Torsten Kerl, Interview, Teil 1, IOCO

Nicht nur Gesang,
Oboist, Tenor und Künstleragent Torsten Kerl im Gespräch
Teil 1 Der Weg auf die Opernbühne
Torsten Kerl ist wegen seiner stimmlichen Qualität und Vielseitigkeit einer der herausragenden Heldentenöre der letzten Jahrzehnte. Ausgestattet mit einer warmen, leuchtenden Stimme besitzt er eine immense Höhe, eine faszinierende stimmliche Agilität und eine phänomenale Musikalität.
Er begann vor etwa zwanzig Jahren seine große Wagnerkarriere. Seine eindringliche Interpretation des Tannhäuser ist gestalterisch und gesanglich von packender Wucht (DVD Arthaus). Nach dem Parsifal in Wien folgten Lohengrin in Edinburg und Tristan in Glyndebourne. Später kamen Tannhäuser und Rienzi (Berlin,DVD Arthaus, Toulouse DVD Opus Arte) hinzu. Auch Erik im Fliegenden Holländer und Siegmund in der Walküre hat er häufig gesungen. Ferner war er ein maßgeblicher Motor der Wiederentdeckung vertrackter Opern aus dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Meilenstein seiner Karriere war die Interpretation des Paul in Korngolds „Die tote Stadt“ (DVD Arthaus). An dem weltweiten Revival dieses Werkes hat er durch seine eindringliche Gestaltung und seinen höhensicheren Gesang in Europa und den USA in zahlreichen Produktionen einen maßgeblichen Anteil. Seine Mitwirkung war Garant für suggestive Produktionen mit schwer zu besetzenden Tenorpartien in Opern wie Kreneks „Jonny spielt auf“, Hindemiths „Cardillac“ oder von Rubinsteins „Moses“.
Wohl als einziger etablierter Heldentenor hat er zudem auf Naxos bei einer „Don Giovanni“-Einspielung als markant männlicher Don Ottavio mitgewirkt. Ein Meilenstein seiner Laufbahn war sein Debüt als Siegfried in Paris. In dieser Rolle glänzte er erneut mit exzellenter Agilität und stimmlicher Vielfalt. Der Schluss des ersten Aktes gelang ihm mit fulminantem Metall. Die lyrischen Szenen des zweiten Aktes interpretierte er mit gestalterischer Emphase und immenser Poesie. Auch im Schlussduett des dritten Aktes verfügte er über unerschöpflichen Atem und fulminante Strahlkraft. Auch heute noch steht er in seinen Paraderollen auf der Bühne. Als Interpret aller großen Wagnerrollen beherrscht er die Bühne mit seiner metallischen Stimme und seiner fulminanten Bühnenpräsenz. Ob live, auf DVD oder auf Tonträgern ist Torsten Kerl einer der musikalischsten, intensivsten und herausragendsten Tenöre der letzten Jahrzehnte. Aktuell ist seine Sängerkarriere in den Hintergrund getreten, weil er sich einen weiteren Lebenstraum erfüllt und eine Sängeragentur gegründet hat. IOCO sprach mit ihm über seine bisherige Karriere und die Herausforderung der Leitung einer Agentur.
Teil 1 Der Weg auf die Opernbühne
IOCO: Sie sind in Gelsenkirchen, einer Stadt mit einer langen Musiktradition, geboren. Wie sind Sie zur Oboe und zur klassischen Musik gekommen?
Torsten Kerl: Ein Teil meiner Familie wohnt seit Generationen in Gelsenkirchen und Umgebung. Oboe habe ich gelernt, weil ich immer ein Blasinstrument spielen wollte. Um das richtige Instrument zu finden, fingen wir beim Besuch der Musikschule bei Tür 1 bei der Querflöte an. Dort gab es aber keine Leihinstrumente zum Ausprobieren. Nach mehreren Türen kamen wir zur Oboe. Die Lehrerin suchte Schüler und hatte genug Leihinstrumente. Sie war sehr nett, so blieb ich. Meine Eltern hatten ein Opernabonnement. Die Oper war aber kein wesentlicher Antrieb für mein Musizieren.

Mir haben Musik und das Oboe-Spiel generell viel Freude gemacht. Ich habe dann bei Jugend musiziert einen zweiten Bundespreis gewonnen. Meine Eltern stellten mich daraufhin an der Essener Folkwang-Hochschule vor. Der damalige Professor Pierre Feit hat mir dann eine seiner Studentinnen als Lehrerin empfohlen und später habe ich dann bei ihm Oboe studiert. Aus Interesse habe ich auch noch für Dirigieren, Komposition und Harfe eingeschrieben. Nach einem Jahr Komposition war ich aber der Meinung, noch einen Tag länger mit dem Professor und ich höre nie wieder Musik.
Zum Gesangsunterricht kam ich durch Bach und die „Kreuzstab-Kantate“. Die haben wir in Mülheim für den WDR Köln eingespielt. Der Bariton, der dort sang, gefiel mir. Er war sehr musikalisch und ich habe ihn gefragt, ob er Gesangsunterricht gibt, weil ich wissen wollte, wie das Musizieren ohne Instrument ist.
Als Sänger selbst das Medium zu sein, kannte ich nicht und fand es interessant. Nach meinem Vorsingen hat der Bariton vorsichtig den Klavierdeckel zugeklappt und gesagt: „Um Gottes Willen, Ihre Sprache klingt wie 0,8 Promille im Blut und Sie haben überhaupt keine Stimme, aber wenn Sie Spaß haben, machen wir trotzdem Gesangsunterricht.“ Nach wenigen Stunden habe ich ihm gesagt: „Wissen Sie, zu Hause mache ich das immer anders als jetzt im Unterricht, denn hier bei Ihnen singe ich alles immer ganz leise und vorsichtig.“ Da hat er gesagt: „Machen Sie es doch so wie zu Hause.“ So haben wir eigentlich zum ersten Mal meine Stimme entdeckt. Er war ein hervorragender Privatlehrer, bei dem habe ich wirklich singen gelernt. Als ich gemerkt habe, die Tiefe war nicht so recht ausbaufähig, während die Höhe sich immer weiterentwickelte, haben wir uns Halbton für Halbton hochgearbeitet und trainiert, bis ich ein Tenor war.
Ich war trotz des Gesangsunterrichts überzeugter Symphoniker und Orchestermusiker. Einige Sänger fand ich schon in meiner Orchesterzeit als Interpret gewöhnungsbedürftig. Als Orchestermusiker musste ich oft Passagen wiederholen, bis zum Beispiel der Tenor die Triole oder die Arie korrekt singen konnte. Das Orchester spielt beispielsweise den Großteil der Arie vor und der Tenor singt das Thema dann trotzdem völlig anders. Operntenor war für mich deshalb eine andere Perspektive. Ich war ja für einige Zeit ein professioneller Solooboist in einigen Symphonie- und Opernorchestern. Wächst man als Orchestermusiker auf, hat man einen anderen Blick auf Gesangssolisten.

Trotzdem habe ich, als ich nach meinem Gesangsunterricht soweit war, gedacht, entweder du wirst jetzt Sänger oder nie. Mein erstes Gesangsengagement war in Gelsenkirchen. Der Dirigent Neil Varon hat mich gefragt, ob ich nicht in einem Sinfoniekonzert Haydns Oboenkonzert spielen möchte. Während der Probe sprach er mich auf meinen Gesangsunterricht an und ließ mich vorsingen. Zwei Arien wurden in das Konzert eingebaut. Darauf kam der Intendant und schlug ein Projekt aus mehreren Rossini-Arien am Theater vor, das mir gefiel.
Das war das erste Mal, dass ich auf einer Opernbühne stand und Singen und Schauspielen musste. Das hatte ich als privater Gesangsschüler nie gelernt. Es hat aber Spaß gemacht. Nach der Generalprobe für das Konzert haben sie mich für zwei Jahre engagiert. Zeitgleich sang ich noch an der Semperoper Dresden vor. Sie suchte einen Fachtenor für mittlere und große Partien, und dort habe ich dann den „Matteo“ in Arabella von R. Strauss gesungen. Ein Engagement in Dresden mit großen Partien war mir aber noch zu früh, und so ging ich nach Gelsenkirchen. Das war richtig, weil mir die Erfahrung im Singen und der Partienauswahl fehlte. Im ersten Jahr in Gelsenkirchen habe ich viele kleine Rollen gesungen, was eine gute Eingewöhnung war.
Am Ende der Saison gab mir ein erfahrener Kollege den Rat, ins Betriebsbüro zu gehen, um nach meinen Partien für die nächste Saison zu fragen. Im Moment, als ich ankam, strömte das Leitungsteam aus einem Besprechungsraum und der Intendant sagte: „Ach, den Kerl, den haben wir völlig vergessen.“ Da war ich natürlich erstaunt und enttäuscht. Ich habe vorsichtig gesagt: „Entschuldigung, nur um das klarzustellen, Sie haben mich engagiert. Ich gehe davon aus, dass Sie wussten, warum Sie dies taten.“ Ein Dramaturg sagte: „Ja, ja, wir werden schon irgendetwas finden.“ Da war mir klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich habe erneut den erfahrenen Kollegen befragt, der mir antwortete: „Du bist ja blöd, dass du alles allein machen willst. Du brauchst einen Agenten. Bei Sängern läuft alles über Agenturen, die wissen, wo eine Stelle frei und wo es für dich realistisch ist.“ Daraufhin habe ich einer Agentur in Düsseldorf vorgesungen.

Der Agent meinte, ich müsse weg aus Gelsenkirchen, denn dort wüssten sie nicht, wie ich einzusetzen sei. Ich wäre der klassische Zwischenfach-Tenor. Ich sei nicht dramatisch genug für Heldentenor, aber nicht lyrisch genug für lyrischen Tenor. Überall habe ich dann vorgesungen und kaum einer wollte mich. Der Standardsatz war, dass ich in zehn Jahren wiederkommen solle. Man suche entweder einen dramatischen Tenor, der ich noch nicht sei oder einen lyrischen Tenor, der ich nicht mehr sei. Ich wäre jedoch auf einem guten Weg.
Meine Freundin und heutige Frau, die ich damals in Gelsenkirchen an der Oper kennengelernt hatte, war der dramatische Mezzo am Haus und der Star in Gelsenkirchen. Sie wurde nach Karlsruhe engagiert zu Günter Könnemann. Da habe ich meinem Agenten gesagt: „Insgesamt und in Bezug auf die Beziehung würde ich dort gerne auch noch vorsingen.“ Er hat mir erwidert: „Du, der hat fünf Tenöre für jedes denkbare Fach, der braucht keinen Tenor mehr und wir haben dort schon gefragt. Aber wenn du unbedingt willst, der hat Ahnung von Stimmen und wir fragen deshalb nach einem informativen Vorsingen.“
Nach dem Vorsingen bot er mir direkt eine Stelle an und so bin ich nach Karlsruhe gekommen. Meine erste Partie war Hans in „Die verkaufte Braut“, also von null auf hundert. Von der Agentur habe ich danach nichts mehr gehört. Die waren also froh, dass ich in Karlsruhe war und regelmäßig monatlich mein Geld bezahlte. Danach kam „Fürst Igor“ von Borodin. Da habe ich die Tenorpartie des Wladimir gesungen mit meiner jetzigen Frau. Danach kamen plötzlich alle Agenten, die mich vorher nie angeguckt haben und sagten: „Sie sind der Größte. Sie sind der Beste. Sie sind der neue René Kollo. Pavarotti hat Konkurrenz...“ und so weiter. Ich dachte mir, das klingt doch alles völlig unseriös, denn vorher wollten sie nicht mal mit mir telefonieren, plötzlich drehten alle am Rad. An diesem Abend begegnete mir ein Agent aus Wien, der hat gesagt: „Also die Stimme hat was, das kann ich Ihnen sicher zusagen. Ich könnte Ihnen die Tür zum Vorsingen an der Wiener Staatsoper aufmachen. Den Rest müssen Sie selbst machen.“ Das klang vernünftig und deshalb bin ich hingefahren, habe vorgesungen und der damalige Intendant Ioan Holender hat mich engagiert. Vier Jahre nach dem ersten Ton in Gelsenkirchen war ich plötzlich an der Wiener Staatsoper.