Gießen, Stadttheater, Ein Herbstmanöver von Emmerich Kálmán, IOCO Kritik, 22.11.2017

Gießen, Stadttheater, Ein Herbstmanöver von Emmerich Kálmán, IOCO Kritik, 22.11.2017

Stadttheater Giessen

Stadttheater Gießen © Rolf K. Wegst
Stadttheater Gießen © Rolf K. Wegst

Ein Herbstmanöver  von  Emmerich Kálmán

"DAS SCHWIERGISTE ALLER MANÖVER: DIE LIEBE"

Von Ljerka Oreskovic Herrmann

Alles in weiß: der sich drehende Kubus, die Möbel, die Kostüme – wir sind in der Operette des Fin de Siècle gelandet, irgendwo weitab vom Schuss, aber doch mondän. Der weiße Kubus, das Palais der Baronin Riza, ist nur auf einer der Bühne zugewandten Seite offen, die anderen drei werden von asymmetrischen Öffnungen bestimmt und geben je nach Drehung verschiedene Blickwinkel ins Innere frei.

Stadttheater Giessen / Ein Herbstmanöver - hier Männer in ihrer Bestimmungen, dem Schlachtfeld und der Liebe_ Ensemble © Rolf K. Wegst
Stadttheater Giessen / Ein Herbstmanöver - hier Männer in ihrer Bestimmungen, dem Schlachtfeld und der Liebe_ Ensemble © Rolf K. Wegst

Zwei Diener unterhalten sich über die bevorstehenden Festivitäten, der eine – Bence als Großknecht eher rustikal gekleidet – alt und etwas resigniert, der andere – Kurt im Frack – jünger und eher zynisch. Dann bricht das volle Leben ein, mit tanzenden und singenden Damen – „frau“ freut sich auf die heiß erwarteten Husaren, die in ihren schmucken weißen Uniformen für Abwechslung und kleine amouröse Abenteuer sorgen werden. Noch sieht alles nach vertrauten Operettenhandlungen aus, in denen es oft feucht und fröhlich mit ein „bisserl“ Konfusion um Gefühle und Stimmungen, aber doch irgendwie trunken von Glückseligkeit zugeht. Ablenkungsmanöver? Oder doch eher eine intelligente Art den Zuschauer in Sicherheit zu wiegen, denn diese scheinbar unerschütterliche Welt zeigt erste Risse. Nicht jeder hat seinen Platz im Palais, es gibt auch diejenigen, die draußen bleiben müssen oder wollen. Für den einen – Reserve-Kadett-Feldwebel Wallerstein als einziger nicht in weißer Uniform –, der ungebeten, aber dafür um so ungenierter darin aufgeht und ein Erweckungserlebnis erfährt, wird es zur Freude des Publikums zum komödiantischen Schaulaufen; für den anderen – Oberleutnant von Lörenthy zur Herzensprüfung und Vergangenheitsbewältigung.

Nur kurz wird die Endlichkeit dieser dem Untergang geweihten Welt angedeutet, denn die Männer in Uniformen finden nicht nur auf dem „Schlachtfeld“ der Liebe ihre Bestimmung: Das Elend des ersten Weltkriegs wird fast beiläufig auf die eine Seite des Hauses projiziert – jeder kennt die Bilder und sie liegen gerade hundert Jahre hinter uns. Für die Protagonisten – Baronin Riza von Marbach und Oberstleutnant von Lörenthy – sind die gegenseitigen Verletzungen indes nicht vernarbt, sie misstrauen einander und können nicht verzeihen. Dieses ehemalige Liebespaar – von Christiane Boesiger und Grga Peroš einfühlsam gespielt – hat zwar gemeinsame Momente, doch sie finden nicht zueinander; nur Bence, Rainer Domke verleiht ihm Größe und Würde, erkennt in Lörenthy den jungen Herrn, der einst aus dem Palais vertrieben wurde. Das andere Liebespaar, das noch keines ist, Treszka und Marosi, steht für das ungestüme Temperament der Jugend, für die (noch) fröhliche Verwicklung der Gefühle, die uns schon ahnen lassen, dass alles gut ausgehen wird. Baronin Riza lädt zum Fest ein und alle kommen – außer Lörenthy, der in seiner zurückgenommen Haltung auch überhaupt nicht in diese selige Operettenwelt zu passen scheint. Wir staunen über seine Melancholie und gehen leicht irritiert in die Pause.

Stadttheater Giessen / Ein Herbstmanöver - hier Christiane Boesiger als Baronin Riza von Marbach und Grga Peros als Oberstleutnant von Lörenthy © Rolf K. Wegst
Stadttheater Giessen / Ein Herbstmanöver - hier Christiane Boesiger als Baronin Riza von Marbach und Grga Peros als Oberstleutnant von Lörenthy © Rolf K. Wegst

Danach ist nichts mehr wie es war: alles in Farbe und moderner. Die durchzechte Nacht hat alle und alles kräftig durchgerüttelt, der Salon ein „Schlachtfeld“, Müdigkeit und Desillusionierung machen sich breit und das obwohl oder trotz der bunten Welt.

Nach durchzechter Nacht:  Was ist passiert?

Wallerstein wird seine Zuneigung zum eigenen Geschlecht entdecken – Tomi Wendt spielt ihn hinreißend an Groucho Marx (natürlich mit Brille!) erinnernd; dass er in der turbulenten Nacht die Hosen verlieren wird, passt zum „Coming-out“. Zu diesem hat ausgerechnet der „zynische“ Kurt, von Rainer Hustedt köstlich herablassend und doch selbstironisch angelegt, beigetragen.

Grabstätte Emmerich Kálmán © IOCO
Grabstätte Emmerich Kálmán © IOCO

Treszka, sehr präsent und quirlig von Marie Seidler dargestellt, muss enttäuscht zur Kenntnis nehmen, dass Lörenthy nichts von ihr will, auch wenn ihr er aus lauter Trotz, einen Heiratsantrag macht. Diesem Trotz geht ein tänzerischer Ausbruch, der auch das Publikum überrascht, voraus: Mucksmäuschen still ist der Zuschauerraum, als er wutentbrannt einen beeindruckenden Csárdás hinlegt. Einfach genial komponiert von Kálmán, denn er spielt mit dem Genre: die Wut wird nicht hinausgesungen, sondern in einen – eigentlich freudig-temperamentvollen – Tanz verlagert. Ja, Operette kann auch wehtun, wenn es um wahrhaftige Gefühle geht. Und die vulkanartige Gefühlsexplosion nimmt man Grga Peroš voller Staunen ob des tänzerischen Ausdrucks ab. An dieser Stelle sollte auch der Choreograph erwähnt werden: Leo Mujic, gebürtiger Belgrader, der vielleicht nicht ganz zufällig wie auch der Regisseur aus dem ehemaligen k.u.k.-Gebiet stammt. Es gelingt ihm, die Tänze nicht nur schön aussehen, sondern sie ebenfalls zu einem wichtigen Handlungsmoment werden zu lassen.

Und die Liebe? Treszka nimmt endlich „ihren“ für sie vorbestimmten Marosi, den Clemens Kerschbaumer wunderbar als hoffnungslos verliebten, von ihr lange Zeit geschmähten, Jüngling zeigt. Auch das eigentliche Paar, Riza und Lörenthy, kann sich endlich zu seiner Liebe bekennen. Kálmáns Meisterschaft zeigt sich hier erneut: Erst zum Schluss gönnt er ihnen ein Duett, in das alle Liebe und Liebesschmerz der Welt hineingefunden hat – und uns glückselig nach Hause entlässt.

Stadttheater Giessen / Ein Herbstmanöver - hier Männer in ihrer Bestimmungen, dem Schlachtfeld und der Liebe, Ensemble © Rolf K. Wegst
Stadttheater Giessen / Ein Herbstmanöver - hier Männer in ihrer Bestimmungen, dem Schlachtfeld und der Liebe, Ensemble © Rolf K. Wegst

Für die Bühne und Kostüme zeichnet Lukas Noll verantwortlich, der den Spagat oder besser die Auflösung von Operettenklischee und Moderne hervorragend meisterte: im Alten steckt das Neue. Wie er – schon erwähnt – mittels Farbe und veränderten Kostümen vom ersten zum zweiten Teil auch den Gemütszustand der Figuren exemplifiziert ist beeindruckend. Balász Kovalik, der Regisseur, hat daraus eine herrlich doppelbödige, witzige und voller Anspielungen gespickte Inszenierung auf die Bühne gebracht, mit viel Liebe zum Detail und zu den einzelnen Figuren – ohne je dabei das große Ganze aus den Augen zu verlieren. GMD Michael Hofstetter ist ein exzellenter Begleiter dieser spritzigen Inszenierung, findet für jede Gefühlslage der Protagonisten eine eigene musikalische Sprache. Und so gelingt ihm und dem Philharmonischen Orchester Gießen insbesondere bei den leisen und elegischen Momenten beeindruckendes und unterstreicht damit das Tiefgründige dieser Operette. Der Chor (Chorleitung: Jan Hoffmann) singt, tanzt und zeigt unglaublich herrlichen Spielwitz. Die humoristisch bis nachdenklich ergänzenden Gesangstexte schrieb der Dramaturg Matthias Kauffmann.

Weitere Mitwirkende sind: Weitere Mitwirkende sind: Harald Pfeiffer (von Lohonnay, Treszkas Vater), Aleksey Ivanov (von Emmerich), Shawn Mlynek (Elekes) und Paul Przybylksi (Herr Nelke). Die Damen der Gesellschaft werden dargestellt von: Natascha Jung, Eun-Mi Suk, Antje Tiné, Olga Vogt, Michaela Wehrum und Sora Winkler. Den ungarischen Geiger gibt Robert Varady, der ein herrliches Geigensolo vorführte – was bei einer echten ungarischen Operette natürlich nicht fehlen darf. Großer Applaus.

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