Frankfurt, Regisseur Hendrik Müller im Gespräch, IOCO Interview, 25.03.2017

Frankfurt, Regisseur Hendrik Müller im Gespräch, IOCO Interview, 25.03.2017
Oper Frankfurt inmitten des Finanzzentrums © IOCO
Oper Frankfurt inmitten des Finanzzentrums © IOCO

"DIE DECHEFFRIERUNG DER LEIDENSCHAFT"

Ljerka Oreskovic Herrmann im Gespräch mit Regisseur Hendrik Müller, der an der Oper Frankfurt Rigoletto von Giuseppe Verdi inszenierte

LOH:  Wie sind Sie zum Theater gekommen?

HM: Zum Theater bin ich in der Tat aus Leidenschaft gekommen! Ich bin schon als Schüler jeden Abend in die Oper gegangen, und nach dem Abitur war mir bewusst: Ich werde etwas im Bereich Theater machen. Ob es in eine journalistische Richtung geht oder die Option Gesangsstudium zum Tragen kommt – ich habe mich dann für die Regie entschieden. Ich habe die Entscheidung, ich bewundere Sänger sehr, nie bereut, weil das Sängerleben ein sehr, sehr hartes Business ist. Zum Einen was die Konkurrenz anbelangt, zum Anderen dieses Faktum, zwei winzige Muskeln zu besitzen, nämlich die Stimme, und einfach alles von ihnen abhängt. Wenn man sich da nicht hineindenken kann, ist es einfach, sich darüber lustig zu machen. Es ist aber das Kapital der Sänger!

 Hendrik Müller - Regisseur © Lena Kern
Hendrik Müller - Regisseur © Lena Kern

LOH: Was macht für Sie Oper aus? Was ist es, das Sie fasziniert?

HM: Es setzt Kräfte frei, die in uns allen schlummern, die aber unter einer Schicht von Alltäglichkeit, Gewohnheit, auch von Gewöhnlichkeit begraben sind – gerade in einer Zeit, in der es viel um Optimierung geht und insofern ist das berühmte Wort von der Oper als „Kraftwerk der Gefühle“ richtig. Ich glaube übrigens auch in Menschen, die gar nicht künstlerisch tätig sind, setzt es sehr viele Energien und ein großes Potential frei – in eine andere und zwar durchweg positive Energie, so dass wir anders, verändert in einen Alltag, in das Leben zurückgehen.

LOH: Es ist nicht nur ein „Kraftwerk der Gefühle“, sondern auch eines der Sinne, das mit dem Vorstellungsende nicht einfach abgeschaltet wird, sondern durchaus weiterwirken kann.

HM: Das ist ein ganz interessanter Spagat, insbesondere bei der Regiearbeit, zwischen Intellektualität und Sensualität. Dieses künstlerische „Sprichwort“: ‚Was will uns der Künstler damit sagen?!’ Diese Aufforderung – gerade für mich als Regisseur wichtig –, die Einladung das Werk intellektuell durchdringen zu müssen, aber nicht auf dem Level der Intellektualität stehen zu bleiben, sondern diese wieder in die sinnliche Komponente und das Unmittelbare, Verstehbare zu übersetzen, ist entscheidend.

LOH: Da sind wir schon bei dem Stück, das Sie hier in Frankfurt inszenieren: Rigoletto. Victor Hugos Stück ist ein sehr revolutionäres, das zensiert wurde, und damit ein sehr politisches Werk. Ist das auch bei Rigoletto noch zu finden, der ebenfalls zensiert wurde?

HM: Absolut, aber auf eine ganz andere Art und Weise. Es ist eben kein Sprechstück mehr, es ist ein „Singstück“. Verdi ist in fast allen seinen Opern sehr politisch, aber nicht auf einer vordergründigen Ebene. Emotion ist richtig dosiert politisch! Wie hätte denn sonst der Chor aus Nabucco zu einer solchen Hymne werden können, der in unseren deutschen Breiten gerade von der Werbung durchgenudelt wurde, in Italien jedoch bis heute eine ganz andere Bedeutung besitzt: Er ist gesellschaftlich konstitutiv! Der interessante Punkt ist, dass Verdi bei den meisten Aspekten, also denjenigen die bei Hugo anknüpfen, von der Zensur aber abgelehnt wurden – z.B. den historischen Monarchen –, gar nicht lange gekämpft hat. Aber er hat um zwei Punkte wie ein Löwe gekämpft: um den Buckel und den Sack, in den die Leiche hineinkommt. Heute fragen wir uns: Wo bitte ist denn da die Anstößigkeit?! Aber das genau führt uns auf die Fährte, was daran so politisch ist. Ohne den Buckel ist das ganze Stück sinnlos, denn es zeigt das Bild einer körperlichen Entstellung, die zwei Ausrichtungen in sich trägt.

Venedig / Teatro La Fenice - Rigoletto wurde hier 1851 uraufgeführt © IOCO
Venedig / Teatro La Fenice - Rigoletto wurde hier 1851 uraufgeführt © IOCO

Am herzoglichen Hof ist alles unglaublich gespreizt, alles ist auf Außenwirkung gesetzt, purer Hedonismus, keine Vergangenheit, keine Zukunft, und nicht nur die Lust am Augenblick, sondern eher Zwang zur Lust am Augenblick. Das ist wie ein niemals endender Drogenrausch und nicht auszuhalten. Aber was heißt das für einen Menschen, der schlechterdings nicht mitspielen kann?! Eine Figur, die aufgrund einer gewissen körperlichen Entstellung gar nicht mitspielen kann, ist das Eine. Der andere Aspekt ist der, der erst viel später explizit formuliert wird, man stolpert praktisch immer wieder über das Bildnis des Dorian Gray. Wie sich die böse Tat, das böse Wort des Rigoletto immer wieder in die körperliche Entstellung übersetzt. Es gibt nicht das Bild auf dem Dachboden, das für ihn die Entstellung nimmt. Das Interessante ist dabei die Dichotomie der Opferrolle, denn bei Rigoletto, sowohl als Täter als auch Opfer, bedingt sich das immer gegenseitig. Allein an diesem Punkt ist die Frage unheimlich politisch, nämlich wie sich die Rolle des Individuums mit der Gesellschaft, der Welt oder der Masse verknüpft – politscher kann es somit nicht mehr werden.

LOH: Rigoletto ist ein äußerlich und innerlich beschädigter Mensch. Ist er eine bemitleidenswerte Figur? Sollte oder kann man mit ihm überhaupt Mitleid empfinden?

HM: Das wir, glaube ich, gar nicht umhin kommen, mit ihm Mitleid zu empfinden, liegt an der Musik. Wenn ich nur seine Worte betrachten würde, wird es schwierig, weil er Monstrosität auf Monstrosität türmt – egal ob in seinem beruflichen Leben oder in seinem Privatleben –, er bleibt absolut unbelehrbar bei allem, was er tut. Und immer dann, wenn er zu der Erkenntnis kommen müsste, externalisiert er. Er sagt: ‚Ach das war der Fluch.’ Dieser Fluch wird für ihn zu einer bequemen Außenposition, auf die man alles, was im Grunde genommen eigene Schuld ist, abladen kann. Der Fluch, der nichts weiter als die Verzweiflungstat eins verwirrten alten Mannes ist, eine Chimäre, die körperlos im Raum schwingt, niemanden mehr interessiert – nur Rigoletto, der völlig davon besessen ist, aber nicht, weil er tatsächlich eine Schuld in sich fühlt. Er bleibt bis zum Schluss vollkommen unbeirrbar. Das ist das absolut Geniale an diesem Stück, denn man kommt trotzdem nicht umhin, mit ihm, wie auch mit allen Figuren in diesem Stück, zu gehen. Für mich ist es ein absolutes Nachtstück, es ist das düsterste Stück, das Verdi geschrieben hat. Macbeth hat mehr Lichtmomente als dieser Rigoletto.

LOH: Ein Narr kann austeilen, aber es passiert ihm nichts.

Er sollte das Korrektiv des Herrschers sein, nur dafür gibt es die Narrenfreiheit. Er macht jedoch das Gegenteil. Er ist die böse Stimme, die immer auf der Schulter vom Herzog sitzt. Die Geschichte mit dem Grafen Monterone geht von Rigoletto aus. Graf Monterone wollte ein Attentat auf den Herzog verüben, in der völlig falschen Annahme, dass, wenn man der Schlange den Kopf abschlüge, es besser würde. Die Tat wurde vereitelt, und er hat die Todesstrafe zu erwarten. Rigoletto: ‚Nein, halt. Du kannst dein Leben behalten. Du musst nur deine Tochter geben.’ Das hat Monterone schließlich getan, weil er – alle sind es – schwach war. Es würde sehr, sehr viel dazugehören, es in diesem Moment nicht zu tun. Es steht nicht explizit in der Oper, wir belassen es lieber in der Phantasie, auf welche Art sie ihr Leben für den Vater gelassen hat. Den Herzog langweilt das einfach nur, aber er wäre nie auf diese Idee gekommen, das ist Rigolettos Werk, und die Triebfeder seines gesamten Handelns ist: Hass!

LOH: Wie erarbeiten Sie sich das Stück? Wie wichtig ist der Austausch mit Anderen, z.B. Dirigenten, Dirigentinnen, Sängern und Sängerinnen?

HM: Es ist sehr wichtig. Das Theater grundsätzlich und vor allem die Oper ist ein kollektives Unterfangen. Und wenn wir alle nur unsere Ego-Show machen würden, würde der Laden auseinanderdriften. D.h. nicht, dass Dirigent/Dirigentin und Regisseur immer einer Meinung sein müssen. Wie stark der Austausch im Vorfeld sein kann, hängt von objektiven Kriterien ab: Bekommt man Kalender und Ort übereinander. In diesem Fall haben Carlo Montanaro und ich keinen Termin gefunden. Der Austausch war aber da. Für mich ist ein Austausch mit dem Dirigenten/Dirigentin wichtig, weil ich alles aus der Musik heraus entwickle und vielleicht stärker als andere in die Musik hineinrede: ‚An dieser Stelle bitte nicht sofort weitermachen, weil da noch etwas passiert ...’ Oder unsere Gilda, die weit vom üblichen Klischee der Rolle entfernt ist. Das hat, muss geradezu einen unmittelbaren Einfluss auf die musikalische Gestaltung haben, und dafür brauche ich die betreffenden Sänger, der Dirigent muss im selben Boot sitzen, sonst wird es nicht Ereignis, dann behaupte ich etwas auf der Bühne, obwohl mich jeder Ton Lügen straft.

LOH: Sich auf die Bühne zu stellen – ob als Sänger oder Schauspieler – ist ein sich „Entblößen“.

HM: Absolut, Seelenstriptease! Bei manchen Sachen muss man sehen, ob sie funktionieren können. Diese Offenheit, mit der ich in die Arbeit hineingehe, erwarte ich auch von der „Gegenseite“. Ich habe oftmals Dinge im Buch notiert, wohl wissend, dass sie heikel sind, mir ist das Neuralgische daran sehr bewusst. Wenn das Punkte sind, die nicht absolut beglaubigt werden können, muss es anders gehen, man muss sehr sensibel beobachten, ob sie entsprechend funktionieren. Es gab eine Szene, bei der ich sehr gespannt war, ob sie gelingt, und sie hat im ersten Anlauf sofort funktioniert. Ich konnte der Betreffenden nur sagen: ‚Es ist phantastisch!’ Den Vorgang dieser Szene so zu sehen ist schmerzhaft – diesen Effekt soll er tatsächlich haben. Das ist gut und nicht: ‚O, Gott!’   Ein Riesenunterschied!

LOH: Sie sagten, Ihre Gilda ist anders. Ist sie überhaupt dieses ätherische, vor der Welt eingeschlossene und von der Welt unberührte Wesen?

 Hendrik Müller - Regisseur © Lena Kern
Hendrik Müller - Regisseur © Lena Kern

HM: Sie ist nicht von der Welt unberührt. Ich muss der Figur erst einmal ihre Autobiographie vorlegen, gerade bei Verdi. Ob wir über das 21., 19. oder 15. Jahrhundert reden – grundsätzlich gilt doch: Die menschliche Natur und bestimmte Reaktionsweisen verändern sich nicht. Es gibt natürlich andere gesellschaftliche Voraussetzungen, deshalb bleibt manches meine Erfindung, aber Verdi gibt in seinem Stück sehr klare Anhaltspunkte. Sie darf das Haus einmal in der Woche verlassen, um in die Kirche zum Gottesdienst zu gehen. Und Rigoletto baut über diese Mutter, Gildas Mutter, einen Popanz auf, der jedweder Glaubwürdigkeit entbehrt. Es gibt zwei mögliche Varianten: Erstens, gab es vielleicht eine Liebesbeziehung, und warum auch immer Rigoletto zu diesem Kind nicht stehen wollte, was auch immer passiert ist, die Mutter starb, und das Kind ist woanders aufgewachsen, nicht bei ihm. Die zweite These: Gilda ist ein Vergewaltigungskind und nun kommt die soziale Komponente hinein. Gilda war der soziale Tod dieser Mutter. Das Kind ist auf jeden Fall, das erfahren wir, unehelich. Ich finde es mehr als wahrscheinlich, dass die Mutter Selbstmord beging. Sie ist nicht im Bett gestorben. Gilda kommt zu den Nonnen ins Heim. Ich möchte kein allzu negatives Bild zeichnen, aber Verdi hatte zum katholischen Glauben, zur katholischen Kirche, zu Würdenträgern ein äußerst negatives Verhältnis. Es war keine liebende, sondern eher eine züchtigende Hand. Liebe wird durch Zucht und Ordnung ersetzt. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn dieses Kind nicht verhaltensgestört wäre. In seinem ganzen Verhalten ist Rigoletto überhaupt kein Vater. Gilda ist in einer extrem schwierigen Phase ihres Lebens, mitten in der Pubertät oder gerade darüber, und lebt nun bei einem Menschen, den sie überhaupt nicht kennt, der aber zu ihr sagt, ‚ich bin dein Vater’.

LOH: Gibt es nicht auch unserer „modernen“ Gesellschaft solche familiären Konstellationen?

HM: Rigoletto ist ein aktuelles Stück, was diese ganze narzisstisch verformte Welt, diese absolute Inhaltsleere, dieses Zerbröseln nach innen betrifft. Es wäre ein Kurzschluss, der auch bei Rigoletto versucht worden ist, wenn man es einfach eins-zu-eins übersetzt und hier in der Commerzbankzentrale spielen lässt, was auch ästhetisch ein unerträglicher Kurzschluss wäre, weil das Stück eine Fabel ist. Es ist ein Gleichnis, eine Parabel, es geht um etwas ganz anderes. Wenn Verdi immer vorgeworfen wird, dass er viele dramaturgische Ungereimtheiten aufweist – Rigoletto ist nicht arm dran, Troubadour hat viele –, so ist dieser Vorwurf an die Kunstgattung Oper aus dem 20. Jahrhundert herangetragen für mich der dämlichste Vorwurf, denn es geht doch nicht darum...

LOH:  .... die Welt abzubilden...

HM: Genau. Verdi bildet die Welt nicht ab, er erfindet sie. Er erfindet Realität! Ich halte das heutige Bestreben in der Regie für einen schwierigen Weg, alles nur auf unsere kleinliche Alltäglichkeit herunterbrechen zu müssen. Nein, dafür brauche ich nicht die H&M-Kleidung. Ich will hier nicht der unhinterfragten Tradition das Wort reden, aber es geht doch um die Frage: Wo ist der eigenständige Beitrag zur Charakterisierung oder Verdeutlichung der Figuren und der Vorgänge, der inneren Welt dieser Figuren? Wenn ich Rigoletto inszeniere, und alle in prunkvollen Renaissancegewändern mit Renaissancekragen auftreten lasse, verhält es sich wie mit der H&M-Kleidung, weil es den Personen nur etwas anzieht, aber ihr Wesen nicht unbedingt vermittelt. Das eine wie das andere widerspricht damit dieser Grundthese, dass der Komponist nicht die Realität und die Wahrheit abbildet und sie einfach nacherzählt, sondern sie erfindet! Deshalb sind Wagners Götter in germanischen Kostümen auch unerträglich, nicht weil die germanischen Kostüme „drollig“ sind, sondern weil sie einfach nichts mit der erfundenen Welt oder Realität zu tun haben. Die Götter im Rheingold sind im germanischen Göttergewand genauso ulkig und genauso verkehrt wie im H&M-Anzug.

LOH: Müssen Opernstoffe modern sein, damit das heutige Publikum Zugang zu ihnen findet?

HM: Modernität oder Zeitgenossenschaft stellt sich automatisch dadurch her, dass beides grundsätzlich immer erst im Moment der Produktion wieder ersteht. Eine Partitur ist nur Notizen auf Papier, also eine Annäherung, der Versuch einer Verschriftlichung. Das Stück entsteht erst im Moment der Aufführung. Allein dadurch kommt jede Produktion, egal welcher ästhetischen Ausrichtung, um die Zeitgenossenschaft nicht herum. Ich muss innerlich bereit sein, meine Rezeptoren müssen so aufgestellt sein, dass ich ans Stück andocken kann und dann wird das Sujet zeitgemäß.

LOH: Herr Müller, danke für das Gespräch.

Rigoletto von Giuseppe Verdi an der Oper Frankfurt:  30.3.2017. 2.4.2017. 7.4.2017. 13.4.2017, 16.4.2017. 22.4.2017, 28.4.2017, 1.5.2017, 11.5.2017

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