalisch zu umreißen, entsteht die Handlung des ersten Finales aus der Bühnenmusik selbst. Diese Tanzszene, in der drei verschiedene Bühnenorchester drei rhythmisch verschiedene Tänze übereinander schichten, ist in der Operngeschichte des 18. Jahrhunderts einmalig. Und Mozart belässt es nicht bei diesem musikalischen Spiel mit dem gemessenen 3/4-Rhythmus des Menuetts, dem bewegteren 2/4-Rhythmus des Kontratanzes und dem lebhaften 3/8-Rhythmus des deutschen Tanzes, das mit seinem Durcheinander an Taktschwerpunkten für sich genommen schon spektakulär genug wäre. Für ihn symbolisieren diese drei Tänze auch drei unterschiedliche soziale Ebenen: Das Menuett, von Donna Anna und Don Ottavio getanzt, steckt den höfischen Rahmen ab; der Deutsche, zu dessen Schritten Leporello den Bauern Masetto vom Ort des Geschehens weglocken soll, ist ein Tanz der Unterschichten; und der Kontratanz - der alte englische Country-Dance, der am französischen Hof zum Contredanse mutiert war – symbolisiert die Durchlässigkeit zwischen „oben“ und „unten“ und wird, wie sollte es anders sein, von Don Giovanni und Zerlina getanzt. Diese drei Tänze bilden die musikalische Plattform für jene Gesprächsfetzen der sechs Protagonisten, die ohne das rhythmische Gerüst auseinander brechen würden. Darüber hinaus erweist sich das wachsende rhythmische Durcheinander der drei Tänze als ein musikalisches Zeichen für die zunehmende Auflösung der Ordnung, die ihren Höhepunkt erreicht, als Zerlina um Hilfe ruft und mit dem abrupten Wechsel der Tonalität vom stabilen G-Dur des Menuetts zum Dominant-septakkord von Es-Dur – der Tonart der betrogenen Donna Elvira – das Chaos überhand nimmt. Es ist allein die Musik, die aus der Szene von Don Giovannis gescheitertem Versuch, ein Bauernmädchen auf einem eigens zu diesem Zweck veranstalteten Fest zu verführen, ein Sinnbild für die Zerstörung der gesellschaftlichen Ordnung macht.
Bei den Arien schließlich zeigt sich am stärksten das psychologische Einfühlungsvermögen eines Komponisten, der seine Geschöpfe niemals durch die Musik denunzierte, der auch in ihrer größten Verstrickung noch um Verständnis für ihre Handlungsweisen warb, der aber dennoch deutlich machte, woran diese Verstrickung bestand. Es ist dies das dritte jener musikalischen Mittel, mit denen Mozart der Geschichte vom Untergang des Wüstlings Facetten hinzufügte, die der Text nicht unbedingt vorsah. Vergegenwärtigt man sich etwa die Arien der Donna Anna, so wird deutlich, wie Mozart einen Charakter jenseits des Textes allein durch das musikalische Material und seine Verarbeitung konstruiert. In ihren Worten ist Donna Anna nichts als die zutiefst in ihrer Ehre verletzte, für sich selbst und für ihren Vater nach Rache verlangende, ansonsten jedoch moralisch einwandfreie Edeldame. Allenfalls ihre Passivität, wenn es darum geht zu handeln, oder ihre Gegenwehr im Hinblick auf eine Zukunft in der Geborgenheit der Ehe mit Don Ottavio mutet angesichts ihrer zur Schau getragenen wütenden Entrüstung seltsam an. Das Psychogramm, das Mozart in ihren Arien entwarf, ist weit vielschichtiger als das des Librettos! Denn ihr Entsetzen bei der Erkenntnis, wer der Verführer im dunklen Zimmer war, müsste wohl nicht so abgrundtief ausfallen, hätte der Unbekannte nichts als Abscheu in ihr erregt. Die aufgewühlten Sechzehntel-Triolen in den Violinen, die sich bald zu gehetzten, von Pausen unterbrochenen Sechzehntel-Gruppen wandeln, das stufenweise aufwärts strebende, dreimal wiederholte Anfangsmotiv, die unzusammenhängend und ungeordnet hervorgestoßenen Satzbruchstücke im weiteren Verlauf – all das sind musikalische Formulierungen eines hysterischen Anfalls, mit dem Mozart anzudeuten versteht, dass Donna Anna hier nicht nur vor einem verwerflichen Unhold, sondern auch vor sich selbst erschrickt. Dass sie die Contenance, die ihr Stand von ihr verlangt, nicht nur verlieren, sondern auch bewahren kann, macht dagegen ihre letzte Arie „Non mi dir, bell’idol mio“ deutlich, mit der sie Don Ottavio, diesen entsagungsvollsten aller zärtlichen Liebhaber, auf Abstand hält. Ein wenig zu abgezirkelt ist freilich die Rondoform, ein wenig zu kalkuliert ist die elegante Selbststilisierung in den Koloraturen, als dass sie die Bitte um Aufschub der Ehe aus Anstand angemessen sein könnte. Wiederum ist die Musik, die zu verstehen gibt, wie hart Donna Anna gegen die Wünsche des Körpers kämpfen muss, die Don Giovanni mit dem nur äußerlich erfolglosen Angriff auf ihre Jungfräulichkeit bloßgelegt hat.

Dieser Don Giovanni aber, der einzige der Protagonisten, der drei Arien, das heißt mehr zwar als jede andere Rolle, zu singen hat, dieser Verursacher aller Verstrickungen, der in den Ensembles seine ganze Faszination entfaltet, bleibt in jenen drei Arien aber gleichsam gesichtslos. Don Giovannis Arie, das atemlos „Fin ch’han dal vino“, fegt wie ein Irrwisch ungebremster Sinneslust durch die Handlung und ist am Ende, bevor der Zuschauer begriffen hat, dass hier der Titelheld seinen ersten Soloauftritt hatte. Die zweite Arie „Deh vieni alla finestra“ ist ein Ständchen konventionellster Machart, das weder dem Edelmann noch dem Verführer angemessen scheint – für eine Zofe gerade gut genug, aber nichts, was der eigentlichen Aufgabe einer Arie, den Charakter oder die Seelenlage einer Figur musikalisch auszubreiten, in irgendeiner Weise nahe käme. Und seine dritte Arie singt Don Giovanni gar in den Kleidern Leporellos – und auch im plappernden buffa-Ton des Dieners, der nur dann zu ironischer Dignität wechselt, wenn der vermeintliche Diener seinen vermeintlichen Herrn beschreibt. Dies ist vielleicht das raffinierteste Kunststück eines Komponisten: Die innere Leere des Wüstlings durch eine Musik abzubilden, die ihm jeglichen individuellen Charakter, jegliche Rechtfertigung seines Tuns verweigert.
Vergleicht man Mozarts Oper Don Giovanni mit anderen Opern der Zeit, so wird das Ausmaß seiner Andersartigkeit deutlich. Zwar setzten sich Ensembles – das dramaturgische Kriterium der buffa – zunehmend auch in der opera seria durch, während die großen Soloszenen mit Accompagnato-Rezitativ und Arie der seria die opera buffa eroberten. Zwar veränderten Einflüsse der französischen Oper wie etwa die Chorszenen, die musikalischen Höllenspektakel, die Divertissements das Gesicht der italienischen und umgekehrt das neue Interesse an den Arienformen die französische Oper. Doch blieben diese Veränderungen zumeist im Äußeren der Dramaturgie verhaftet. Mozart hingegen erfand einen musikalischen Ton, der das Verhängnisvolle im Komischen und das Burleske im Tragischen hörbar machte, der die Paradoxien des Lebens nicht glättete, sondern aufdeckte. Die Liebe zu den Menschen wie zu seinen musikalischen Geschöpfen hinderte ihn daran, zum Zyniker zu werden. Don Giovanni hätte sonst alle Chancen gehabt, der erste negative Opernheld der Musikgeschichte zu werden. So aber sollte es dem 19. Jahrhundert vorbehalten bleiben, einen solchen zu erfinden…
A N L A G E :
Giovanni Bertati (1735-1815)
Jean-Baptiste Poquelin, genannt Molière (1622-1673)
Tirso de Molina (1579-1648)
Zur Premiere im Grand Théâtre de Provence / Aix-en-Provence / im Rahmen des Festival d’Aix-en-Provence 2025 am 4. Juli 2025:
Übertretungen und Perversionen…
Am Anfang und am Ende des Dramas ein Kommandant, alias Don Giovanni, der nie aufhört zu sterben. Das Thema des Lebensende und seiner Medikalisierung zieht sich durch eine Inszenierung, die von ethischen und bioethischen Fragen geprägt ist. Die ständig bewegten Schleier dienen als schwarz-weiße Videoprojektionsfläche „Tal Yarden“, die die Gesichter und Körper der von Don Giovanni traumatisierten Frauen einfängt. Wie eine halluzinatorische und morbide Illustration der Katalog-Arie, wirkt die Atmosphäre doch sehr beunruhigend trotz der zu einer echten Modenschau zusätzlich präsentierten Bilder: Während das Licht des britischen Lichtbildners James Farncombe präzise für eine gewollte Bühnenspaltung sorgt.

In dieser Interpretation scheinen die Personen wie eine lebensgroße Schachfigur auf einem makabren Schachbrett zu spielen. Der junge britische Regisseur Robert Icke bietet eine psychologische Interpretation am Rande der Psyche, in der Don Giovanni direkt mit seinem alternden Image und seinem Tod konfrontiert wird. Das Vokalensemble reagiert geschlossen, wobei fast jeder Protagonist zwei Arien singt. Im Orchestergraben gibt der schon legendäre britische Dirigent Sir Simon Rattle klare, manchmal eindringliche musikalische Anweisungen in Osmose und Dialog mit der Bühne.
Jeder sucht sein Double…
Der italienische Bariton Andrè Schuen ist ein sehr düsterer Don Giovanni, charismatisch in seiner Verführungskunst und grenzwertig in seiner Manipulation. Die Figur ist innerlich und äußerlich zwiespältig, unfähig in ihrer Ambivalenz zu sagen: Wer sie wirklich ist! Sein äußeres Double ist niemand anderes als Il Commandatore, ein weißes Gespenst, das die Bühne heimsucht, real oder eingebildet. Seine körperliche Geschmeidigkeit – unterstützt von einem Stuntman, der den endgültigen Fall in einem denkwürdigen Sturz ankündigt – führt ihn von einer Seite des Lebens zur anderen, zwischen resonanter Kraft und grenzenlosem Wahnsinn. Sein glutgleiches Timbre ist kurz davor, zu Asche zu werden, ein libertinöses Testament, bis zuletzt vom Tod unterzeichnet. An seiner Seite, wie ein zerbrochener Spiegel, drängt sich der polnische Bassbariton Krzysztof Baczyk als sein Diener Leporello auf: Große Statur und stimmliche Eleganz! Er ist das feste Fundament des Vokalensembles, der leichte Kit des komischen Geistes! Die edle Rolle der Donna Anna wird der südafrikanischen Sopranistin Golda Schultz anvertraut, die sowohl Donna Elvira als auch Don Ottavio widerspiegelt. Ihre samtweiche Stimme ruft das Unerträgliche hervor, während ein kleines Mädchen immer wieder auf der Bühne erscheint. Wenn wir die Anwesenheit dieses verstörenden Statisten interpretieren wollen: Könnten wir sagen, dass sie ihr inneres, unheilbar verletztes Kind darstellt! Die schon legendäre tschechische Mezzo-Sopranistin Magdalena Kŏzená interpretierte eine herzzerreißende aber noch immer liebende Donna Elvira, obwohl diese wunderschöne Stimme im Laufe der Jahre natürlicher Weise schon etwas angegriffen ist, waren jedoch ihre wilden explosiven dramatischen Ausbrüche einfach hinreißend und umwerfend. Vom musikalischen und schauspielerischen wohl unerreicht! Die Rolle des Don Ottavio hat der samoanische Tenor Amitei Patti mit viel innerer Überzeugung als treuer Liebender interpretiert und auf keinen Fall als Schwächling, wie er leider noch oft auf der Bühne gezeigt wird. Das anmutige Hochzeitspaar mit der quirligen Zerlina, gesungen mit wunderbaren sicheren Koloraturen von der neuseeländischen Sopranistin Madison Nonoa und einem zärtlich-mürrischen Masetto traumhaft interpretiert von dem jungen polnischen Bass Pawel Horodyski.

Die andere prominente Rolle ist die des Il Commendatore, der alternde Doppelgänger von Don Giovanni, der auf der Bühne sehr exponiert ist. Der britische Bass Clive Bayley spielt diese Rolle mit Zurückhaltung und geisterhafter Kraft, irgendwo zwischen Diesseits und Jenseits. Ohne zu übertreiben, spricht er Don Giovanni an, als ob er Hand in Hand mit viel Mitgefühl ihm die allerletzte Reise erleichtern möchte.
Kommandant entlassen…
An der Seite der berühmten Phalanx, das Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks agiert Rattle wie ein Künstler in seinem Atelier, Hand in Hand mit dem Dirigenten. Seine Gesten sind energisch, gewandt und perkussiv. Die Wahl des Tempos prägt – um jeden Preis – Mozarts weise Leichtigkeit. Die Akzente der einzelnen Abschnitte, basierend auf akribischer Dynamikarbeit, scheinen den Bühnenboden zu durchbrechen und die Stimmkörper der Protagonisten einzufangen. Der Dirigent lässt im Orchestergraben die Partitur aus ihren Kontrasten heraus vereinen und löst so die Quadratur des Kreises, die wohl ein Argumenten-armer Leporello heraufbeschwören hätte können?
Eine weitere bemerkenswerte Tatsache auf der musikalischen Seite: Der Estonian Philharmonic Chamber Choir verstärkt das „Wenn“ des Komturs, um diesen Moment des Wechsels in die Fantasie zu einer echten Überraschung zu machen, nicht nur Don Giovanni und Leporello, sondern für das gesamte Publikum!
Dieses Doppelthema, das insbesondere durch die Anwesenheit eines Kindes in einer zweideutigen Szene verstörend wirkt, da es sich auf den Teufel bezieht, wird ständig durch die menschliche Gesänge vereint, die durch die erschreckende Reinheit der Szenografie bloßgelegt werden. Das Publikum nimmt diesen Vorschlag mit der Verwirrung auf, die das Durchqueren eines zerbrochenen Spiegels mit sich bringt.