Retz, Kellertheater, DAS ZWEITE GESICHT - Sherlock Holmes, IOCO
Der berühmte Retzer Erlebniskeller mit eigenem Theater – im kleinen Ort Retz, nahe der tschechischen Grenze, 75 Km von Wien - besitzt ein einzigartiges, Jahrhunderte altes Bauwerk, ein fantastisches Labyrinth aus Röhren und Stollen, mit 20 km Gesamtlänge .....
von Marcus Haimerl
Abtauchen im Retzer Erlebniskeller
Der berühmte Retzer Erlebniskeller – im kleinen Ort Retz, nahe der tschechischen Grenze, 75 Km von Wien - besitzt ein einzigartiges, Jahrhunderte altes Bauwerk, ein fantastisches Labyrinth aus Röhren und Stollen, mit 20 km Gesamtlänge wesentlich dichter und weiter ausgebaut als das oberirdische Straßenverkehrsnetz. Bis zu 20 Meter tief sind diese Keller hier in reinen Meeressand gegraben, manche davon sind dreigeschossig angelegt.
Wenn der Zirkus Baskerville in diesem Erlebniskeller seine Zelte aufschlägt, muss Sherlock Holmes das Cluedo-Spielbrett zur Seite legen und sich von Dr. John Watson mit sanfter Gewalt in den Retzer Erlebniskeller schieben lassen. Gerade findet die Halloween-Vorstellung statt, als auf die neue Zirkusdirektorin Harriet Baskerville ein Attentat verübt wird. Ein mysteriöser Brief warnt sie: „Wenn Sie Wert auf Ihr Leben legen, spielen Sie an Halloween keine Vorstellung. Packen Sie Ihre Sachen und verschwinden Sie für immer.“ Schnell ändert sich die Stimmung des Meisterdetektivs: es gibt einen neuen Fall.
Seit 2013 finden im Retzer Erlebniskeller Theateraufführungen in Form eines Stationentheaters statt. Als 2018, nach Stücken wie Der Name der Rose oder Jack the Ripper, diese noch recht junge, aber liebgewonnene Tradition vor dem Aus stand, ergriffen Ursula Leitner und Nikolaus Stich die Initiative und gründeten den Verein „handikapped unicorns Niederösterreich“ mit dem Ziel Kunst- und Kulturprojekte in Retzer Land im Allgemeinen und im Erlebniskeller im Speziellen zu veranstalten.
Mit Der Hexer entführte das Theaterkollektiv das Publikum im Erlebniskeller in das London der Swinging Sixties. Das in Folge geplante Stück Der Hund von Baskerville war bereits fertig geprobt, als es zu einer pandemiebedingten Absage kam. Es fand sich aber eine Ersatzlösung. Das Stück Die Wunderland-Affäre – was Alice vertuschte brachte das Publikum, in kleinen Besuchergruppen, in Lewis Carrolls fantastische Welt und es genügten meist zwei Schauspieler pro Station. Nach dem Ende der Pandemie konnte der reguläre Spielbetrieb wieder aufgenommen werden, allerdings war Der Hund von Baskerville mit Erinnerungen an den ersten Lockdown verbunden, weshalb Ursula Leitner, Nikolaus Stich und Valentin Werner eine neue Geschichte um Sherlock Holmes und Dr. Watson schrieben. Das Ergebnis ist eine gruselige, aber auch humorvolle Kriminalkomödie: Sherlock Holmes Das zweite Gesicht nach den Romanen von Sir Arthur Conan Doyle mit einer Prise Grusel à la American Horror Story (die vierte Staffel Freak Show der amerikanischen Horror-Anthologie).
Die Handlung beginnt bereits vor dem Kellereingang. Sherlock Holmes hasst Zirkus, dennoch wird er von Dr. Watson genötigt in den Keller zu gehen. Es handelt sich um die Halloween-Vorstellung. Eine alte Zirkuslegende besagt jedoch, dass der Geist von Edward Mordrake, zu Lebzeiten ein Mann mit einem zweiten Gesicht am Hinterkopf, jeden tötet und zu seiner Seelenkollektion holt, der es wagt am Halloweenabend eine Performance zu inszenieren. Harriet Baskerville hat den Zirkus von ihrem kürzlich unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommenen Vater Charles Baskerville übernommen. Holmes und Dr. Watson werden Zeugen eines versuchten Attentats auf die Zirkusdirektorin und plötzlich ist das Interesse des Detektivs am Zirkus geweckt. Für das Ermittlerduo stellen sich nun einige Fragen: Treibt hier wirklich ein Geist sein Unwesen? Wer hätte noch Interesse am Verschwinden von Harriet Baskerville ? Und ist im Zirkus wirklich jeder der, für den er oder sie sich ausgibt?
Die Regiearbeit von Ursula Leitner und Nikolaus Stich besticht durch präzise Personenführung und einer beeindruckenden Fähigkeit die einzelnen Charaktere lebendig werden zu lassen. Jede Bewegung wirkt durchdacht und unterstützt die Entwicklung der Protagonisten, während die Interaktion zwischen den Figuren authentisch und überzeugend ist. Zusammen mit den passenden Bühnenbildern (Technik, Licht- und Tondesign: Martin Kerschbaum und Patrick Wildhofner-Schmid) und den großartigen Kostümen von Petra Teufelsbacher entsteht die richtige Atmosphäre, um das sich ständig in Bewegung befindliche Publikum vollständig in das Stück eintauchen zu lassen.
Großartig auch die Maske: Michelle Hofbauer, Daniela Novelli, Petra Teufelsbacher und Hannelore Uhrmacher.
Herausragend sind aber auch die darstellerischen Leistungen des gesamten Ensembles. Grandios ist Klemens Dellacher als Sherlock Holmes. Seine Interpretation des legendären Detektives zeichnet sich durch eine gelungene Mischung aus Intelligenz und Scharfsinn, gepaart mit einer Portion trockenen Humors aus. Dellacher verleiht Holmes eine faszinierende Tiefe, bringt gleichzeitig eine spielerische Leichtigkeit in die Rolle und überzeugt nicht nur mit schauspielerischer Leistung, sondern auch mit charismatischer Präsenz und perfekter Diktion.
J-D Schwarzmanns Darstellung von Dr. Watson ist eine bemerkenswerte, aber auch humorvolle Interpretation des legendären Partners des britischen Meisterdetektives Sherlock Holmes. Schwarzmann fängt die Essenz des von Dr. Watson perfekt ein, indem er ihn als loyalen und brillanten Begleiter darstellt, der gleichzeitig den nüchternen Kontrast zu Holmes exzentrischer Genialität bildet. Darüber hinaus gelingt es Schwarzmann, Dr. Watson als eigenständige Persönlichkeit zu präsentieren, die mehr ist als nur ein Begleiter.
Kerstin Zinober überzeugt in der Rolle der Zirkusdirektorin Harriet Baskerville. Mit ihrer nuancierten Darstellung zwischen Entschlossenheit, Verletzlichkeit und Komik fängt sie die Komplexität der Rolle perfekt ein und besticht durch die Leidenschaft ihres Spiels.
Sophie Benedikte Stocker begeistert in ihrer Rolle als „The Bearded Beauty“ Eliza Barrymore. Lara Fabienne Karasek ist eine fantastische Joanna „The Snake“ Barrymore, die nicht nur durch ihre Performance, sondern auch durch ihre namensgebende Beweglichkeit fasziniert und offensichtlich gemeinsam mit ihrer Mutter Eliza ein Geheimnis hütet.
Nikolaus Stich ist nicht nur Autor und Regisseur der Kriminalkomödie, sondern stellt auch noch den zaubernden Buchhalter „Magic James“ Mortimer hervorragend dar.
Samuel Schwarzmann brilliert in seiner Rolle als Clown Jack „The Joker“ Stapleton. Mit einer schauspielerischen Meisterleistung verleiht er der Figur des Spaßmachers mit Alkoholproblem eine faszinierende Vielschichtigkeit.
Auch Julia Handle als seine messerwerfende Frau Beryl „The Blitz“ Stapleton versteht es, mit Intensität und Ausdruckskraft das Publikum zu fesseln.
Gerald Walsberger, der mit seiner Gesichtsmaske à la Hannibal Lecter einen ebenso geheimnisvollen wie charaktervollen Selden „The Strong“, den starken Mann der Zirkustruppe, verkörpert, hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Als nicht immer stumme Pantomimin „Silent Zibi Bip“ begeistert Michelle Hofbauer ebenso wie Lisa Hochrainer in ihrer Rolle als „Hilarious Hannah Houlah“. Als Zirkuskapelle, die neben Sherlock Holmes und Dr. Watson das Publikum sicher durch das Kellerlabyrinth lotsen, begeistern Daniela Graf, Fabian Hauser, Laura Klausgraber, Robert Schirrer und Klaus Wiklicky-Leitner.
Nach einem rund zweistündigen Spaziergang durch das unterirdische Retz dankte das Publikum mit viel Begeisterung dem herausragenden Ensemble für diese unglaubliche Leistung.
Wer wissen will, was im Zirkus Baskerville vor sich geht, ob es Edwar Mordrake wirklich gibt und was Frankie Miller der Mörder von Nottinghill damit zu tun hat, sollte die Gelegenheit nutzen und das Kellertheater Retz aufsuchen.
Für jene, die das Stück bereits gesehen haben, bleibt abzuwarten womit das Kellertheater Retz mit dem Verein „handikapped unicorns Niederösterreich“ den Erlebniskeller im nächsten Jahr bespielt.