Kampflinien - Ein hoher Richter verirrt sich ...., IOCO Buch-Rezension, 14.03.2019

Kampflinien - Ein hoher Richter verirrt sich ....,  IOCO Buch-Rezension, 14.03.2019
Kampflinien von Hans-Günter Melchior
Kampflinien von Hans-Günter Melchior

Kampflinien - Roman von Hans-Günter Melchior

- Das Gleichgewicht der Welt wiederherstellen -

Taschenbuch 9,35 €,   Kindle Edition unlimited 8,74 €,   ISBN 9781719809610

von Albrecht Schneider

Das ist ein düsteres Buch. Ein hoher Richter verirrt sich zwi­schen die Kampflinien von Berufsethos, Gewissen und der auseinanderfallenden und zuletzt gewalttätigen Bürgerschaft einer Großstadt. Diese steht als Muster für eine Gesellschaft, die in ihren disparaten Auffassungen vom derzeitigen Aufenthalt in einem gelobten Land, oder den Wegen dorthin, nahezu sprachlos geworden ist, und deren Lager gleichsam zum Messer greifen, um die Bahn frei zu bekommen. Es ist die Erzählung von zivilisierten Menschen, welche die Welt auf ihre Weise besser machen wollen, dabei jedoch bedenkenlos alles das verraten oder zerstören, was sie erst zum Handeln und Denken im guten wie schlechten Sinn befähigte. Die zentralen Figuren gehören in des Autors düsterer Projektion einer weltweit enthumanisierten egoistischen Elite, welche sich um das Wohl und Wehe der Riesenzahl der Nichtprivilegierten auf unserem Erdball einen Teufel schert. Wahrlich eine Dystopie.

Die Linien sind gezogen. Eine trennt die zwei Seelen in der Brust des Richters Claus Rädlich: diese begehrt Gerechtigkeit und jene fordert das Walten des Rechts. Ein Dissens, ausgelöst durch den bevorstehenden Prozess wider einen Vatermörder. Der jüngere Mann hat in der Untersuchungshaft sich selbst penibel Rechenschaft über die Genesis der Tat abgelegt, ein dokumentiertes Geständnis, das keinesfalls zur Kenntnis des Gerichts gelangen soll, jedoch per Zufall eben jenem der Strafkammer vorsitzenden Richter in die Hände fällt.

Das Schreiben beginnt mit der Schilderung der Kinderjahre im Hause des Industriemagnaten Rolf Fatimer, eines herzkalten gierig geilen Kapitalisten par excellence, der, als Vater gefühllos und als Ehemann treulos, lediglich das betriebliche wie eigene Wohlergehen kultiviert. Die Aktien des Unternehmens sind im Besitz der Gattin und ihrer jüngeren Schwester, die er zwecks Machterhalt alsbald heiratet, nachdem erstere früh stirbt. Dem Knaben Jakob wird die Tante Annika zur zweiten Mutter, und diese innige Beziehung hat dann dunkle Stunden, sobald die Schübe einer angeborenen Nervenkrankheit die Frau niederstrecken. Deswegen bedient sich der sonst den Sohn völlig missachtende Vater unvermittelt seiner mit der Bitte, der Annika täglich ein gegen ihr Leiden äußerst wirksames Medikament, dem sie sich verweigert, heimlich in den Morgentrunk zu mischen. Nur auf dem Wege sei ihr zu helfen, beschwört er ihn.

Jakob gehorcht und tut, was befohlen, trotzdem stirbt Annika bald darauf. Nunmehr beschuldigt der alte Fatimer den Sohn, entgegen seiner Anweisung, nämlich wöchentlich, das Pulver täglich verabfolgt zu haben. Mithin sei er mit schuldig an der Tante Tod. Des Mannes diabolischer Plan, mit der Beseitigung der Gattin das gesamte Unternehmen zu erben, ist gelungen.

In Gewissensnot und gefühlsarmem Umfeld wächst Jakob zu einem ob Milieu und Trauma seelenkranken Mann, der trotz Studium und Erfolg als Journalist gleichermaßen mit sich und der Vergangenheit hadert. Als er zuletzt erfährt, ein halbkrimineller Apotheker habe seinerzeit dem Vater Arsenikpulver liefern müssen, erfasst er, was ihm angetan, wie er unwissend zum Mörder gemacht wurde. Gedanken an Rache verdrängen nachgerade die Skrupel vor einem Vatermord. Durch das zufällige Treffen mit einem früheren Kollegen Walter A., der inzwischen als Kopf eine rechtsradikale gewaltbereite Horde lenkt, gelangt er an eine Pistole, mit der er den Vater eines Abends erschießt.

Das erschöpfende Dokument einer gequälten und unschuldig-schuldigen Existenz erschüttert des Richters bislang unbeugsames Rechtsverständnis. Er schickt das Schriftstück zurück an den Urheber, ohne es in den Prozess, dem er vorsteht, einzuführen. Jakob Fatimer leugnet vor Gericht die Tat, die Indizien erweisen sich als schwach und folglich ist der Freispruch unabwendbar.

Hat der Richter der Welt Gleichgewicht wieder hergestellt, oder sie doch eher im Gleichgewicht gehalten, da sie durch eine Verurteilung des unschuldig-schuldigen Mörders Jakob Fatimer aus dem Gleichgewicht geraten wäre? Oder verliert eine Welt stets durch einen Mord das Gleichgewicht, oder erst, falls er ungestraft, ungesühnt bleibt? Oder gerät sie gerade dann aus der Balance, sollte keine Gerechtigkeit walten? Oder sind Gerechtigkeit und Recht zwei Welten, die wenig miteinander gemein haben, und die jede für sich ins oder aus dem Gleichgewicht zu bringen ist?

Das Buch des HG Melchior stellt diese Fragen nicht explizit, aber einerlei, ob man sie aus der moralischen, juristischen oder idealistischen Perspektive wahrnimmt, sie sind Handlungen und Personen immanent. Und mit ihnen ist zugleich ihre Gesellschaft gemeint. Deren Prinzipien, Normen, Gesetze werden im Fortgang dieser Geschichte demobilisiert.

Der scheinbare oder tatsächliche Dissens zwischen den beiden Prinzipien Recht und Gerechtigkeit, einer, der nicht einzig das Individuum, sondern nicht minder Gesellschaft und Politik umtreibt, bestimmt zunächst das Buch. Nach dem Ende des verlorenen Prozesses ist das Leben des Richters Claus Rädlich beschädigt. Gattin und Kinder haben ihn verlassen, die neue Geliebte Clara verantwortet den Tausch der Richterrobe gegen die eines Rechtsanwaltes. Er ist erpressbar geworden, indem Jakob Fatimer von des Richters Unterschlagung seines Bekenntnisses weiß und ihn jederzeit wegen Rechtsbeugung zu denunzieren vermag. Also wird er dem Juristen, der sich mächtig sträubt, den anwaltlichen Beistand abzwingen. Dessen bedarf der freigesprochene Vatermörder unbedingt. Haben ihn doch die wunde Seele und der Abscheu vor der eigenen bourgoisfeudalen Klasse zu einem fanatischen Sozialisten wer-den und in das Lager einer militanten linken Kampfgruppe überlaufen lassen. Jetzt sucht ihn die Polizei wegen sechs mit Kopfschüssen hingerichteter Rechtsradikaler als Tatverdächtigen. Rädlich paukt ihn aus der misslichen Situation. Zwischenzeitlich hat der nach einem reindeutschen Deutschland gierende Rechtsterrorist Walter A. mit seinen Kumpanen die ersten Flüchtlingsheime in Brand steckt.

Das ist das Tableau: Drei nach eigener Einschätzung Gerechte, die durch Kinderstube und weitere traditionelle Erziehungs- und Bildungsgebiete gewandert sind, streifen den bürgerlichen Habitus ab, den ihnen das Ich, der Stand, die Konvention und der Zufall angemessen haben. Sie wollen die Zustände korrigieren. Ein jeder handelt auf seine Weise und eigener Konditionierung gemäß in einem Szenarium, worin der Streit um Prinzipien lächerlich geworden ist, das Grundprinzip Gewalt allein die Stunde regiert, Kugel und Brandfackeln nunmehr als Argumente hin- und herfliegen, und wo das Gewissen längstens abgedankt hat zugunsten orthodoxer Dogmen, die hier ein chauvinistisches Reich und dort eine egalitäre Volksherrschaft verheißen.

Die trennenden ideologischen Linien werden zu Kampflinien, zwischen ihnen steht der Richter, eine hilflose Erscheinung mit seinem Denken, einen verträglichen Ausgleich zwischen Arm und Reich schaffe die Vernunft. Indessen schlagen die radikalen Rechten des Walter A. und die fanatischen Linken des Jakob Fatimer in der Stadt ihre Schlachten, zwischen ihren abgesteckten Terrains liegt das der Konservativen. Sie behalten Gewohnheiten und Gesten bei, als sei das Ganze lediglich ein Unwetter. Ein Betragen, das zerfallen wird wie ringsum die Häuser, auf deren Trümmergrundstücken die nationale Front ihr Burgen bauen möchte und die Volksfront ihr Utopia. Beide nach untauglichen Plänen. Der Richter Rädlich, nachdem er eher versehentlich den Kontrahenten Fatimer getötet hat, nimmt seine Hinrichtung durch dessen Genossen so fatalistisch hin, als könne er mit seinem Sterben Rechtsbruch und Tötung sühnen, und mithin käme die Welt wieder ins Gleichgewicht.

Die wenigen Momente der Mäßigung in den Lebensläufen der Männer, in ihren Konflikten mit sich selbst und in dem unerbittlichen Krieg der Fanatiker, die schaffen in dem Roman zumeist die Frauen: Gattinnen, Geliebte, Genossinnen und Freundinnen. Allesamt sind sie Schönheiten, und es scheint in der Tat so, als wolle der Autor mit den bezaubernden weiblichen Erscheinungen mitunter einen Lichtstrahl in die Finsternis seines visionären Romans fallen lassen. Sind es womöglich die Frauen, die das Gleichgewicht einer von den Männern aus der Balance gebrachten Welt wieder herzustellen vermögen? Oder doch Finis Urbis, Finis Mundi, Finis Temporum?

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