Münster, Theater Münster, LEOPOLDSTADT - Tom Stoppard, IOCO
2024/25 eröffnet das Theater Münster mit der deutschen Erstaufführung des Schauspiels Leopoldstadt des britischen Autors Tom Stoppard. Es ist die Geschichte der jüdischen, in Wien ansässigen Familie Jakubovicz ----
Die Wiederkehr des Antisemitismus - Saisonauftakt am Theater Münster - bedrückend mit „Leopoldstadt“
Von Hanns Butterhof
Die neue Spielzeit 2024/25 eröffnet das Theater Münster mit der deutschen Erstaufführung des Schauspiels Leopoldstadt des britischen Autors Tom Stoppard. Es ist die Geschichte der jüdischen, in Wien ansässigen Familie Jakubovicz über drei Generationen, vom hoffnungsfrohen Aufbruch um die Jahrhundertwende bis zum erschütternden Rückblick auf den Holocaust.
Das Stück hat neun Szenen, die in Münster meist bruchlos hintereinander stehen; die wenigen notwendigen Bühnenarbeiten werden bei geöffnetem Vorhang geräuschlos vorgenommen. Mit Ausnahme der letzten Szene folgt immer auf ein episches Familientableau eine kürzere dramatische Passage, in der einzelne Familienmitglieder deutlicher gekennzeichnet ins Rampenlicht treten. Am klarsten lässt sich die Figur des Hermann verfolgen.
Aber der Held des Stücks ist die Familie Jakubovicz. Schon ihr erster Auftritt ist fulminant. Das komplette 27-köpfige Ensemble drängt machtvoll auf die Bühne, als hätte sich eine lang verschlossene Tür für sie geöffnet. An der Rampe stellen sie sich bühnenbreit nebeneinander auf und nennen ihre Namen und ihren Platz im Familiengeflecht, etwa Großmutter Emilia, Ludwig, ihr Sohn, Eva, ihre Tochter usw. Glücklich, wer sich alles merken kann, aber es geht zuerst doch mehr um die Familie als Ganze als um ihre einzelnen Mitglieder.
Die Großmutter, so heißt es, ist noch zu Fuß aus einem galizischen Shtetel nach Wien gewandert. Weihnachten 1899, wenn das Stück beginnt, ist die Familie deutlich arriviert. In einem großbürgerlichen Salon mit Stuckdecke und Kronleuchter (Bühne: Nicolaus-Johannes Heyse), ist an einem langem Esstisch die Familie um die Großmutter Emilia (Katharina Brenner) versammelt. Ein Kinderwagen und der geschmückte Christbaum zeugen von Zukunftshoffnung und Toleranz, ein Klavier von Kunstsinn. Man trägt aufwendige Mode (Kostüme: Jenny Schall), die Damen bodenlange faltenreiche Kleider mit betontem Cul de Paris, die Herren Frack mit Fliege oder Krawatte; mit Poldi (Gabriele Jasper) hat man auch ein Dienstmädchen.
An dem Tannenbaum haben die Kinder einen Davidstern angebracht, und aus dem munteren Familiengeplauder darüber hebt sich das Gespräch der Männer über das Verhältnis der Juden zu den Christen heraus. Hermann (Christian Bo Salle) ist ein erfolgeicher Unternehmer, der an die vollständige Emanzipation der Juden in Österreich glaubt und auch als Kunstmäzen – seine Frau Gretl (Nadine Quittner) ließ er von Gustav Klimt malen – in „besseren“ christlichen Kreisen verkehrt. Dagegen setzt sein Schwager Ludwig (Artur Spannagel) auf Theodor Herzls Theorie vom eigenen Judenstaat, in dem allein die Juden vor Verachtung und den periodischen Pogromen sicher sein könnten.
Die neue österreichische Verfassung von 1867 hatte die rechtliche Gleichstellung der Juden festgelegt.Wie die Wirklichkeit aussah, musste Herrmann erfahren, als seine Frau ein Verhältnis mit einem österreichischem Offizier (Julius Janosch Schulte) eingegangen war. Als er von diesem eine Entschuldigung forderte und ersatzweise ein Duell anbot, erklärte ihn der arrogante Antisemit für nicht satisfaktionsfähig. Die Konsequenzen, die Hermann aus dieser Erfahrung zog, werden erst später deutlich.
Da ist, unter dem Lärm von Geschütz- und Gewehrfeuer, der Erste Weltkrieg vergangen, der auch vaterländische Opfer in der Familie gefordert hat. Es ist 1924, der Enkel Aaron wird vermisst, Hermanns und Gretls Sohn Jacob hat ein Auge verloren, ein Arm ist unbrauchbar. Aber man ist zusammengekommen, um Brit Mila zu feiern, die Beschneidung eines neugeborenen männlichen Nachkommen. In einer breiten, so turbulenten wie komischen Szene um die orthodoxe Beschneidung geht nahezu unter, welche vorausschauende Verfügungen Hermann mit dem nationalistischen Bankier Otto (Ilja Harjes) trifft.
Hatte Hermann große Hoffnung in die bruchlose Assimilation der Juden gesetzt, so sind diese Hoffnungen zerbrochen. 1938 scheint die gealterte Familie verarmt, die Wohnung ist trist geworden. Während von draußen das Klirren von zerbrochenem Glas und Schüsse zu hören sind, wird noch über den Verbleib in oder die Flucht aus Österreich diskutiert. Manche sind der Ansicht, es handle sich nur um einen der periodischen Pogrome, der vorübergehen werde. Dem setzt der englische Journalist Percy (Alaaeldin Dyab), der mit Aarons Witwe Elena liiert ist, energisch seine Ansicht entgegen, nur die Emigration könne die Juden noch retten., Seine Voraussagen bestätigen sich, als ein austrofaschistischer, korrekt gekleideter Beamtentyp im Befehlston die Vollständigkeit der Familie notiert und sie dann aus ihrer Wohnung in die titelgebende Leopoldstadt verweist, das ehemalige jüdische Ghetto im 2. Wiener Bezirk auf der anderen Donauseite.
Dass die Leopoldstadt nur Durchgangsstation auf dem Weg in die Konzentrationslager war, wird 1955 deutlich, als bei der Rückgabe der enteigneten, jetzt nur noch bruchstückhaft vorhandenen Wohnung die drei letzten Familienmitglieder zusammenkommen. Rosa (Katharina Rehn) ist frühzeitig nach New York emigriert, wo sie als Analytikerin arbeitet; Nathan, (Pascal Riedel), ihr Neffe, hat als einziger der Familie Auschwitz überlebt. Leo, der Stiefsohn Percys, ist in England aufgewachsen und fühlt sich als Engländer. Ihm gegenüber - und das ist die Botschaft an das Publikum - verweisen die beiden anderen auf die Notwendigkeit der Erinnerung und die sich daraus ergebende Verantwortung: der immer wieder genannte Todesort für die Mitglieder der Familie Jakobovicz ist Auschwitz, und Auschwitz soll nie wieder sein.
In einer Zeit der Wiederkehr des Antisemitismus' könnte „Leopoldstadt“ das Stück der Stunde sein. Johanna Schall hat es handwerklich solide und wirkungsvoll inszeniert. In eine winzige Szene hat sie ihre pessimistische Ansicht über die Wiederkehr des politischen Antisemitismus verpackt. Da stolpern alle Erwachsenen beim Dinner immer wieder über ein Kinderspielzeug, das neben dem Esstisch liegen geblieben war: im Zusammehang mit dem Antisemitismus bleibt beim „same procedure as every year“ das Lachen im Hals stecken.
Das Ensemble, in dem mehrere nicht nur eine Rolle übernehmen, spielt beeindruckend, auch wenn viele der Figuen recht eindimensional gezeichnet sind. Besonders hervortuheben ist vor allem Katharina Brenner als Großmutter Emilia mit überzeugend jüdischer Lebensweisheit und Spielfreude.
Für alle Beteiligten gab es langen, schließlich auch im Stehen dargebrachten Beifall des Premierenpublikums. Das begeisterte Johlen und Pfeifen jedoch war befremdlich.
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