Greifswald, Volkshaus, Das Tagebuch der Anne Frank - G. Frid, IOCO
„Keine Heldin – aber eine geistige Siegerin“
Aus der Not eine Tugend zu machen – das hat man am Theater Vorpommern gelernt. Geht es doch darum, für das seit drei Jahren geschlossene und noch auf diverse Jahre geschlossen bleibende Große Haus in Greifswald (Generalsanierung) musiktheatralische Alternativen zu finden und sie in einem der zwei Säle des angeschlossenen „Volkshauses“ anzubieten. Als kleinbesetzte, bühnentechnisch relativ unaufwändige Kammeropern etwa, deren mehrere in den letzten Jahren für recht interessante, meist unorthodox zeitgenössische Programmangebote sorgten. Nun also der Griff zu Grigori Frids Mono-Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“.
Über den russisch-jüdischen Komponisten ist hierzulande nicht viel bekannt. Immerhin verrät MGG2 (Bd. 7, Personenteil, 2002, Sp. 118-120), dass er 1915 in St. Petersburg geboren wurde, mit seiner Familie eine Verbannungszeit in Sibirien durchleben musste (ab 1927), viele Angehörige während der Stalinschen „Säuberungsaktionen“ verlor, dann aber seine in Irkutsk begonnenen Studien in Moskau fortsetzen und beenden konnte (1935) und an verschiedenen Einrichtungen unterrichten durfte. Nach Kriegsteilnahme (Sanitäter, Mitglied in Frontensembles) war er weiter als Komponist und Lehrer tätig, wurde auch ausgezeichnet und starb – das konnte die MGG schon nicht mehr mitteilen – 2012 in Moskau.
Sein Werkverzeichnis ist umfangreich. Hinsichtlich des Musiktheaters hat er Wesentliches zur Etablierung der Gattung „Mono-Oper“beigetragen. Dies mit einer unorthodoxen, aleatorische und dodekaphone Stilmittel nutzenden Musiksprache und einer inhaltlichen Fokussierung auf „ethische und moralische Probleme“, auf „seelische Konflikte“ (Ulrike Patow, MGG, a. a. O., Sp. 120).
Dafür steht vor allem sein ca. 60-Minuten-Werk „Das Tagebuch der Anne Frank“. Geschrieben 1969 für Sopran und Kammerorchester, dann auch bearbeitet für Klavier, später auch für Klavier, Kontrabass und Schlagzeug, hat sich das Theater Vorpommern für eine Fassung für Mezzosopran (Thomas Dorsch), Klavier, Kontrabass und Schlagzeug entschieden und am 25. November 2025 in Greifswald präsentiert.
Es sind dies Texte Anne Franks, die Frid selbst aussuchte und attacca zu 21 kurzen Einzelszenen – in zwei Teile und vier größere Szenen gegliedert – bündelte. Die deutsche Textfassung stammt von Ulrike Patow, die Inszenierung verantwortet Verena Koch (Dramaturgie Stephanie Langenberg, Bühne & Kostüm Ute Lindenbeck, Licht Friedemann Drengk).

Sie stand vor der Aufgabe, Frids vielbildrige Textauswahl in ihren äußeren wie inneren Zusammenhängen auf die Bühne zu bringen. Wollte etwa heißen, anfänglich unbeschwert Alltägliches mit der zunehmenden Bedrohung, mit Vereinsamung, Ängsten und Verzweiflung glaubwürdig zu kombinieren und das Ganze dann doch – möglichst unaufdringlich – mit dem Prinzip Hoffnung, ja einer geradezu visionären, einigermaßen unkindlichen Opferbereitschaft und idealisierten Zukunftsgewissheit zu verbinden.
Zu überbrücken sind da lange Zeiträume, darunter zwei Jahre in totaler Isolation (Versteck, 1942 bis 1944). Dies natürlich nur punktuell und unter inhaltlichen Aspekten, die für das Persönlichkeitsbild Annes charakteristisch und für das Anliegen einer musiktheatralischen Umsetzung tragfähig sind. Da scheint Frids Auswahl – siehe oben – gut getroffen. Sie gibt – in Greifswald zu erleben - der Regie Möglichkeiten an die Hand, den Weg vom dreizehnjährigen Kind zur durch gravierende politisch wie individuelle Umstände ungewöhnlich gereift denkenden und handelnden Fünfzehnjährigen nachzuzeichnen. Allerdings kennt nur der mit einem Klavierauszug Bewaffnete die 21 vorgegebenen „Titel“, was für die Anderen zumindest eine Verständniserschwernis auch dann sein dürfte, wenn textlich und dann auch affektiv hörbar die jeweiligen thematischen Orientierungen erkennbar werden. Abgesehen davon, dass durch die generellen attacca-Übergänge Abgrenzungen innerhalb der Szenenfolge ohnehin nicht leicht zu erkennen sind und Unterschiede in der thematischen Ausrichtung gelegentlich Sprunghaftes an sich haben. Hinzu kommt, dass die durchaus enge Bindung der (sicher für viele, vor allem jugendliche Ohren ungewohnt unorthodox modernen) Musik an das Geschehen hinsichtlich ihrer Plausibilität möglicherweise nicht gleich, vielleicht auch gar nicht erkannt wird. (Da ließe sich für die kommenden Vorstellungen, für die man mit möglichst vielen Schulklassen rechnet, sicher noch etwas einfallen; vielleicht Titel per Video?). Optische Hilfe aber gibt es, wenn sich auf der ebenen Saalfläche mittig ein rundes Gebilde erhebt, das sich – dann zur Hälfte geöffnet – als das enge „Versteck“ der Familie entpuppt. Es ist der karg ausgestattete und zeitweise mit einem halbrunden Sitzmöbel nach außen vergrößerte Raum, in dem sich alles abspielt: Anne freut sich über ihr Geburtstagsgeschenk, ein Tagebuch (!), erinnert sich kichernd an ihre Schulzeit, karikiert fröhlich und beidhändig puppentheaterähnlich ein sich streitendes Ehepaar, träumt von erster Liebe und versucht tapfer, ihrer lebensbedrohlichen Ängste Herr zu werden. Und so gerät der enge Raum und sein ebenfalls enges Umfeld (Fenster nach draußen) zur von der Regie darstellerisch so maßvoll wie eindrucksvoll choreographierten „Gedankenwerkstatt“, die dennoch gleichzeitig und symbolisch auf größte Blickerweiterung zielt. Alles in allem und jenseits jedes vordergründig Dokumentarischen geht es um das Psychogramm eines jungen Mädchens, das in seiner gesamten Haltung – vor allem hinsichtlich des finalen, zukunftsfreudigen Ausblicks – auch ikonographisch gesehen werden soll, als verallgemeinerbar und damit heute noch vorbildhaft.
Ein solch gefühlshaft aufgeladenes und – es sei wiederholt – auch ikonographisch gemeintes Stück steht und fällt mit der Protagonistin. Der Glücksfall heißt hier Kadi Jürgens (Mezzosopran), kommt aus Estland und ist seit dieser noch jungen Spielzeit Mitglied des Theaters Vorpommern.

„Für mich eine sehr große, aber auch sehr schöne Herausforderung“! So Kadi Jürgens. Und das darf getrost unterstrichen werden. Es geht um knappe sechzig Minuten Einsamkeit auf der Bühne, um einen Monolog, der darstellerisch wie sängerisch auch der erfahrenen Protagonistin einiges abverlangt. Pausen gibt es kaum. Intonatorisch ist ihre Partie zudem von einem bemerkenswert hohen Schwierigkeitsgrad. Für die Protagonistin kein Problem! Sie vermag der zwischen Tonwiederholungen und intervallisch zerklüfteten, tonal freien und dezidiert auf Deklamatorisches setzenden Anlage der Gesangsstimme ein bemerkenswert hohes Maß an klanglicher, ja quasi „melodischer“ Intensität abzugewinnen und mit denkbar hoher Expressivität zu fesseln. Sie verbindet das mit einem Spiel, das ganz auf Natürlichkeit setzt und ungeachtet großer Bühnendominanz nichts „Heldisches“ an sich hat – Voraussetzung für eine so eindringliche wie von jeder Larmoyanz fernen Wirkungsmächtigkeit. Zudem gelingt eine Intimität im Handeln und Singen, die man sowohl vom Stück her als auch hinsichtlich seiner Präsentation als überaus gelungen betrachten darf.
Nicht zu trennen ist dieser Eindruck vom Agieren der drei Instrumentalisten. Hier kommt in erster Linie dem Pianisten die Hauptaufgabe zu: nämlich einem zunächst sehr sperrig wirkenden, aber sehr spezifisch und variabel ausgearbeiteten Klavierpart zu ebenso fesselnder Wirkung zu verhelfen. Eine große Aufgabe also für den Solorepetitor David Wishart (alternierend Yoshihiro Horie). Er hatte nichts Geringeres zu bewerkstellen, als sich diesem Ziel soweit als möglich zu nähern. mit einem Klaviersatz im tonal völlig freien Raum, oft von unheimlicher Dichte und hämmernder Motorik bestimmt, voller clusterartigen Akkordballungen, harschen Kontrasten und viel Chromatik in jenen Partien, die sich quasi „melodischen“ Linien oder rezitativischen, verinnerlichten Darstellungsweisen verpflichteten. Andererseits hatte er musiksprachlich Haltungen und Handlungen determinierende Charakteristika herauszuarbeiten, die zum Verständnis des Einzelnen wie des Ganzen wesentlich waren. Schließlich musste er einen variablen, möglichst „beredten“ und sensiblen Anschlag ebenso bemühen wie es andererseits unbedingt zu vermeiden war, die im Stück durchaus angelegte Dominanz des Klavieristischen nicht durch Überstrapazieren ihrer expressiven Wirkung zu berauben.
David Wishart, der (kaum bemerkbar) auch als Musikalischer Leiter des Ganzen fungierte, entledigte sich dieser anspruchsvollen Aufgabe mit Bravour, was auf die allerdings wesentlich weniger und viel zurückhaltender eingesetzten Mitspieler Kontrabass (Christoph Uhrland, alt. Yuki Tanabe) und Schlagzeug (Matthias Suter, alt. Hsiao-Hung Lee) gleichermaßen zutraf. Diese Besetzung mag Fragen aufwerfen, aber ihre unterstützende klangliche und damit auch auf das Bühnengeschehen zielender Wirkung ist unbestritten.
Alles in allem ein sehr gelungener, künstlerisch eindrucksvoller Abend, dem man mit einem Dutzend weiterer geplanter Aufführungen viel nachhaltige Wirkung wünscht.