Wien, Theater Spielraum, SPIEGEL – Sam Holcroft, IOCO
„Spiegel“ im Theater Spielraum ist kein Theaterabend, der beruhigt – sondern einer, der entlarvt. Sam Holcrofts Stück über Zensur und Wahrheit wird von Gerhard Werdeker präzise, vielschichtig und mit einem großartigen Ensemble auf die Bühne gebracht.
von Marcus Haimerl
Mit „Spiegel“ (A Mirror) zeigt das Theater Spielraum in Wien die deutschsprachige Erstaufführung eines der klügsten und zugleich gefährlichsten neuen Theaterstücke über Macht, Sprache und die Kunst der Täuschung. Gerhard Werdeker inszeniert einen Abend, der nicht nur von Zensur erzählt, sondern die Mechanismen von Kontrolle, Wahrnehmung und Theater selbst entlarvt. Denn wie es an einer entscheidenden Stelle des Stücks heißt:
„Dieses Stück ist eine Lüge.“
Das von Gerhard Werdeker gegründete Theater Spielraum, heute im ehemaligen Erika-Kino im 7. Wiener Gemeindebezirk beheimatet, begann 1983 als kleine Kellerbühne im 15. Bezirk. Später zog das Ensemble in den 3. Bezirk und fand 2002 seine endgültige Heimat in der Kaiserstraße. Was geblieben ist: die Nähe zum Publikum, die Konzentration auf Sprache und Schauspiel, und der Mut, komplexe Texte ernst zu nehmen.
Sam Holcroft, 1981 in Schottland geboren, gehört zu den präzisesten Stimmen des britischen Gegenwartstheaters. Sie studierte zunächst Biologie in Edinburgh – und man merkt ihren Stücken bis heute an, dass sie menschliches Verhalten wie ein System untersucht: Instinkt, Anpassung, Machtbalance. Holcroft war Hausautorin am National Theatre London, schrieb Stücke wie Edgar & Annabel, Rules for Living oder Cockroach und wurde mit dem Windham-Campbell Prize for Literature ausgezeichnet – einem der bedeutendsten Literaturpreise weltweit. Die Idee zu A Mirror entstand 2014 – nicht am Schreibtisch, sondern im Libanon. Sam Holcroft wurde damals von Elyse Dodgson, der legendären Leiterin des International Department am Royal Court Theatre, zu einem Schreibworkshop in Beirut eingeladen. Eine Woche lang arbeiteten dort ausgewählte libanesische und syrische Autorinnen und Autoren mit dem britischen Dramatiker David Greig. Immer wieder kam in den Gesprächen „das Ministerium“ zur Sprache. In Syrien wie im Libanon müssen Theatertexte der Zensurbehörde im Kulturministerium zur Genehmigung vorgelegt werden. Besonders prägend war für Holcroft die Begegnung mit dem libanesischen Autor und Filmemacher Lucien Bourjeily. Aus Frustration über die Zensoren schrieb er ein Stück, das genau in deren Büro spielt – Titel: Will It Pass Or Not? Und er tat das Undenkbare: Er reichte es bei eben dieser Behörde ein. Das Stück wurde sofort verboten, Bourjeilys Pass eingezogen.

Holcroft schreibt im Vorwort: „A Mirror is partly inspired by Lucien’s act of bravery … His courage, and that of thousands of artists like him, both inspires and intimidates me – because I suspect, deep down, that I do not possess it.“ (Deutsch: „Spiegel ist teilweise von Luciens mutiger Tat inspiriert … Sein Mut und der von Tausenden Künstlern wie ihm inspirieren und schüchtern mich zugleich ein – denn tief in meinem Inneren vermute ich, dass ich diesen Mut nicht besitze.“) Sie betont gleichzeitig: Adem ist nicht Lucien, das Stück spielt in keinem konkreten Land, und alle Figuren seien Erfindung. Aber die Frage, die Bourjeilys Geschichte aufwarf, blieb: Was geschieht, wenn Wahrheit nur gesagt werden darf, wenn sie sich als Lüge tarnt. Ein zweiter gedanklicher Motor des Stücks ist Yuval Noah Hararis „Sapiens“ – seine These, dass menschliche Zivilisation auf gemeinsamen Fiktionen beruht. Holcroft schreibt, insbesondere die Reden von Čelik über das Erzählen – etwa auf Seite 43/44 des englischen Textes – seien stark davon beeinflusst. Und so ist „A Mirror“ kein Stück über den Libanon. Es ist ein Stück über jedes System, das Fiktion braucht, um sich selbst zu erhalten.
Holcroft schrieb das Stück 2022/23. Die Uraufführung fand im Sommer 2023 am Almeida Theatre in London statt, in der Regie von Jeremy Herrin, mit Jonny Lee Miller (Čelik), Tanya Reynolds (Mei) und Micheal Ward (Adem). Die Vorstellung war ein Publikumserfolg – nicht bequem, aber elektrisierend. Wie Holcroft diese Gedanken theatral übersetzt, zeigt bereits der Anfang: Eine Hochzeit. Weißer Tisch, Geschenke, Standesbeamter, Braut, Bräutigam. Alles wirkt korrekt, beinahe amtlich.
Doch schon nach wenigen Minuten wird klar: Diese Hochzeit ist nur Fassade. Wir befinden uns in einem Staat, in dem kein Theaterstück gespielt werden darf, ohne zuvor von einer „Kommission für Kultur und Ordnung“ genehmigt zu werden. Der junge Autor Adem hat ein Stück geschrieben. Čelik, Beamter und Standesbeamter dieser Hochzeit, entscheidet über Aufführung oder Verbot. Mei, seine Assistentin beobachtet jedes Wort. Der desillusionierte Autor Bax stößt dazu, einer, der einmal mutig war – und jetzt weiß, was Kunst kostet, wenn sie nicht lügt. Zwischen diesen Figuren entspinnt sich ein gefährliches Spiel. Was ist Kunst – Aussage oder Tarnung? Was ist Wahrheit – oder genügt es, wenn sie sich glaubwürdig anfühlt? Und ab wann wird Theater selbst zur Lüge, weil es sich den Regeln fügt, um überleben zu dürfen? Holcroft lässt Szenen beginnen, abbrechen, neu ansetzen. Rollen, Machtpositionen und Realitäten verschieben sich. Was als Spiel beginnt, wird zur Prüfung aller Beteiligten – auch des Publikums. Wie es im Text heißt: „Dieses Stück ist eine Lüge.“ Mehr sei nicht verraten – denn Spiegel lebt davon, dass man ihm vertraut und es einem dieses Vertrauen Stück für Stück entzieht und sich die Ebenen erst nach und nach verschieben.
Gerhard Werdekers Regie hält diesem Stück stand und scheut auhc seine Vielschichtigkeit nicht. Er erzählt nicht über Zensur, Macht und Täuschung – er zeigt sie, bis in die kleinsten szenischen Übergänge hinein. Das Publikum bleibt nie außen vor, sondern wird konsequent in das Spiel hineingezogen: als Hochzeitsgesellschaft, als Zeuginnen und Zeugen und Komplizinnen in einem Theater, das vorgibt, keines zu sein. Werdeker inszeniert dabei mit einem feinen Gespür für Rhythmus und Stille. Er vertraut seinen Darsteller:innen, lässt sie präzise und glaubhaft agieren und durchbricht zugleich immer wieder den vermeintlich sicheren Boden der Bühne, indem er Realismus, Spiel-im-Spiel und staatlich verordnetes Theater aufeinanderprallen lässt.

Die großartig gelungene Bühne von J-D Schwarzmann und Samuel Schwarzmann ist auf den ersten Blick schlicht – weiß, funktional, beinahe behördlich sauber –, entwickelt jedoch eine enorme Wandlungsfähigkeit. Ein Tisch, vier Stühle und zwei weiße Holzkisten reichen aus, um Standesamt, Behördenbüro, Hotel und Wohnung entstehen und wieder verschwinden zu lassen. Mit wenigen Handgriffen wird aus einem scheinbar harmlosen Möbelstück ein Bett mit Münzfernsprecher, ein Sitzmöbel, eine Bar oder eine Garderobe für Čeliks Regenschirm und Melone. Gerade diese modulare Wandelbarkeit verleiht der Inszenierung Tempo und erzeugt ein beklemmendes Gefühl permanenter Kontrolle: Nichts ist privat, alles lässt sich öffnen, inspizieren, verändern.
Anna Pollacks Kostüme fügen dieser Welt eine weitere, treffende Ebene hinzu: Sie zitieren gleichsam Amt, Ritual und Privatheit – und reißen sie im Spiel auseinander. Die weiße Hochzeitsästhetik von Braut (Anna Zöch) und Bräutigam (Paul Graf) wirkt bewusst steril und kontrolliert, während Čeliks dunkelgrauer Anzug mit Melone, Handschuhen und Orden einen Beamten zwischen Aktenmappe und Machtfantasie zeichnet. Bax trägt ein zerknittertes Hemd voller bunter Etiketten, Jeans und Cowboystiefel – ein Mann zwischen Rebellion, Müdigkeit und Eitelkeit. Mei changiert zwischen äußerer Disziplin und innerer Unsicherheit, zwischen Funktion und Mensch. Alles ist sauber, geordnet, passend – und dennoch zum Zerfallen bereit. Genau wie die Wahrheit in diesem Stück.
Paul Wiborny als Čelik steht gleich zu Beginn im Mittelpunkt, korrekt gekleidet, ruhig auftretend, mit einem Blick, der mehr registriert als preisgibt. Er spielt seine Figur mit einer Höflichkeit, die nie warm ist, sondern von einer stillen Autorität getragen wird. Schon in den ersten Minuten deutet sich an, dass dieser Mann mehr repräsentiert – ohne dass die Inszenierung es bereits ausspricht. Wibornys Spiel wirkt bis ins Detail kontrolliert: die Art, wie er die Stimme senkt, wenn er jemanden lobt, wie er die Melone und Schirm ablegt, wie er eine Pause setzt, bevor er ein einziges Wort spricht. Nichts daran ist zufällig oder dekorativ. Seine Präsenz entsteht nicht durch Lautstärke, sondern durch Genauigkeit. Er verleiht Čelik eine Ambivalenz, die den Abend trägt: freundlich, fast väterlich – und gleichzeitig jemand, dem man nicht widersprechen möchte. Sein Lächeln kann Zustimmung bedeuten, aber auch ein Urteil. Besonders beeindruckend ist, dass Wiborny diese Figur nie in Karikatur oder Kälte kippen lässt. Er zeigt einen Mann, der überzeugt ist, richtig zu handeln – und gerade das macht ihn so gefährlich glaubwürdig.

Paul Graf gestaltet die Figur des Adem mit einer berührenden Zurückhaltung. Er spielt weder einen Helden noch einen Rebellen, sondern einen jungen Autor, der zwischen Ideal, Angst und innerer Erschöpfung gefangen ist. Schon im ersten Moment wirkt sein Adem leicht versetzt zur Welt um ihn herum: höflich, aufmerksam, immer ein wenig zu langsam oder zu schnell im Reagieren – als würde er sich ständig fragen, ob das, was er denkt, gerade erlaubt ist. Graf verzichtet auf große Gesten. Seine Stärke liegt in der Genauigkeit der kleinen Zeichen: ein kurzes Wegsehen, ein Zögern, das kaum länger als ein Atemzug dauert. Er spielt die Verletzlichkeit dieser Figur nicht sentimental, sondern mit stiller Ernsthaftigkeit. Besonders stark sind die Momente, in denen Adem versucht, seine eigene Stimme zu behaupten – und gleichzeitig spürt, wie gefährlich Sprache sein kann. Graf zeigt, wie dieser junge Mann schwankt zwischen dem Wunsch, gehört zu werden, und dem Instinkt, zu schweigen. Diese innere Spannung trägt er ohne Pathos, fast demütig, und macht Adem damit umso glaubwürdiger. So wird Adem zu einer Figur, die nicht laut protestiert, sondern durch ihre Zerbrechlichkeit berührt. Ein Mensch, der schreiben will – und erst langsam begreift, was es kostet, wenn Worte nicht mehr geschützt, sondern überwacht werden.
Anna Zöch gestaltet die Figur der Mei mit beeindruckender Präzision und innerer Spannung. Sie spielt jemanden, der gleichzeitig beobachtet und mitspielt, der alles registriert und dennoch nicht unberührt bleibt. Was ihre Darstellung so faszinierend macht, ist genau dieses Umschalten: vom sachlich kontrollierenden Beamtenblick zur verletzlichen, tastenden jungen Frau – und wieder zurück. Zöch vermeidet jede Überzeichnung. Ihr Spiel beginnt fast unscheinbar: leises Sprechen, gerader Rücken, die Hände gefaltet oder an den Mappen. Doch in dem Moment, in dem sie ein Manuskript vorlesen muss, verändert sich alles. Sie liest stockend, als müsse sie jedes Wort innerlich überprüfen, bevor sie es zulässt. Ihre Stimme ist leise, brüchig, aber hochkonzentriert – und gerade in dieser Zurückhaltung liegt enorme Spannung. Besonders eindrucksvoll sind die Momente, in denen Mei zwischen Gehorsam und innerem Widerstand schwankt. Etwa dann, wenn sie Bax zuhört, mit den Augen jede gefährliche Silbe abtastet – und man dennoch spürt, wie sie zu verstehen beginnt, was ein Text in einem Menschen auslösen kann. Oder in der leisen Szene mit Adem, wenn Nähe möglich scheint, aber sofort wieder durch Angst, Kontrolle und Pflichtgefühl eingefroren wird. Zöch gelingt es, diese Figur nicht zur bloßen Funktion des Systems zu machen, sondern als jemanden zu zeigen, der gelernt hat zu gehorchen – und dennoch denkt. Ihre Darstellung ist präzise, berührend, nie sentimental, aber voller innerer Bewegung. Damit wird sie zu einem der leisen, aber zentralen Zentren des Abends.

Adrian Stowasser spielt Bax mit einer Mischung aus Selbstironie, Müdigkeit und verletzter Überzeugungskraft. Sein Bax ist keiner, der sich als Held versteht – eher einer, der einmal geglaubt hat, dass Sprache etwas verändern kann, und nun miterlebt, wie sie geprüft, entschärft und zurechtgestutzt wird. Stowasser spielt diese Figur mit stetiger Energie, die sich mal in überdrehtem Humor, mal in Müdigkeit entlädt. Auffällig ist, wie präzise er das Schwanken dieser Figur zwischen Lässigkeit und Verzweiflung trifft: Er betritt den Raum mit spöttischem Lächeln, Tasse in der Hand, als wüsste er längst, wie dieses Spiel ausgeht. Doch sobald er zu lesen beginnt, die Stimme hebt, die Arme ausbreitet, zeigt sich der andere Bax – der, der noch immer an Text glaubt, auch wenn alle anderen längst aufgegeben haben. Besonders in den Momenten, in denen Bax Adem oder Mei gegenüber von „Wahrheit“ oder „Notwendigkeit“ spricht, wird deutlich: Er verspottet nicht die Kunst, sondern nur die Hoffnung, sie könne unbeschadet überleben. So wird Bax in Stowassers Darstellung zu einer der komplexesten Figuren des Abends – nicht als Mahner, sondern als jemand, der längst weiß, wie es endet, und trotzdem weiterspricht.
Auch in den kleineren Rollen bleiben die Darsteller überzeugend präsent. Samuel Schwarzmann setzt als Hochzeitsgast einen kurzen, aber prägnanten Akzent, der der Hochzeitsszene eine besondere Bedeutung verleiht. J-D Schwarzmann verleiht dem leitenden Beamten mit seiner kontrollierten Präsenz eine spürbare Autorität. Beide fügen sich wirkungsvoll in das Gesamtgefüge der Inszenierung ein.

Das Publikum reagierte mit großer Begeisterung – und das zu Recht. Diese Inszenierung zeigt ein Ensemble, in dem jede und jeder nicht nur für sich überzeugt, sondern vor allem auch im Zusammenspiel wirkt. Paul Wiborny, Paul Graf, Anna Zöch und Adrian Stowasser tragen den Abend mit präzisem, intensivem Spiel; die Nebenrollen greifen stimmig ein. Man spürt, dass hier kein Zufall auf der Bühne steht – sondern eine gemeinsame Haltung zum Text. Gerhard Werdekers Inszenierung ist klar, konzentriert und treffsicher geführt. Sie vertraut Holcrofts Stück und nimmt es ernst, ohne es didaktisch auszulegen. Bühne und Kostüm bleiben bewusst reduziert und schaffen gerade dadurch Raum für die Sprache, die Machtverhältnisse und die stillen Brüche zwischen Spiel und Wirklichkeit. Am Ende bleibt ein Abend, der gleichermaßen unterhält und verstört, der Lachen zulässt und doch nie harmlos wird. Ob das, was man gesehen hat, nun Wahrheit ist – oder nur eine besonders gut erzählte Lüge –, lässt das Stück offen.
Und wer wissen will, ob auch diese Kritik vielleicht nur eine Lüge ist, kann sich bis Ende November selbst ein Bild machen.