Marigona Qerkezi, Interview, IOCO

Schon immer auf der Bühne zu Hause
Ein Gespräch mit Marigona Qerkezi über Last-Minute-Debüts, große Rollen des italienischen Fachs und das Leben hinter den Kulissen.
Die junge Sopranistin Marigona Qerkezi zählt zu den aufregendsten Stimmen ihrer Generation. Mit ihrer packenden Bühnenpräsenz und einer großen, runden Stimme, die selbst die heikelsten Partien wie Norma mühelos bewältigt, begeistert sie Publikum und Kritiker gleichermaßen. Geboren in Zagreb und aufgewachsen in einer Künstlerfamilie kam die Sängerin früh mit der Welt der Oper in Kontakt. Ihre musikalische Ausbildung begann sie mit dem Studium von Flöte und Gesang an der Universität der Künste in Pristina. Mit Partien wie Königin der Nacht, Adina, Gilda und Lucia startete Qerkezi ihre Karriere. In den letzten Jahren konnte sie ihr Repertoire mit einigen der größten und schwersten Rollen des italienischen Sopranfachs erweitern, wie etwa Abigaille in „Nabucco“, „Aida“, „Norma“ und bald auch „Tosca“. Im Gespräch mit IOCO spricht Marigona Qerkezi über ihr (sehr) kurzfristiges Hausdebüt als Aida an der Deutschen Oper Berlin, ihr anstehendes Rollendebüt als Tosca in Kopenhagen, die Partie der Norma, die sie gerade in zehn Vorstellungen an der Oper Frankfurt verkörpert hat, ihr Debut als Lady Macbeth und warum für sie die Bühne Heimat bedeutet.
IOCO: Ihre Jugend haben Sie auch in Ljublana verbracht. Ihre Eltern waren dort an der Oper. Kroatien hat großartige Sängerinnen wie Milka Ternina, Zinka Milanov und Sena Jurinac hervorgebracht. Gibt es da eine Tradition und was bedeutet das für Sie?
Marigona Qerkezi: Kroatien hat tatsächlich eine bemerkenswerte Operntradition. Neben den großen Namen von Milka Ternina, Zinka Milanov und Sena Jurinac könnte ich noch viele weitere nennen. Ich bin in Zagreb geboren und aufgewachsen, bis in meine frühen Teenagerjahre. Dort habe ich auch mein Musikstudium mit Querflöte begonnen. Da meine Eltern in der Oper tätig waren, bin ich von klein auf in diese wunderschöne Welt der Musik und Kunst hineingewachsen.
Meine Mutter, Merita Juniku, eine Mezzosopranistin, ist auch meine Gesangslehrerin. Sie selbst hat bei der renommierten kroatischen Pädagogin Nada Puttar-Gold studiert. 32 Jahre nach ihrem Debüt als Azucena am Kroatischen Nationaltheater hatte ich die Ehre, dort auf derselben Bühne die Leonora in "Il trovatore" zu singen, in einer halbszenischen Fassung während der Corona-Zeit.
Ich bin sehr stolz, Teil dieser Schule und Tradition zu sein, einer starken Linie, die bis heute viele herausragende kroatische Künstlerinnen und Künstler prägt, die international erfolgreich sind und das Erbe früherer Generationen weitertragen.
IOCO: Frau Qerkezi, Sie sind vor etwas mehr als einer Woche sehr kurzfristig für eine Vorstellung von „Aida“ an der Deutschen Oper Berlin eingesprungen - und das in einer sehr ungewöhnlichen Inszenierung. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie den Anruf erhielten?
Marigona Qerkezi: Nachdem ich den Anruf bekam, ging alles unglaublich schnell. Ich hatte gerade eine Probe für „Tosca“ in Kopenhagen beendet, bin direkt vom Proberaum ins Hotel und dann zum Flughafen - und am nächsten Tag stand ich auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin und habe dort Aida gesungen. Es war mein Hausdebüt, und das Publikum war fantastisch - so offen und warmherzig. Es war ein ganz besonderer Abend, einer dieser Momente, die man nie vergisst. Und gleich am Tag danach stand ich wieder in Frankfurt auf der Bühne, mit meiner geliebten Norma. Es war unglaublich intensiv, aber genau das macht diesen Beruf so faszinierend: Er ist lebendig, unvorhersehbar und voller Überraschungen.

IOCO: Aida ist eine sowohl stimmlich als auch körperlich sehr fordernde Rolle - und Sie hatten kaum 24 Stunden Vorbereitungszeit. Wie bereitet man sich auf solche Momente vor?
Marigona Qerkezi: In solchen Momenten zählt vor allem Konzentration und Vertrauen - in die eigene Technik, die jahrelange Vorbereitung und die emotionale Verbindung zur Figur. Ich habe Aida schon mehrfach gesungen, sie ist ein Teil von mir geworden. Auch wenn die Umstände neu waren, war die Rolle selbst mir schon sehr vertraut.
Tosca: Ein großes Debüt in Kopenhagen
IOCO: Bald debütieren Sie als Tosca, eine der intensivsten Rollen überhaupt. Wie bereiten Sie sich stimmlich und psychologisch auf dieses Debüt vor?
Marigona Qerkezi: Tosca wurde mir schon früh in meiner Karriere angeboten, aber ich hatte das Gefühl, dass ich dafür erst reifen musste. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Ich freue mich darauf, sie zum ersten Mal zu verkörpern und all ihre Facetten, Farben und Emotionen auf der Bühne zu entdecken. Es ist eine ikonische Rolle für jede Sopranistin, und ich habe mich lange und intensiv mit ihr beschäftigt. Besonders spannend ist, dass ich sie in einer neuen Produktion von Kasper Holten an der Königlichen Oper in Kopenhagen singen werde, zur Eröffnung der neuen Spielzeit. Neben der technischen Vorbereitung geht es auch darum, Tosca in mir selbst zu finden - ihre Verletzlichkeit, ihre Stärke, ihre Leidenschaft. Sie ist eine komplexe, zutiefst menschliche Figur. Ich bin gespannt, wie es sein wird, sie auf der Bühne zum Leben zu erwecken.
IOCO: Was bedeutet „Tosca“ für Sie persönlich – wer ist sie?
Marigona Qerkezi: Tosca ist ein Wirbelsturm aus Leidenschaft, Eifersucht, Glaube und Verzweiflung. Oft wird sie als impulsiv oder übertrieben emotional dargestellt, aber für mich ist sie sehr menschlich - eine Frau, die auf Verrat, Angst und Machtlosigkeit reagiert, wie jeder Mensch es tun würde, wenn alles, was er liebt, bedroht ist. Sie ist kompromisslos loyal, ihre Liebe zu Cavaradossi ist bedingungslos. Sie kämpft für ihn, zögert nicht, zu töten. Gleichzeitig ist sie gläubig und idealistisch. Ihre Vorstellung von Gott, Kunst und Liebe ist rein. Und genau deshalb ist ihre Abkehr von diesen Idealen im zweiten Akt so berührend. Am Ende ist sie auf tragische Art und Weise mutig. Sie stirbt nicht als Opfer, sondern entscheidet sich für den Sprung von der Engelsburg, um die Kontrolle über ihr Schicksal zu behalten. Für mich ist sie eine zeitlose, unvergessliche Figur.
Norma: Stimmliche Kontrolle und emotionale Tiefe
IOCO: Bellini verlangt höchste Kontrolle und Ausdruckskraft. Wie gelingt es Ihnen, als Norma stimmliche Präzision und Emotion in Einklang zu bringen?
Marigona Qerkezi: Bellini verlangt eine perfekte Linie, Reinheit und emotionale Wahrhaftigkeit. Alles muss nahtlos fließen, damit die Gefühle durchscheinen können. Norma ist faszinierend, weil sie so widersprüchlich ist. Sie ist eine mächtige Priesterin, aber innerlich voller Zweifel, Leidenschaft und Zerbrechlichkeit. In „Casta Diva“ liegt eine fast überirdische Ruhe und spirituelle Klarheit. Später im Stück folgen große emotionale und vokale Ausbrüche. Bellini gibt uns ein fein ziseliertes Gerüst, und darin müssen wir die Seele finden.

IOCO: Dieses Jahr debutieren Sie als Lady Macbeth. Diese Rolle ist ja sehr vielfältig. Wie sehen Sie die Rolle und können Sie persönliche Erlebnisse einbringen?:
Marigona Qerkezi: Lady Macbeth ist eine faszinierende und äußerst fordernde Rolle - stimmlich, emotional und darstellerisch. Ihr Spektrum reicht von unerschütterlichem Machtstreben bis hin zum völligen Wahnsinn und eröffnet dabei eine unglaubliche Bandbreite an Farben und Nuancen. Neben den virtuosen Arien und Cabalettas freue ich mich besonders auf die berühmte Schlafwandel-Szene. Sie ist so voller Gefühle und offenbart viel. Die Rolle ist eine große Aufgabe und es ist wirklich ein Privileg, sie verkörpern zu dürfen.
„Die Bühne war für mich immer ein Zuhause“
IOCO: Wenn Sie keine Opernsängerin geworden wären – welchen Weg hätten Sie eingeschlagen?
Marigona Qerkezi: Eine schwierige Frage, denn Musik war schon immer ein zentraler Teil meines Lebens. Aber wenn nicht Sängerin, dann wahrscheinlich Schauspielerin. Ich war schon immer fasziniert vom Erzählen, vom Ausdruck von Emotionen, von der Verbindung mit dem Publikum. Das liebe ich auch an der Oper: Dass man Menschen berühren kann – auf eine echte, tiefgehende Weise. Die Bühne war für mich immer ein Zuhause, ob durch Musik oder Schauspiel.

IOCO: Was wird häufig missverstanden, wenn es um das Leben von Opernsängern geht?
Marigona Qerkezi: Oft sieht man nur das Endergebnis: das Bühnenlicht, die Kostüme, den Applaus. Was man weniger sieht, ist die harte Arbeit dahinter - die ständigen Reisen, die Notwendigkeit, körperlich und stimmlich fit zu bleiben, die Zeit fern von der Familie. Was vielleicht am wenigsten gesehen oder verstanden wird, ist die Notwendigkeit der ständigen Weiterentwicklung unseres Instruments. Es gibt kein „fertig“ in diesem Beruf – man lernt, vertieft, entdeckt immer weiter. Auch wenn eine Partie schon im Repertoire ist, arbeitet man ständig daran, neue Farben zu finden, sie noch besser und tiefgehender zu verstehen. Es ist wichtig, sich ständig weiterzuentwickeln und zu wachsen.