Bern, Kursaal Bern, Berner Symphonieorchester- Bernstein, Barber, Schostakowitsch, IOCO Kritik, 24.10.2018

Bern, Kursaal Bern, Berner Symphonieorchester-  Bernstein, Barber, Schostakowitsch, IOCO Kritik, 24.10.2018
Kursaal Bern © Kursaal Bern
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Kursaal Bern

Berner Symphonieorchester

Leonard Bernstein, Samuel Barber, Dmitri Schostakowitsch

Von Julian Führer

Die Konzerte des Berner Symphonieorchesters finden nicht immer im Stadttheater statt, sondern im sogenannten Kursaal jenseits der Aare. Der ortsunkundige Besucher findet sich in einer ruhigen Wohngegend wieder und steht auf einmal vor dem Casino. Im Foyer tönt leise Jazzmusik aus Lautsprechern, Werbemonitore versprechen „aufregende Momente“ – doch die Musik ist nicht gemeint, gezeigt werden vielmehr Roulettekugeln und Spielkarten. Und doch ist hier der Konzertsaal.

Das Programm, das Xian Zhang am 19. Oktober 2018 dirigieren sollte, war sehr klassisch aufgebaut: eine Ouvertüre, ein Konzert, eine Symphonie. Allerdings war das früheste Werk auf der Liste erst 1937, das jüngste 1957 aufgeführt worden. Es stimmt hoffnungsvoll, dass der Saal auch ohne Beethoven und Brahms zu etwa 80% besetzt war. Die Dirigentin musste sehr kurzfristig absagen, und so musste kaum 24 Stunden vor dem Konzert ein Einspringer gefunden werden, der nur noch die Generalprobe zur Verfügung hatte und ein anspruchsvolles Programm mit nicht eben häufig gespielten Stücken zu übernehmen in der Lage war. Glücklicherweise konnte Michael Sanderling gewonnen werden, der dem Berner Symphonieorchester zudem durch Dirigate in jüngerer Zeit bereits bekannt war.

Berner Symphonieorchester © Andreas Greber
Berner Symphonieorchester © Andreas Greber

Das Programm hatte verschiedene biographische Bezüge. Leonard Bernstein und Samuel Barber kannten sich untereinander, und Bernstein unternahm 1959 mit dem New York Philharmonic eine Tournee in die Sowjetunion, bei der Werke von Barber gespielt wurden, aber auch die fünfte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, der obendrein anwesend war. Alle drei Komponisten waren in ihrer Klangsprache der klassisch-romantischen Tradition verhaftet, die sie je auf ihre eigene Weise weiterentwickelten. Auf diese Weise waren die Bezüge nicht nur biographischer, sondern auch musikalischer Natur.

Die Ouvertüre zur Oper Candide von Leonard Bernstein dauert etwa vier Minuten, umfasst aber 47 Partiturseiten. Michael Sanderling bestieg das Podium und ließ das Orchester einsetzen, als das Publikum noch kaum zur Ruhe gekommen war. Die Musik hält das ohne weiteres aus. Die Violinen waren zu Beginn (allegro molto con brio!) nicht ganz perfekt aufeinander abgestimmt, doch mag dies dem Tempo und den besonderen Umständen geschuldet sein. Sanderling dirigierte mit großem Taktstock und sehr plastisch, er war (mit Erfolg) bemüht, trotz des fast rasenden Tempos das Orchester zusammenzuhalten. Die Hörner sitzen auf diesem Podium mit dem restlichen Blech eine Stufe höher als Holz und Streicher, so dass sie sehr präsent waren. Ansonsten stimmte die Klangbalance, und das Publikum war schnell gefesselt.

Michael Sanderling © Marco Borggreve
Michael Sanderling © Marco Borggreve

Für das Cellokonzert op. 22 a-Moll von Samuel Barber konnte Christian Poltéra gewonnen werden, dem man die Vertrautheit mit dem Stück anmerkte. Die enormen technischen Schwierigkeiten dieses 1946 uraufgeführten Konzerts, das Barber für die Virtuosin Raya Garbousova schrieb, scheinen ihm keine Schwierigkeiten zu bereiten. Gerade im langsamen Mittelsatz erinnern manche Passagen an die langsamen Zwischenspiele und das (später komponierte) erste Cellokonzert Schostakowitschs. Im ersten Satz gestaltet Barber einen intensiven Dialog zwischen Soloinstrument und erster Flöte, im zwei Satz (Andante sostenuto) mit der Oboe. Im Finalsatz ist das Holz weiterhin ein wichtiger Partner des Solisten, jedoch ist kein Instrument mehr führend. Das aufmerksame Publikum dankte mit viel Applaus, für den sich Christian Poltéra mit der Sarabande aus Bachs erster Cellosuite in G-Dur revanchierte.

Die fünfte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch op. 47 wurde 1937 uraufgeführt, mithin zur Zeit der stalinistischen ‚Säuberungen‘, die zur Ermordung unzähliger Menschen führten und auch Gönner und Beschützer des Komponisten trafen. Als Schostakowitsch wegen seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk in einem langen Artikel in der Prawda angefeindet wurde, zog er seine vierte Symphonie op. 43 nach bereits angekündigter Uraufführung zurück – sie sollte erst 1961 im Konzertsaal erklingen. Es ist nicht ganz klar, ob seine „Fünfte“ ein Einknicken vor den Machthabern ist, eine versteckte Auflehnung oder ohne Bezüge zu den politischen Ereignissen der Zeit entstand.

Nach der Pause trat der Dirigent auf, verbeugte sich und nahm sich sehr lange Zeit, um im Saal absolute Ruhe und auf dem Podium volle Konzentration zu haben. Die thematische Struktur des ersten Satzes (moderato) wurde klar vorgeführt. Ein Flötensolo über ruhigen langen Streichernoten lässt bereits den ersten Satz der „Leningrader“ Symphonie (Nr. 7) erahnen. Sehr oft ist in der Partitur morendo notiert, Bögen brechen ab, fallen in sich zusammen. Der Einsatz des Klaviers fällt auf – gerade mit dem Einsatz des Klaviers in der Symphonik hatten sich Komponisten dem stalinistischen Vorwurf des Formalismus ausgesetzt. Es verschwindet dann aus der Partitur, nur an einer fff-Stelle im dritten Satz unterstützt es einen Tutti-Akkord, und im Finale hämmert es als Verdoppelung der Violinen mit und hat keine einzige ‚eigene‘ Note mehr. Das düstere d-Moll wird stellenweise zum noch fahleren h-Moll moduliert.

Im Allegretto greift Schostakowitsch dann zur Zirkusmusik, einem Mittel, das er noch oft verwenden sollte. Das Orchester scheint fröhlich, gleichzeitig gerät die Balance etwas aus den Fugen, die kleine Trommel ist zu laut, das Blech blökt, das Xylophon jagt durch die Noten, und wie später in der achten Symphonie bricht die Fröhlichkeit jäh ab.

Abermals setzte Michael Sanderling eine lange Pause zwischen dem zweiten und dem dritten Satz (Largo). Diese zwölf Minuten Musik wurden bei aller Langsamkeit mit äußerster Spannung musiziert, was das Publikum mit atemloser Stille erwiderte. Flirrende Violinen, dazu Celli und Bässe (abermals morendo), dann ein Oboensolo – ein Stück von bewegender Schönheit und großer Traurigkeit. Das Verdämmernlassen dieses Satzes in Harfe und Celesta in Fis-Dur ließ an das Spätwerk des Komponisten denken.

Der vierte Satz (allegro non troppo) baut gegen Ende ein anscheinend triumphales Finale auf. Von Beginn an sind die bis dahin kaum eingesetzten Posaunen sehr präsent, die Trompeten bringen immer wieder scharfe Rhythmen ein. Der Satz weist viele Bezüge zum Schlusssatz der ersten Symphonie des von Schostakowitsch sehr verehrten Gustav Mahler auf. Doch der Satz endet so, wie Beethovens „Neunte“ beginnt: mit leeren Quinten auf A und D. Das Fis des bis dahin lärmenden D-Dur geht in den letzten drei Takten verloren, was der Zuhörer, vom Fortissimo des Orchesters überwältigt, zunächst kaum erkennt. Und doch – der Schlussakkord klingt fahl. Wo Beethoven zu einer Eruption in Moll findet, verweigert sich Schostakowitsch der Harmonie.

Diese exemplarische, von Publikum und Orchester mit höchster Konzentration begleitete Darbietung wurde mit Ovationen bedacht, die allen Beteiligten, vor allem aber Michael Sanderling als Retter des Abends galten.

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