Engelbert Humperdinck - Music for the Stage, IOCO CD-Rezension, 17.02.2021

Engelbert Humperdinck - Music for the Stage, IOCO CD-Rezension, 17.02.2021
Humperdinck - Music for the Stage NAXOS CD © NAXOS
Humperdinck - Music for the Stage NAXOS CD © NAXOS

Engelbert Humperdinck  -  Music for the Stage

Das Wunder - Die Wallfahrt nach Kevlaar - Lysistrata -  Naxos 8.574177

Andrea Chudak - Sopran, Ruxandra Voda von der Plas - Contralto, Harrie van der Plas - Tenor, Robert Bennesh - OrgelMalmö Opera Chorus and Orchestra, Dario Salvi

von Julian Führer

Humperdincks Bühnenmusik - Mehr als „Abendsegen“ und Knusperhäuschen

Vor fast hundert Jahren, am 27. September 1921, starb Engelbert Humperdinck. Sein Talent, einerseits für hochkomplexe Orchesterapparate zu schreiben, andererseits aber Volkslieder in seine Stücke hineinzuweben oder volksliedhafte Stücke zu erfinden, die bald viel populärer waren als der Komponist selbst, machte ihn vor dem Ersten Weltkrieg zu einer Berühmtheit. Die Breitenwirkung mancher seiner Stücke ist allenfalls mit dem Erfolg der bekanntesten Nummern aus Webers Freischütz zu vergleichen. Stücke wie der „Abendsegen“ aus Hänsel und Gretel, „Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh“, „Ein Männlein steht im Walde“ (Melodie nicht von Humperdinck, aber von ihm popularisiert) und „Ri-ra-rutsch, wir fahren mit der Kutsch‘“ sind mit Sicherheit deutlich bekannter als der Name ihres Komponisten.

Engelbert Humperdinck  -  Music for the Stage

Die musikalische Moderne blieb ihm fremd. 1882 in Bayreuth an der Uraufführung von Richard Wagners Parsifal maßgeblich beteiligt, unterrichtete er Siegfried Wagner in Komposition. Das Humperdinck und seinem Schüler teure Genre der Märchenoper konnte nach dem Ersten Weltkrieg aber keine Erfolge mehr feiern – mit einer Ausnahme: Hänsel und Gretel, Humperdincks größter und unbestrittenster Erfolg, 1893 in Weimar von keinem Geringeren als Richard Strauss uraufgeführt und sofort von Hermann Levi, Felix Mottl und anderen auf weitere Bühnen gebracht (und unter anderem von Cosima Wagner inszeniert), ist heute noch ein fester Baustein im Repertoire der Opernhäuser, leider als ausschließliche Kinder- und Weihnachtsoper missverstanden. Eine neuerschienene CD nimmt sich nun die weniger bekannten Werke Humperdincks vor.

Die Heirat wider Willen ist eine komische Oper in drei Akten nach dem Stück Les demoiselles de Saint-Cyr von Alexandre Dumas dem Älteren, die Partitur wurde 1905 gedruckt. Zunächst gut aufgenommen, verschwand diese Oper dennoch schnell von den Spielplänen. In der hier präsentierten Einleitung zum 2. Akt münden recht üppige Bläsersätze mit reichem Harfeneinsatz in Streicherfiguren, wie man sie auch aus der Waldszene von Hänsel und Gretel kennt. Ein rhythmisches Motiv ertönt in den Fagotten (ein Instrument, das Humperdinck auch in Königskinder sehr gerne zur Charakterisierung zwielichtiger Gestalten nutzte). Dann ist wieder das Bläsermotiv zu hören und anschließend eine leise Überleitung in die erste Szene, die mit Trommelwirbeln angekündigt wird – es fehlt natürlich die eigentliche Szene, eigentlich fehlt wohl auch ein Konzertschluss, der dieses schöne Stück Musik vielleicht eine Minute vor dem Beginn der ersten Szene zu einem stimmigen Ende brächte.

Es folgt die Bühnenmusik zu Shakespeares Der Kaufmann von Venedig von 1906. Sie entstand auf Wunsch von Max Reinhardt, mit dem dies die erste Zusammenarbeit war, die prompt zu einem großen Erfolg führte. Sehr kurz (sicherlich zu einem sich öffnenden Vorhang passend) ist eine von der Tenorstimme von Harrie van der Plas vorgetragene italienische Barcarole „O pescator dell’onda“. Es folgt, begleitet von einer Harfe und eigentlich im Stück erst am Ende der zweiten Szene, „Ging ein alter Freiersmann, klopft sogleich ein Neuer an“, wieder von der Tenorstimme sicher intoniert. Zu Beginn des zweiten Aktes hört man das folgende Stück, eine Sarabande, entsprechend in einem schreitenden Rhythmus (dem Auftritt von Holzhacker und Besenbinder in Königskinder nicht fern). Es folgen drei Trompetensignale, die an verschiedenen Stellen des Stückes zu hören wären, dann ein Maskenzug (Flöte und Harfe, dazu Kastagnetten und Schellen und viel Horn). Auch wenn man keine Erläuterungen dazu hat und das Stück nicht kennt, hört es sich an, als würde dazu der Tag anbrechen und sich die Bühne langsam mit Menschen füllen.

Humperdinck - Music for the Stage NAXOS CD © NAXOS
Humperdinck - Music for the Stage NAXOS CD © NAXOS

Im folgenden „Sagt, woher kommt Liebeslust“ mischen sich die Stimmen von Andrea Chudak und, mehr im Hintergrund, Ruxandra Voda van der Plas mit dem Opernchor von Malmö. Der wogende Chor lässt Anklänge an „Ha, welche Nacht“ aus Franz Schrekers gleichwohl späteren Die Gezeichneten, aber auch an den ersten Akt von Gounods Faust ahnen. Schließlich rein orchestral ein Liebeslied, dazu eine Introduktion wie der Beginn von Walthers Preislied aus Wagners Meistersingern, aber in den dritten Akt Siegfried verlegt: Erst ein Durakkord, dann Harfen, ein durch Verminderung entstehender Mollakkord, dann Harfen, nach dem dritten Akkord eine neue musikalische Situation, in den tiefen Streichern dann eine Art Waldweben, über dem die Violinen eine Melodie ausbreiten. Wieder hört es sich fast wie im Märchenwald an, wie dort auch setzt Humperdinck eine Solovioline zum Orchester ein. Die Oboe wird von der Klarinette abgelöst, ein Kniff, den er gerne anwendet und den er von Richard Wagner übernommen hat. Das Liebeslied ist mit Abstand das längste Stück im Kaufmann von Venedig (über zehn Minuten von 20 Minuten insgesamt). Es fehlt natürlich die Bühne dazu; die musikalischen Farben sind sehr plastisch, dennoch ist ohne die Schauspielszenen dazwischen die Aneinanderreihung der Stücke etwas unvermittelt.

Auch Das Wunder, eine große Pantomime in drei Bildern, war eine Idee von Max Reinhardt. Humperdinck schrieb dazu eine Musik, die 1911/1912 gedruckt wurde.  Die von Adolf Lotter eingerichtete Suite wurde hier zum ersten Mal überhaupt eingespielt. Zunächst eine Introduktion (die Orgel allein). Auch hier fällt ein Anklang an Gounod auf (die Scène de l’église im Faust), vielleicht auch an Jules Massenet (Les Érinnyes, Prélude). Prozession und Kindertanz, das nächste Stück, wird von einem fast barock anmutendem Bläsersatz eröffnet. Man hört die Streicher, vor allem im tiefen Register, doch dann wird auf einmal Hänschen klein eingebaut, aber diesen Volksliedton beherrscht Humperdinck nunmal wie kein Zweiter, auch die folgende Übernahme und Weiterentwicklung einer zunächst banalen Phrase durch ein großes Orchester. Eine Bankettszene folgt, im Dreivierteltakt ist passagenweise eine Solovioline zu hören, die eine Sequenz aus Beethovens Klaviersonate op. 31,1 übernimmt (aus dem dritten Satz in d-Moll), die dann vom Orchester weitergeführt wird. Kleine Trommel und Flöten bringen einen eher kurzen Marsch.

Weihnachtsszene und Finale des ersten Aktes hingegen gehen volksliedhaft los, doch dann gerät das gesamte Orchester ins Schwelgen. Die Ouvertüre zu Hänsel und Gretel kommt einem in den Sinn – „Es ist verteufelt schwer – das Hänselchen“, wie der Uraufführungsdirigent Richard Strauss es in einem Brief an Humperdinck vom 1. November 1893 ausdrückte. Man hört viel Nähe zum Schluss des Parsifal (die perfekt beherrschte Kunst des Decrescendo eines großen Orchesters sowie die Behandlung von Posaunen und Harfen). Ein Stück voller Orchesterglanz, raffinierter Instrumentation und melodischer Vielfalt, ein spätromantischer Rausch erster Güte, noch kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieg komponiert, unter Benutzung gewisser kompositorischer Tricks aus Lohengrin und Hänsel und Gretel. Bemerkenswert, mit welcher Brillanz das Malmö Opera Orchestra hier spielt. Dario Salvis Dirigat ist geschmeidig und beweist viel Spürsinn für Humperdincks Klangwelt. Auch hier fragt man sich doch manchmal, worum es im Stück wohl gerade gehen mag – es handelt sich schlicht um Bühnenmusik, die aneinandergereihten Stücke sind nicht als Aneinanderreihung gemeint.

Mit der Chorballade Die Wallfahrt nach Kevlaar nach Heinrich Heines Text gelang Humperdinck ein Erfolg. 1888 unternahm er eine Überarbeitung, hier aber hören wir die Urfassung von 1878 als Ersteinspielung. In der für Heine typischen, leicht spöttelnden Diktion heißt es: „Am Fenster stand die Mutter, / Im Bette lag der Sohn. / ‚Willst du nicht aufstehn, Wilhelm, / Zu schaun die Prozession?‘“ Vielleicht liegt es an der Autorschaft des nach 1933 verfemten Dichters, dass dieses Werk seither in Vergessenheit geraten ist. Der Chor steht gewissermaßen in der Rolle des Erzählers, Andrea Chudak und Harrie van der Plas übernehmen die Rollen von Mutter und Sohn. Wenn der Chor von der Prozession singt, erklingen Trompetenfanfaren. „Gelobt seist du Marie!“, heißt es in Heines Ballade – Humperdinck war gerade unglücklich in eine Marie Streicher verliebt gewesen und legt hier sehr viel Emphase in die Betonung des Namens und nötigt den Chor zu einer langen Fermate…

Bei Heine und in der Vertonung ist es Marie (die Gottesmutter), die den Sohn durch den Tod von seiner Liebesqual erlöst. Das Stück ist bei weitem die früheste Komposition auf dieser CD. Humperdinck war noch keine 25 Jahre alt, war Richard Wagner noch nicht begegnet, aber die Orchesterbehandlung ist schon sehr gekonnt. Humperdinck beherrscht bereits charakteristische Kniffe wie die Eintrübung der Klangfarben, dissonante bzw. sehr hohe und sehr tiefe Töne, wenn existentielle Themen wie der Tod ins Spiel kommen. Auch die ganz allein oder mit minimaler Orchesterbegleitung singende Sopranstimme in einer absteigenden Phrase begegnet später in Hänsel und Gretel und Königskinder wieder. Dieses Werk war Humperdincks erster großer Erfolg. Marie Streicher sollte dennoch einen anderen heiraten.

Abschließend ist noch die Bühnenmusik zu Lysistrata von 1908 zu hören, abermals auf Wunsch von Max Reinhardt geschrieben. Humperdinck wählte eine kleine Besetzung: Holz, Hörner, Schlagzeug (mit Harfe). Die Vorlage lieferte die Komödie des Aristophanes von ca. 400 v. Chr. über die Frauen Athens, die sich ihren Männern verweigern, um so von ihnen einen Friedensschluss mit Sparta zu erzwingen. Beim Festzug, dem Gesang ‚Komm, selige Trunkenheit‘ und dem Schlusstanz merkt man am ehesten die Gelegenheitskomposition, doch scheint auch diese Komposition Humperdinck, der gleichwohl kein Schnellschreiber war, keine Mühen bereitet zu haben.

Humperdinck schrieb viel Kammermusik und über hundert Lieder, Schätze, die es oft noch zu heben gilt. Es wäre zu wünschen, dass die hundertste Wiederkehr seines Todestages recht viele Orchester und Opernhäuser dazu brächte, die vielen Kostbarkeiten, die dieser Komponist hinterlassen hat, aus der Versenkung zu holen und wieder Stücke wie Die Heirat wider Willen, Gaudeamus, Dornröschen oder auch die manchmal im Repertoire auftauchenden und ebenso entzückenden wie erschütternden Königskinder zu spielen. Vorliegende CD ist ein flammendes Plädoyer für das Werk dieses Komponisten.

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