Rostock, Hochschule für Musik und Theater, Orlando - G. F. Händel, IOCO
Gelungenes Opernprojekt mit Händels „Orlando“
Furioses gibt es aus Rostocks Hochschule für Musik und Theater (HMT) zu vermelden. Und das darf wörtlich genommen werden. Denn als jährlich jeweils im Herbst präsentiertes, eigenverantwortlich erarbeitetes studentisches Opernprojekt stand diesmal unter der Gesamtleitung von Professorin Martina Rüping Händels „Orlando“ auf dem Programm: 1732 im Oktober/November komponiert und am 27. Januar 1733 im Londoner King´s Theatre, Haymarket, uraufgeführt. Hinsichtlich der Librettistenfrage vermeldet das maßgebliche Händel-Werkverzeichnis (Baselt, HWV 31)) : „Bearbeiter unbekannt (nach „L´Orlando, overo La gelosa pazzia“ von Carlo Sigismondo Cepece, Rom 1711...auf Motiven des „Orlando furioso“ von Ludovico Ariosto, 1532, beruhend)“. Der französisch-mittelalterliche Sagenstoff ist berühmt und sowohl vor als auch nach Händel vielfach vertont worden. Verwunderlich ist das nicht, denn Personenkonstellationen wie Handlungsstränge bieten denkbar beste Voraussetzungen für eine hochdramatische musikalische Gestaltung. Vor allem dann, wenn – wie bei Händel – jenseits gängigen italienischen Opera-seria-Kanons der Fokus auf unverfälschter, unmittelbarer und die Protagonisten variabel charakterisierender Leidenschaftlichkeit liegt; bis hin zur extremen Form des Wahnsinns aus verschmähter Liebe!

Aber auch sonst ist an unterschiedlichsten, kompositorisch wirkungsvoll gestaltbaren Konflikten kein Mangel. Das Grundgerüst der Handlung: Orlando, ein bretonischer Ritter, liebt Angelica, Fürstin von Cathay. Die aber ist ihrerseits dem maurischen Prinzen Medoro zugetan, dem allerdings auch die Liebe der Schäferin Dorinda gilt. Zoroastro, ein weiser Magier, hat stückbestimmend viel zu tun, um genannten Konstellationen geschuldete und teils dramatische Verwicklungen zu entwirren und Schlimmes zu verhindern,;vor allem aber Orlando die Liebe zu Angelica auszureden. Er sei schließlich ein ritterlicher, kriegerischer Held, der sich als solcher um ganz andere Dinge zu kümmern habe. Zoroastro ist es dann auch, der Orlando vom Wahnsinn heilt und ihn zu ganz neuen Einsichten führt. Folgerichtig gibt es ein Finale mit allseitiger Versöhnung und den Triumph wahrer (und sehr unheldischer) Menschlichkeit.
Das schreit nach Vertonung, nach Gestaltung erkennbar unterschiedlichster, musikdramatisch reizvoll differenziert anlegbarer Handlungs- und Empfindungsebenen. Und so fühlte sich ein Bühnengenie wie Händel, dem ein Oskar Bie („Die Oper“) noch 1913 sehr bedauernd keine Lebensfähigkeit auf der Openbühne bescheinigte, wohl sehr direkt angesprochen. Sein „Orlando“ steht denn auch mit einiger Berechtigung am Anfang der Wiederentdeckung des Händelschen Opernschaffens zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Halle/Saale 1922, Bearbeiter Hans Joachim Moser, und in textlicher Neufassung, Waltraud Levin, ebendort 1961).

Im allgemeinen Qualitäts-Ranking“ Händels Opernschaffen betreffend steht der „Orlando“ ganz oben. Stellvertretende statements für viele: „Händels Oper hat nicht nur als Kunstwerk Qualitäten ganz besonderer Art, sie hat auch historisches Interesse durch Ähnlichkeiten in ihren ästhetischen Problemen mit Gluck und Mozart“ (Hugo Leichtenritt, Händel, 1924, S. 736). Oder: „Mit ´Orlando´ war einer der Gipfelpunkte Händelscher Opernkunst erreicht.“ (Waltraud Levin/Miriam Margraf, Händel, 1984, S. 181).
Der Rostocker Griff zu Händels „Orlando“ ist also wohl kein Zufall. Genau so wenig wie das Faktum, dass Martina Rüping, Professorin für das künstlerische Hauptfach Gesang an der HMT und dort seit 2021 auch Gesamtleiterin der Opernproduktionen, das Werk, seine Qualitäten und Anforderungen aus eigener sängerischer Praxis bestens kennt; zum Beispiel auch als Dorinda am Landestheater Halle/Saale (1993). Spannendes Neuland war dieser Händel aber wohl für die (freischaffende) Regisseurin Frauke Meyer, die der HMT Rostock als Lehrkraft für „Szenische Darstellung“ verbunden ist. Für Bühnenbild, Kostüm und Maske sorgte Sebastian Ellrich, bundesweit als Kostüm-und Bühnenbildner tätig, für den musikalischen Bereich Florian Erdl, seit 2023 Professor für Dirigieren an der HMT und hier am Pult des hauseigenen Sinfonieorchesters. Für ein vorzüglich gestaltetes, sehr umfangreiches und höchst informatives Programmheft sorgten HMT-Professorin Friederike Wißmann (Händels Orlando. Einige Gedanken zu Macht und Moral auf und auch hinter der Bühne), sowie die Studenten Charlotte Reitz (Die Wahnsinnsarie – eine barocke Opernarie? Musikalische Darstellung von Wahnsinn in Händels Orlando), Estelle Enkelmann ( Vom Epos zur Oper. Die Liebesgeschichte von Angelica und Medoro bei Ariosto und Händel) und Raoul Biedinger ( Magie und Natur. Zwei Hauptfiguren in Händels Orlando). Es sind dies Beiträge, die als Informationen zum Komponisten, dem Umfeld des Werkes und aufführungspraktsichen Bezügen geradezu unabdingbar erscheinen – und auch nach einer Aufführung – davor schafft man es kaum – lesenswert sind.
Sie aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen war schon deshalb nötig, da ein dezidiert die Absichten der Inszenierung konkretisierender, zusammenfassender Beitrag fehlt, sich aus den erwähnten Artikeln aber die für die Inszenierung grundlegenden Gestaltungspunkte herauslesen lassen; zumindest als Präsentation von Absichten. Es geht um die Themen „Liebe, Krieg und Wahnsinn“, die, in einen Großkonflikt verwoben, „erst in einem magischen Spektakel moralisch gelöst werden können...“ Und, nochmals die genannten Programmheftbeiträge betreffend, um das Befragen der Konflikte hinsichtlich ihrer „möglichen Auslegungen“. Soweit so eindeutig. Weil recht theoretisch beziehungsweise spekulativ, scheint aber das, was hinsichtlich des Konzepts als „kritische Wendung“ figuriert: „So etwa wird den unzähligen Naturbildern, dem Wald, der Höhle und der pastoralen Fantasie mit einer inszenierten Häuslichkeit und dem Artifiziellen begegnet. Das Grün ist nicht das einer gegebenen Natürlichkeit, sondern es markiert eine Unsicherheit, die Gesellschaft, Geschlecht und Liebe gleichermaßen zeichnet“ (Adrian Fühler im Programmheft).
Die Worte liest man wohl, allein: wo und wie sind solche Absichten darstellbar und erkennbar? Das Auge erblickt keine Natur, obwohl das gesamte Werk auf ihrem Vorhandensein basiert. Es gibt weder Wald noch Höhle, allenfalls eine (erst später) aufzublasende Hütte, keinerlei Grün, dafür je drei links und rechts auf der Bühne postierte lebensgroße und (anfangs noch) personenbezogen gekleidete Puppen. Ihnen weist Zoroastro während der Ouvertüre dann die entsprechenden singenden Personen zu.
Bühnenmittig dominiert ein großer, mit Stühlen bestückter Metallbogen die Szenerie, dessen Bedeutung unklar bleibt. Im Hintergrund ist das Orchester positioniert, davor dient ein stuhlbestückter Bühnenstreifen als Aufenthalts-, An- und Umziehort für die jeweils einmal nicht beteiligten Protagonisten, und davor wiederum steht der die gesamte Raumbreite einnehmende große „Bühnenrest“ als großräumig Handlungsort zur Verfügung. Rechts und links oben erscheint der deutsche Text des italienisch gesungenen Werkes.
Viel zu tun also für die Augen und auch kein Ausruhen für Ohren und Geist! Alles ist und bleibt offen. Jede Bewegungsnuance ist optisch einsehbar, jedes Handeln nachzuvollziehen, so richtig verständlich allerdings erst bei genauerer Kenntnis aller Abläufe. Das betrifft auch die Identifikation von Handlungsorten und – sehr wichtig – unterschiedlich motivierten Gemütszuständen. Alles in allem aber erweist sich die unverändert bleibende, sachlich-nüchterne Bühnenlösung einschließlich variabler Lichtinstallationen (Beleuchtungsmeister Christoph Evert) und wohl verzichtbaren Bühnennebels für diesen Konzertsaal als ausgesprochen praktikabel! Und anregend! Denn da ist nicht zuletzt auch hinsichtlich fantasievoll und zumeist gelb-grün kostümierter Protagonisten – who is who? - der hellwache Besucher gefragt, dem andernfalls die eine oder andere Verständnislücke drohen könnte. Nicht zuletzt im Blick auf eine Inszenierung, die sowohl die Person des Orlando als auch die des Medoro mit Frauen besetzt. Das verweist auf die Praxis der Händel-Zeit, die für Männerrollen auf die hohen Stimmen von verkleideten Kastraten zurückgriff und die heute, so man hat, Countertenören zugeordnet wird. Lediglich Zoroastro ist stimmlich männlich vergeben.

Für unsere heutige Rezeption ist das nicht ohne Konsequenzen. Gängige Hörerfahrungen und -erwartungen hinsichtlich charakterisierender Unterschiede in Stimmhöhe, Stimmklang und Stimmcharakter werden nicht bedient. So muss man sie per Ohr – bestenfalls in historischem Hören geübt - mit besonderer Aufmerksamkeit aus dem relativen Gleichklang von vier Frauenstimmen herausfiltern, die charakterisierenden Unterschiede als solche erkennen und wohl auch die dann spezifiziert anders empfundenen emotionalen Ergebnisse zu akzeptieren versuchen. Etwa in der berühmten, viel beschriebenen, hochgelobten, in Rostock rezeptiv nicht ganz leicht einzuordnenden „Wahnsinns-Szene“.
Schwer gefallen ist das bei dieser Rostocker Aufführung dennoch nicht. Denn beide alternierenden studentischen Solo-Besetzungen waren sängerisch wie darstellerisch bestens vorbereitet und bereits profiliert genug, um souverän etwaige diesbezügliche Defizite gar nicht erst erkennbar werden zu lassen. Schnell klärten sich personelle Zuordnungen, wurden im Geschehen jene auch musikalisch differenzierten Handlungsebenen deutlich, die das Stück strukturieren und die Abläufe sinnvoll erscheinen ließen. Das will viel heißen und war in erster Linie dem sängerischen Vermögen aller Protagonisten zu verdanken. Es war schon erstaunlich – hier sprechen wir vom 25. Oktober als der letzten einer Reihe von fünf deutlich über 1000 Besucher zählenden Aufführungen - mit welcher gesangstechnischen Sicherheit man diesen in jeder Hinsicht anspruchsvollen Händel zu präsentieren vermochte. Und mit welcher so intensiv ausgesungenen wie klanglich sensiblen, ja berührenden Affekthaftigkeit die emotionalen wie realen Aktionsräume mit Spannung und fesselnder Stringenz belebt werden konnten. Da gab es für Lea Hartlaub (Orlando; sonst auch Sina Dollinger)), Ina Böger (Angelica; Lisa Hübner), Soraya Eben (Medoro; Maxine Moesta), Josefine Holzhausen (Dorinda) und Jaeyoung Shin (Zoroastro; Tobias Fehlow) schon mal berechtigten Zwischenbeifall für perfekte, lebendige Rezitative, Ariosi und Arien von doch recht unterschiedlich zu gestaltenden Aussagen: von der finalen Begeisterung am Ende des Abends ganz abgesehen.
Die galt natürlich in hohem Maße auch dem Orchester. Angemessen reduziert und im Generalbass mit zwei Cembali sowie Orgel besetzt, ließ Florian Erdl mit jenem lockeren, tonlich höchst differenziert belebten und auch metrisch-rhythmisch historisch informierten Gestus musizieren, ohne den heute eine barocke Oper nicht mehr denkbar ist; schon gar nicht ein so differenziert gefühlshaft „menschlich“ komponierender und den Hörer unbedingt mitnehmender Händel. Und so war es ein ungetrübtes Hörvergnügen, die singenden und spielenden Protagonisten auf ihrer so kontrastgeschärften wie von teils überbordenden Leidenschaften geprägten Wanderung durch die Gefilde großer Emotionen zu begleiten. Ja, es sollte „funktioniert“ haben, nämlich – wie Friederike Wißmann im Programmheft formulierte – die Affekte barocken Musiktheaters nicht nur auf der Bühne glaubhaft dargestellt, sondern sie auch im Publikum hervorgerufen zu haben. Was wollte man mehr!