Mödling, Theater/Ab/Hof, DER GOTT DES GEMETZELS – Yasmina Reza, IOCO

Mit sicherem Gespür für Rhythmus und Eskalationsstufen lotet Regisseurin Samantha Steppan die Spannungen zwischen Höflichkeit und Heuchelei, zwischen Schein und Sein bis ins feinste Detail aus.

Mödling, Theater/Ab/Hof, DER GOTT DES GEMETZELS – Yasmina Reza, IOCO
TAH Konzerthof Mödling © Fabian Steppan

von Marcus Haimerl

Sommertheater mit Anspruch – THEATER/AB/HOF startet in Mödling durch


Mit THEATER/AB/HOF ist ein frischer Wind in den Mödlinger Kultursommer gezogen – und das durchaus mit Haltung. Was hier im historischen Konzerthof der Stadtgemeinde zur Aufführung kommt, ist mehr als launige Freiluftunterhaltung: Es ist ein Theater, das Nähe sucht – zum Publikum, zur Region, zur Gegenwart. Das neu gegründete Ensemble um David Czifer, Clemens Fröschl und Samantha Steppan versteht sich als „Kulturnahversorger“, wie man ihn sich im besten Sinne wünscht: lokal verankert, künstlerisch ambitioniert, umweltbewusst gedacht – und getragen von einem Ensemble, das mit Spielfreude und Ernsthaftigkeit überzeugt.

Den Auftakt macht mit Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“ ein moderner Klassiker der Konversationskomödie – ein Stück, das in seiner messerscharfen Beobachtung bürgerlicher Fassaden wie gemacht scheint für ein Theater, das unter freiem Himmel die gesellschaftlichen Maskenspiele ins Licht rückt.

TAH Der Gott des Gemetzels, v.l.n.r. Stephanie-Christin Schneider (Véronique), Paul Wiborny (Alain), Elsa Schwaiger (Annette) © Fabian Steppan

Yasmina Reza – Meisterin der gesellschaftlichen Sezierung

 
Yasmina Reza
, geboren 1959 in Paris als Tochter eines iranischen Ingenieurs und einer ungarisch-jüdischen Violinistin, zählt zu den meistgespielten zeitgenössischen Dramatikerinnen Europas. Die studierte Theaterwissenschaftlerin und Schauspielerin wurde in den 1990er-Jahren mit ihrer Komödie „Kunst“ schlagartig international bekannt. Seitdem prägt sie mit feiner Ironie, messerscharfem Dialogwitz und einem unbestechlichen Blick für die Schwächen des gut situierten Bildungsbürgertums das zeitgenössische Theater.

Rezas Figuren sind urbane Menschen der westlichen Mittelschicht – intellektuell, liberal, kultiviert –, deren bürgerliche Fassaden im Lauf ihrer Stücke sukzessive bröckeln. Mit chirurgischer Präzision legt sie die emotionalen Risse unter dem schönen Schein frei – mal sarkastisch, mal tragikomisch, aber nie von oben herab. Ihre Stücke sind psychologische Kammerspiele, in denen sich das Menschliche oft im Alltäglichen entlarvt.

Auch als Romanautorin („Glücklich die Glücklichen“) und Drehbuchautorin ist sie erfolgreich. Für ihre Arbeiten erhielt sie zahlreiche Preise, darunter den Prix Molière, den Laurence Olivier Award und den Prix Renaudot.

TAH Der Gott des Gemetzels, v.l.n.r. Elsa Schwaiger (Annette), Paul Wiborny (Alain), David Czifer (Michel), Stephanie-Christin Schneider (Véronique) © Fabian Steppan

Entstehung, Uraufführung und Rezeption von „Der Gott des Gemetzels“

 
Yasmina Reza
schrieb „Der Gott des Gemetzels“ (Le Dieu du Carnage) im Jahr 2006 – ursprünglich auf Französisch. Schon kurz nach der Uraufführung begann das Stück seinen Siegeszug über die großen Bühnen Europas und der Welt.

Seine Uraufführung erlebte es am 2. Dezember 2006 am Schauspielhaus Zürich, in einer Inszenierung von Jürgen Gosch. Die Besetzung: Dörte Lyssewski, Corinna Kirchhoff, Michael Maertens und Tilo Nest. Rezas Text überzeugte durch seine präzise Komposition, seinen klug gebauten Dialog und die entlarvende, fast chirurgische Genauigkeit in der Beobachtung zwischenmenschlicher Dynamiken.

Spätestens mit der englischen Version unter der Regie von Matthew Warchus (2008 in London) wurde das Stück auch international zum Dauerbrenner. Reza arbeitete dafür eng mit dem renommierten Übersetzer Christopher Hampton zusammen. Es folgten Produktionen am Broadway, in Berlin, Paris, Wien und zahllosen weiteren Städten – der Text bewies seine universelle Gültigkeit über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg.

Ein weltweites Publikum erreichte Der Gott des Gemetzels“ schließlich durch die Verfilmung von Roman Polanski im Jahr 2011, unter dem Titel „Carnage“, mit Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly. Die konzentrierte, fast klaustrophobische Adaption verstärkte nochmals das Kammerspielhafte und machte die Konfliktdynamik auch im Kino erfahrbar.

Heute gehört Rezas Stück zu den meistgespielten Werken zeitgenössischer Dramatik – ein moderner Klassiker, der seine Wirkung nie verfehlt.

TAH Der Gott des Gemetzels, v.l.n.r. Paul Wiborny (Alain), Stephanie-Christin Schneider (Véronique), David Czifer (Michel), Elsa Schwaiger (Annette) © Fabian Steppan

Inhalt: Wenn die Fassade bröckelt


Zwei elfjährige Buben geraten auf dem Spielplatz aneinander – einer schlägt dem anderen mit einem Stock zwei Zähne aus. Was zunächst nach einem ganz normalen Kinderstreit aussieht, führt die Eltern beider Seiten zu einem klärenden Gespräch in zivilisiertem Rahmen.

Annette und Alain besuchen Véronique und Michel, um die Angelegenheit möglichst erwachsen und pädagogisch korrekt zu regeln. Man gibt sich höflich, aufgeschlossen, verständigungsbereit – zumindest anfangs. Doch je länger das Gespräch dauert, desto mehr geraten die Fassaden ins Wanken. Was mit Apfelkuchen, Konversation und guter Absicht beginnt, kippt allmählich in eine emotionale Abwärtsspirale aus Kränkungen, Schuldzuweisungen und entlarvten Lebenslügen.

In einem zunehmend grotesken Schlagabtausch geraten nicht nur die Erziehungsfragen, sondern auch Ehe, Berufsethik und Selbstbild ins Wanken. Und bald stellt sich die Frage: Wer sind hier eigentlich die wirklichen Kinder?

Mit klarem Blick und bitterem Witz zeigt Yasmina Reza in diesem Kammerspiel, wie dünn der Firnis der Zivilisation sein kann – und wie nah unter der Oberfläche die Abgründe brodeln.

TAH Der Gott des Gemetzels, v.l.n.r. Paul Wiborny (Alain), David Czifer (Michel), Stephanie-Christin Schneider (Véronique) © Fabian Steppan

Regie & Ausstattung: Wenn das Wohnzimmer zur Arena wird


Regisseurin Samantha Steppan wählt für ihre Inszenierung einen klaren, konzentrierten Zugang, der den Text atmen lässt, ohne ihn je aus der Hand zu geben. Mit sicherem Gespür für Rhythmus und Eskalationsstufen lotet sie die Spannungen zwischen Höflichkeit und Heuchelei, zwischen Schein und Sein bis ins feinste Detail aus. Nichts wird hier überzeichnet oder karikiert – der Wahnsinn schleicht sich langsam ein, bricht beiläufig hervor und entfaltet gerade dadurch seine volle Wirkung.

Dabei gelingt es Steppan, der Konversationskomödie ein hohes Maß an Bewegungsdynamik zu verleihen. Kleine choreografische Verschiebungen im Raum – ein Seitenblick, ein Abwenden, ein Heraustreten aus der Sitzgruppe – spiegeln den inneren Zerfall der Gesprächskultur auch körperlich wider. Es ist ein Spiel auf engem Raum, präzise geführt, klug getaktet – und mit einem feinen Ohr für die Musikalität von Rezas Sprache.

Das Bühnenbild von Christoph Fröschl (Requisiten: Samantha Steppan) verwandelt den lauschigen Innenhof des Konzerthofs in ein stilisiertes Wohnzimmer mit bürgerlicher Patina. Eine florale Tapete mit exotischen Pflanzenmotiven, kombiniert mit holzvertäfeltem Sockel, rahmt das Geschehen. Im Zentrum: zwei Armsessel und eine Bank, ein kleiner Tisch, ein Regal – alles in warmen Tönen gehalten. Die Farbe Orange durchzieht das Bühnenbild als bewusst gesetztes Stilmittel: Schreibmaschine, Vase, Sitzkissen, Retroradio, Gießkanne und Schüssel wirken wie Versatzstücke eines wohltemperierten Lebens, das im Laufe des Abends aus der Balance gerät.

Diese Farbcodierung setzt Caroline Obernigg in den Kostümen klug fort. Jede Figur erhält ein visuelles Profil, das ihre Haltung und ihre emotionalen Brüche subtil unterstützt:
Alain, der aalglatte Anwalt, trägt einen blassblauen Anzug mit Einstecktuch und einen eleganten Seidenschal in hellem Beige mit dezentem Musterdruck – das perfekt gebügelte Bild eines Mannes, der nie die Kontrolle verlieren will.
Annette, seine Frau und beruflich Vermögensberaterin, erscheint im orangefarbenen Kleid, dazu eine blaue Stola mit weißen Herzen – ein Ensemble zwischen Eleganz und Anpassung, das zunehmend Risse bekommt.

TAH Der Gott des Gemetzels, v.l.n.r. Elsa Schwaiger (Annette), Paul Wiborny (Alain) © Fabian Steppan

Auf der gegenüberliegenden Seite steht das zweite Paar:
Véronique, die sich als engagierte Bildungsbürgerin mit humanistischem Weltbild versteht, trägt eine psychedelisch gemusterte Bluse in Orange, Blau und Gelb – ein augenzwinkerndes Zitat der 70er Jahre, das wunderbar zur floralen Tapete im Hintergrund passt. Dazu eine weit geschnittene Hose – bequem, praktisch, und unprätentiös.
Michel, handfest, bodenständig, trägt ein offen getragenes Hemd und eine rostfarbene Hose – ein Mann, der sich eher über Alltagstauglichkeit als über Stilfragen definiert.

So wird bereits in der äußeren Erscheinung deutlich, wie unterschiedlich diese Paare ticken: hier das repräsentative Karrierepaar, das seine Souveränität betont, dort die etwas unkonventionelleren „Öko-Eltern“, legerer, künstlerischer, näher an Alltagsrealitäten.
Der Kontrast funktioniert visuell auf Anhieb – und liefert die Bühne für das, was folgt: den schrittweisen Abbau jeder äußeren Kontrolle.

So entsteht ein atmosphärisch dichtes, optisch durchkomponiertes Kammerspiel, das die ästhetische Oberfläche ebenso ernst nimmt wie die emotionalen Untiefen darunter.

Auch die grafische Gestaltung – entworfen von Clemens Fröschl – fügt sich stimmig ins ästhetische Gesamtkonzept ein. Programmhefte und Werbemittel greifen die Farben und Muster der Inszenierung auf und rahmen den Abend visuell ein – hochwertig, aber nie überladen.

TAH Der Gott des Gemetzels, v.l.n.r. Stephanie-Christin Schneider (Véronique), David Czifer (Michel) © Fabian Steppan

Schauspielerische Leistungen: Vier Figuren, vier Zündschnüre


Dass Yasmina Rezas Konversationsstück nur dann wirklich funktioniert, wenn das Zusammenspiel der vier Figuren auf den Punkt gelingt, beweist diese Inszenierung eindrucksvoll. Das Ensemble – bestehend aus Stephanie-Christin Schneider (Véronique), David Czifer (Michel), Elsa Schwaiger (Annette) und Paul Wiborny (Alain) – agiert mit hoher Textpräsenz, emotionaler Wandlungsfähigkeit und klarer körperlicher Dynamik.

Elsa Schwaiger zeigt in der Rolle der zunächst distinguierten Annette eine beeindruckende Entwicklung: Vom kontrolliert höflichen Smalltalk bis zum entfesselten Furor einer vom Alkohol enthemmten Frau, die sich übergibt, schreit und ihre Selbstbeherrschung in Scherben fallen lässt, ist jeder Ton glaubwürdig, jeder Wechsel fließend. Besonders bemerkenswert: ihre Sprachklarheit, Wortdeutlichkeit und ihr pointiertes Timing, das zwischen ironischer Distanz und emotionaler Unmittelbarkeit changiert.

An ihrer Seite überzeugt Paul Wiborny als Alain, ein Anwalt, der seinem klingelnden Handy mehr Aufmerksamkeit schenkt als dem Gespräch. Wiborny gestaltet die Rolle mit geschliffener Lakonie, kaltem Charme, Zynismus und brillanter Selbstgefälligkeit – sein Spiel lebt vom Kontrast zwischen scheinbarer Souveränität und innerer Leere. Auch stimmlich bleibt er durchgehend präsent, mit eleganter Sprachführung und kluger Dosierung von Ironie.

David Czifer als Michel bringt Erdung und Nuancen ins Spiel: Sein Michel ist kein dumpfer Patriarch, sondern ein Mann, der bemüht ist, sich durchzuschlagen – wortwörtlich zwischen den Fronten. Zwischen Hilflosigkeit und aufblitzendem Sarkasmus liegt bei ihm oft nur ein Wimpernschlag.

Stephanie-Christin Schneider als Véronique überzeugt als moralisch aufgeladene Idealistin, die das Gespräch kontrollieren will – und dabei zunehmend selbst in den Sog aus Rechthaberei, Trotz und Verzweiflung gerät. Schneider findet eine präzise Balance zwischen Aktivismus und emotionaler Fragilität – besonders in jenen Momenten, in denen ihre Figur die Kontrolle zu behalten glaubt, während sie sie längst verloren hat.

TAH Der Gott des Gemetzels, v.l.n.r. Elsa Schwaiger (Annette), David Czifer (Michel), Paul Wiborny (Alain), Stephanie-Christin Schneider (Véronique), © Fabian Steppan

Das Zusammenspiel der vier ist durchweg dynamisch, glaubwürdig und detailgenau. Jeder Rhythmuswechsel sitzt, jede Spannung wird gehalten – bis sie sich explosionsartig entlädt. Rezas Dialoge sind bekannt für ihre Präzision und Fallhöhe – diesem Anspruch wird das Ensemble in hohem Maß gerecht.

Das Publikum reagierte mit spürbarem Mitgehen: Lacher an den passenden Stellen, Schmunzeln, betretene Stille – und am Ende großer Applaus, der sowohl dem Spiel als auch dem klugen Gesamtentwurf der Inszenierung galt.

Mit Der Gott des Gemetzels ist THEATER/AB/HOF ein bemerkenswerter Einstand gelungen – kraftvoll, pointiert und mit einem klaren künstlerischen Profil. Die Inszenierung von Samantha Steppan verbindet kluge Regiearbeit mit einem durchdachten Ausstattungskonzept und einem spielfreudigen Ensemble, das Rezas Text mit Präzision, Energie und Tiefenschärfe zum Leben erweckt.

Doch über den gelungenen Theaterabend hinaus zeigt diese Produktion, was zeitgemäßes Sommertheater heute leisten kann – nämlich nicht nur unterhalten, sondern zugleich ästhetisch wie thematisch Position beziehen. THEATER/AB/HOF beweist, dass kulturelle Nahversorgung nicht schlicht oder provinziell sein muss, sondern im besten Sinne lokal verankert, künstlerisch ambitioniert und gesellschaftlich relevant sein kann.

Mit dieser ersten Produktion hat sich das neue Ensemble als ernsthafte, künstlerisch profunde Bereicherung der Theaterszene in Mödling und dem erweiterten Wiener Kulturraum positioniert. Der Konzerthof hat damit nicht nur ein neues Kapitel aufgeschlagen – sondern auch ein neues Theater zu sich eingeladen, das Lust auf mehr macht.

Man darf gespannt sein, welches Stück THEATER/AB/HOF im kommenden Sommer auf die Bühne bringen wird. Eines steht bereits jetzt fest: Dieses neue Sommertheater ist gekommen, um zu bleiben.

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