Zürich, Tonhalle, TONHALLE-ORCHESTER ZÜRICH - Gustav Mahler, IOCO Kritik, 08.06.2023

Zürich, Tonhalle, TONHALLE-ORCHESTER ZÜRICH - Gustav Mahler, IOCO Kritik, 08.06.2023
TONHALLE ZÜRICH © Georg Aerni
TONHALLE ZÜRICH © Georg Aerni

Tonhalle Zürich

Tonhalle-Orchester - Michael Tilson Thomas

- Gustav Mahler - Sinfonie Nr. 6 -

von Thomas Birkhahn

Gustav Mahler Ehrung in der Hamburgischen Staatsoper © IOCO
Gustav Mahler Ehrung in der Hamburgischen Staatsoper © IOCO

„Mahler spricht nicht zu uns, er brüllt uns an“, mokierte sich ein Kritiker nach der Uraufführung von Gustav Mahlers 6. Sinfonie im Jahr 1906 und damit hatte er nicht ganz Unrecht. Denn was Mahler gerade im Finale an Klangmassen auftürmt, dürfte damals so ziemlich alles bisher Dagewesene in den Schatten gestellt haben. Das ohnehin schon sehr groß besetzte Orchester wird noch ergänzt durch die „Instrumente“ Kuhglocken, Rute und Hammer.

Was der Kritiker allerdings nicht gehört zu haben schien, ist die Qualität des „Gebrülls“. Ob man es als titanischen Kampf mit dem Schicksal, als heroisches Ringen mit den inneren Dämonen oder etwas Anderes bezeichnen will – das Finale reißt den Zuhörer mit sich hinab in den Abgrund und beschert ihm damit ein musikalisches Erlebnis, das seinesgleichen sucht.

Dieses Erlebnis wird an diesem Abend, 4. Juni 2023,  noch intensiviert durch das fulminant aufspielende Tonhalle-Orchester Zürich unter  Dirigent Michael Tilson Thomas, dessen jahrzehntelange Beschäftigung mit der Musik Mahlers in jedem Takt zu spüren ist.

Tilson Thomas schaut kaum in die Partitur, er kennt diese Musik praktisch auswendig. Er weiß genau, was er will, und mit meist sparsamen Bewegungen, ohne große Gesten, bekommt er es auch.  Sein sicheres Gespür für diese Katastrophenmusik der 6. Sinfonie zeigt sich von Beginn an, wenn die tiefen Streicher mit schneidender Schärfe einen Marschrhythmus beginnen, der keinen Zweifel daran lässt, dass dieses musikalische Drama, welches Mahler über einen Zeitraum von anderthalb Stunden vor uns ausbreitet, kein gutes Ende nehmen wird.

Die Musiker des Tonhalle-Orchesters folgen Tilson Thomas dabei mit leidenschaftlicher Hingabe. Kaum zu glauben, dass dies Tilson Thomas' Debüt am Pult des Orchesters ist, so natürlich und vertraut wirkt das gemeinsame Musizieren.

Tonhalle Zürich / TONHALLE-ORCHESTER Zürich © GAETAN BALLY
Tonhalle Zürich / TONHALLE-ORCHESTER Zürich © GAETAN BALLY

Etwas erstaunt ist man über das Weglassen der Wiederholung der Exposition im ersten Satz. Die allermeisten Dirigenten wiederholen sie, wie es Mahler vorgeschrieben hat. Aber vielleicht ist Tilson Thomas der Meinung, dass diese Musik keinen Blick zurück verträgt. Bei ihm geht es mit unerbittlicher Härte weiter, immer wieder treibt die Militärtrommel den Marsch voran.

Auch das kontrastierende Seitenthema, das angeblich ein musikalisches Porträt von Mahlers Frau sein soll und deshalb oftmals „Alma“-Thema genannt wird, bringt keine Entspannung. Dieses Thema ist sehr wandlungsfähig, mal ist es schwungvoll, mal nachdenklich, mal verzerrt und am Ende des Satzes triumphal, und Tilson Thomas macht alle diese unterschiedlichen „Aggregatzustände“ für den Zuhörer erlebbar.

Mahler selbst war sich zu Lebzeiten unsicher über die Reihenfolge der Mittelsätze. Wie die Mehrheit der heutigen Dirigenten setzt Tilson Thomas das Scherzo an die zweite Stelle.  Somit geht der zweite Satz so gnadenlos weiter, wie der erste aufgehört hat. Und jetzt kommen noch „falsche“ Betonungen hinzu, die die Verwirrung perfekt machen. Tilson Thomas und sein Orchester schonen die Zuhörer nicht. Mit schneidender Schärfe schleudern die Bläser ihre Triller heraus, als würde man den Teufel höchstpersönlich lachen hören. Wenig später bringen die Blechbläser den Boden zum schwanken und es hätte wohl niemanden gewundert, wenn sich Fafner, der Drache aus Richard Wagners  Ring, über den Boden der Tonhalle gewälzt hätte.

Der Ländler ist in vielen Aufführungen eine Oase der Ruhe, aber nicht bei Tilson Thomas. Hier herrscht keine ländliche Gemütlichkeit, und die kurz aufkommende pastorale Stimmung wird von den zweiten Geigen mit peitschenden Pizzicati sofort zunichte gemacht.

Gustav Mahler Grabstätte in Wien © IOCO
Gustav Mahler Grabstätte in Wien © IOCO

Durch die gewählte Satzreihenfolge kann der Zuhörer im Adagio ein wenig vor dem bereits erwähnten Katastrophenfinale durchatmen. Tilson Thomas lässt seine Musiker hier anrührend schlicht, aber ohne Sentimentalität spielen. Und spätestens jetzt beweisen die Bläser des Tonhalle-Orchesters ihre ganze Klasse mit wunderbar zarten Soli. Besonders das Solo-Horn ist hier mit seiner delikaten Spielweise hervor zu heben.

Dieser Satz ist wie eine schöne Erinnerung an vergangene Zeiten. Aber auch diese Erinnerung wird im Laufe des Satzes immer schmerzvoller. Zwischendurch spielen die Geigen ein Glissando, als würde die Musik ihr eigenes Leben aushauchen, aber es geht doch weiter. Die berühmten Kuhglocken erklingen, und auch hier unterscheidet sich Tilson Thomas' Dirigat von vielen Anderen, denn die Kuhglocken sind nur sehr undeutlich zu hören.  Während sie oftmals „solistisch“ eingesetzt werden, sind sie hier nicht viel mehr als eine Klangfarbe. Dadurch lenken sie nicht vom restlichen musikalischen Geschehen ab. Gut möglich, dass diese Interpretation Mahlers Intentionen viel näher kommt.

Das schon angesprochene Finale ist in der gesamten sinfonischen Literatur vermutlich einmalig. Es ist vor allem berühmt geworden durch seine drei Hammerschläge, die im allgemeinen als Schicksalsschläge interpretiert werden und von denen Mahler den dritten später wieder gestrichen hat. Auch Tilson Thomas lässt ihn an diesem Abend weg.

Zu Beginn dieser in Töne gesetzten Untergangsvision scheint der Ausgang  noch offen. In der Musik herrscht eine Art Stillstand, es gärt und brodelt am Eingang zur Hölle. Ein Choral gibt kurz Hoffnung, dass doch nicht alles verloren ist, bis die Pauke den mottoartigen Schicksalsrhythmus heraus schleudert, den wir schon im ersten Satz kennen gelernt haben und der die Musik in den Abgrund führt.

Tilson Thomas lässt die musikalischen Motive in einem titanischen Kampf miteinander ringen. Er bringt den Zuhörer bis an die Grenzen dessen, was  emotional zu ertragen ist. Der erste Hammerschlag versetzt der Musik dann einen Stoß, durch den sie außer Kontrolle zu geraten scheint: Brüllendes Blech, schreiende Holzbläser und rasende Streicher - die Welt gerät vollends aus den Fugen.

Tilson Thomas scheut sich nicht, die Hässlichkeit dieser Musik auf die Spitze zu treiben, etwa wenn der Marsch nicht mehr von der Militärtrommel begleitet wird, sondern von der Rute, die diese Musik gespenstisch anmuten lässt. Immer wieder bäumt sich die Musik auf, einzelne Oasen der Ruhe geben dem Zuhörer kurz Gelegenheit, durchzuatmen, bis der Hammer der Musik einen zweiten Schlag versetzt, von dem sie sich nicht mehr erholen wird. Die Raserei wird jetzt so durchgedreht, als wolle Mahler seine Sinfonie in die Luft jagen. Von hier gibt es kein Zurück mehr, nur noch eine Art Requiem des tiefen Blechs, bevor die Musik erst erlischt, um dann mit einem letzten Aufschrei zu enden.

Tilson Thomas und das Tonhalle-Orchester Zürich musizieren mit leidenschaftlicher Hingabe und viel Herzblut Mahlers einzige Sinfonie, die in schwärzestem Pessimismus endet und lassen den Zuhörer bis ins Mark erschüttert zurück.