Görlitz, Gerhart-Hauptmann-Theater, DER FLIEGENDE HOLLÄNDER - R. Wagner, IOCO

GÖRLITZ: Gar nicht heruntergewirtschaftet, sondern regelmäßig umgebaut, erweitert und saniert: das Gerhart-Hauptmann-Theater mit seiner imposanten Innenausstattung, die ihr den Beinamen „Kleine Semperoper“ einbrachte. Wirklich ein Schmuckstück. Zuletzt wagnerte es hier vor ca. 6 bis 7 Jahren.

Görlitz, Gerhart-Hauptmann-Theater, DER FLIEGENDE HOLLÄNDER - R. Wagner, IOCO
GERHART HAUPTMANN THEATER in Görlitz @ Thomas Kunzmann

Premiere: 09.03.2024, besuchte Vorstellung am 23.03.24

von Thomas Kunzmann

Görlitz: Das sympathische Städtchen auf der deutsch-polnischen Grenze, deren Einwohner ankommende Fremde freundlich grüßen, empfängt seine Gäste, vom Bahnhof kommend, mit vielen einst herrlichen Gründerzeithäusern, die noch einer Sanierung bedürfen. Im Zentrum sieht es bereits besser aus. Es wird viel gebaut, die Stadt strahlt immerhin schon wieder, wird regelmäßig als Filmkulisse genutzt, was ihr den Beinamen „Görliwood“ einbrachte.

GÖRLITZ - Der fliegende Holländer -Szenefoto @ Pavel Sosnowski

Gar nicht heruntergewirtschaftet, sondern regelmäßig umgebaut, erweitert und saniert: das Gerhart-Hauptmann-Theater mit seiner imposanten Innenausstattung, die ihr den Beinamen „Kleine Semperoper“ einbrachte. Wirklich ein Schmuckstück. Zuletzt wagnerte es hier vor ca. 6 bis 7 Jahren. Allerdings gab es 2022 einen immensen Wasserschaden, als die Sprinkleranlage aus ungeklärter Ursache mit mehreren tausend Litern Wasser das Haus flutete. Nach temporärer Verlagerung des Spielbetriebs in das leerstehende Kaufhaus sind die Ensembles des Vier-Sparten-Theaters wieder zurück, jedoch hat die Katastrophe Nachwirkungen: 5 Feuerwehrleute ersetzen die Brandmeldeanlage bei jeder Vorstellung, die Drehbühne ist nicht nutzbar, Züge dürfen nicht gefahren werden und die Nebelmaschine, die für mystische Stimmung sorgt, muss aussetzen.

Die allzu kleinen Zugänge verhindern, dass die Kulissen auf- und abgebaut werden können. Und so wechselte man im Großen Haus auf En-suite-Spielbetrieb. Ein ziemlicher Brocken für Sänger, insbesondere bei Rollen wie Senta, Daland oder Holländer, wenn drei Vorstellungen in fünf Tagen geplant sind. Und als ob das nicht schon schwierig genug scheint, hat man sich entschlossen, die Probedirigate für die neu zu besetzende Stelle des GMD über die Holländer-Abende durchzuführen. Im Klartext: die scheidende GMD Ewa Strusińska zeichnete für die Einstudierung und Proben verantwortlich, leitete die Premiere und erste Vorstellung und bei den Folgeterminen wechseln sich die Stellenanwärter ab. Je eine Vorstellung Ido Arad (17.03.2024), Hermes Helfricht (23.03.2024, die jetzt besprochene), Jan Michael Horstmann (28.03.2024), Roman Brogli-Sacher (30.03.2024) und Florian Csizmadia (01.04.2024). Keine Anspielprobe, kaum oder keine Absprachen mit Orchester, Solisten und Chor. „Ab ins kalte Wasser“, eine sportliche Herausforderung.

Und gleich vorweg – selbst ohne Berücksichtigung dieser Rahmenbedingungen wird in Görlitz ein sehr sehens- und hörenswertes Opernerlebnis geboten.

GÖRLITZ - Der fliegende Holländer -Szenefoto @ Pavel Sosnowski

In der Ausstattung von Fabian Lüdicke, eine anonyme Megacity mit der Leere und Bedrohlichkeit eines aufschäumenden Ozeans, skizziert Regisseur Andreas Rosar den Holländer als an all seinen Frauenbeziehungen gescheiterten, dagegen im Business erfolgreichen Geschäftsmann. Rosar lenkt den Blick per Videoinstallation in der Ouvertüre zurück in die Kindheit des Holländers, wo er mit seiner Mutter glücklich Papierschiffchen faltet, der Vater aber zum Lernen und Arbeiten drängt. So entwickelt sich seine Sehnsucht nach der Freiheit und Geborgenheit, die für ihn die Schiffe symbolisieren, was durch den Tod der Mutter, an dem er sich die Schuld gibt, fast ins Obsessive verstärkt wird. Alle seine Frauenbeziehungen scheitern. Immer wieder treten die Verflossenen wie Mahnungen in sein Denken und Tun.

Und so wird der Holländer bei jeder neuen Begegnung vorsichtiger, skeptischer. Das Motto „Glück im Spiel, Pech in der Liebe“ wird zu seinem Fluch. Sein „Spiel“ mutet als das mit Wertpapieren an. Eine Kladde mit Zahlenkolonnen ist der Schatz, den er Daland präsentiert. Und wenn er „Mein Schiff ist fest“ proklamiert, sind es wohl breit aufgestellte Investitionen in Aktienfonds. Sentas Kindheit wird ebenfalls kurz beleuchtet, als sie von ihrem stets reisenden Vater eine Seemanns-Puppe geschenkt bekommt, in die sie alle Zuneigung projiziert. Sie versteift sich in der Vorstellung, jemandem die Liebe und Erlösung zu geben, die sie selbst vermisst. Über die Jahre steigert sich ihre Sehnsucht und die Puppe wächst ins Übergroße. Zwei einsame Seelen, eine Liebesgeschichte?

Auch in Görlitz funkt im falschen Moment Erik dazwischen und der sowieso schon skeptische Holländer – und das ist perfekt herausgearbeitet, dass es eben in der Folge vieler schlechter Erfahrungen nur einen minimalen Zündfunken braucht – bricht die Zelte ab. Der Holländer stürzt sich ins Meer, Senta folgt ihm und durch ihren Tod öffnet sie dem Holländer den Weg zur Erlösung – wunderbar dargestellt mit einem weit in die Hinterbühne reichenden erleuchteten Tunnel, an dessen Ende Senta auf ihn wartet. Ein schlüssiges Konzept, leicht lesbar und ohne größere Diskrepanzen zum Libretto, solang man es nicht wörtlich nimmt.

GÖRLITZ - Der fliegende Holländer -Szenefoto @ Pavel Sosnowski

Musikalisch gibt es in Anbetracht der Umstände eine sehr ordentliche Leistung. Hermes Helfricht und das Orchester finden schnell zueinander und liefern einen dynamischen, nie zu lauten Klang ab, der die Stimmen nicht verdeckt und an vielen exponierten Stellen wunderbar mit den Solisten verschmilzt und somit für einen ausgewogenes Hörerlebnis sorgt. Einige wenige Misstöne im Blech – nun ja – absolute Perfektion an so einem kleinen Haus zu erwarten wäre etwas übertrieben, sehr gefühlvolle Oboe jedenfalls, wogender Streicherklang, obwohl deutlich dünner besetzt als von Wagner gefordert. Nach meinem Geschmack hätte an diesem Abend der Gesamteindruck durch eine etwas sensiblere Flöte nochmals punkten können.  

Solisten wie Chor profitieren vom relativ massiven, akustisch gut reflektierenden Bühnenbau. Das Fehlen des Vorhangs sorgt zusätzlich für geringe Absorption. Der Klang ist dadurch klar und alle Solisten gut verständlich. Zur Sicherheit gibt es Übertitel, und für das seitlich sitzende Publikum zwei weitere Monitore mit deutschem und sogar polnischem Text.

Der Herrenchor, klanglich sehr homogen und voller Spielfreude, donnert, dass es eine Freude ist, vermag aber ebenso gefühlvoll zu brillieren. Bei den Damen, die wohl um einige Gäste verstärkt wurden, kleinere Unsauberkeiten und Verwerfungen im Rahmen des Entschuldbaren.

Johanna Brault als Mary mit angenehmem, wenn auch nicht sehr über den Chor hinausreichendem Mezzo (statt Alt), könnte sicher markantere Akzente setzen. Yalun Zhangs Steuermann hingegen ist ein lyrischer Genuss mit sauberer Artikulation und sicherer Stimmführung. Mitunter fehlt es an Expressivität: die Überraschung und Verwirrung über das plötzlich präsente Holländer-Schiff kann man stärker in die Stimme übersetzen. Eriks aufbrausendes Naturell ist dagegen unmissverständlich hörbar und im Spiel glaubwürdig. Bei der Diktion ist etwas Luft nach oben. Dalands klarer (Bass?)Bariton ist formschön und (ein bisschen zu) geschmeidig. Hier fehlt (mir) die Stärke des gewieften Geschäftsmannes, die Anpassung der Dynamik an die doch recht unterschiedlichen Situationen, in die er gerät.

Von Neugier über Erstaunen, von weltmännischer Geschäftstüchtigkeit bis hin zur infantilen Freude, einen guten Abschluss gemacht zu haben, viel Varianzmöglichkeiten für den Ausdruck. Wenn er in das eindeutige Techtelmechtel seiner Tochter mit dem Fast-Fremden stolpert – weder Erstaunen/Erschrecken/peinliches Berührtsein, noch weltmännisches „Übersehen“? Einfach weiter im Text? Da wird Handlung verschenkt. Ob beabsichtigt oder nicht, schwer zu sagen, doch sein Anzug und Habitus erinnern an Mr. Burns von den Simpsons, wobei die Figur nicht unpassend wäre. Senta ist da aus anderem Stoff: sehr angenehme, überzeugend natürliche Bewegungen, großartige Bühnenpräsenz, wandlungsfähig in der Darstellung vom Trotz gegen den sie verspottenden Chor, ohne dabei giftig oder aggressiv zu wirken bis hin zu den zart-zärtlich innigen Momenten, wenn sie sich im Holländer-Duett schüchtern ein Papierschiffchen mit den Zehenspitzen zuschieben, bis zur von aller Vorsicht befreiten Hingabe.

GÖRLITZ - Der fliegende Holländer -Szenefoto @ Pavel Sosnowski

Das ist großartig anzusehen und zu hören. Wenn dann vielleicht das Vibrato etwas zurückgeschraubt und die Stimme somit sauberer auf dem Ton läge, man wäre restlos begeistert. An ihrer Seite, eine Nuance theatralischer, der Holländer. Christian Henneberg. Was für eine Entwicklung! Nach Alberich in Rostock, später als Einspringer in Saarbrücken nun das Rollendebüt in einer Titelpartie im Wagner-Fach. Vom ersten bis zum letzten Ton, jede Silbe, in jeder Szene ist zu spüren, wie sehr er sich mit der Rolle nicht nur aus der Oper heraus, sondern explizit mit der Rollenanlage dieser Inszenierung auseinandergesetzt und diese durchdrungen hat. Zwischen Erfolg und Trauma, stark in der Öffentlichkeit als imposante Erscheinung, innerlich zutiefst verunsichert, voller Zweifel, von der Frauenwelt oft enttäuscht, auf der Suche nach einem starken Weib an seiner Seite, die es vermag, seine Wunden zu heilen – all das strahlt diese Figur auf der Bühne mit voluminöser Tiefe bis zur kernigen Höhe aus. Saubere Artikulation, technisch ausgegoren, keine Szene, in der es Ungewissheit am jeweiligen Seelenzustand gibt. Alle Gesten, gepaart mit außerordentlicher Musikalität, gewähren Einblick in die Psyche eines sich als verflucht Empfindenden.

Insgesamt ein gelungener Abend an einem kleinen, hochengagierten Haus.

Freunde Richard Wagners sind bekanntermaßen die aktivsten „Reisenden im Namen des Herrn“ und ich möchte nicht gleich behaupten, dass jeder Weg lohnt. Aber es hat mich nicht gereut, knapp 500km von Rostock aus auf mich zu nehmen. So sei zumindest den Interessierten im größeren Umkreis diese Inszenierung herzlich anempfohlen. Vermutlich gibt es den nächsten Wagner in diesem schönen Görlitz erst wieder in sieben Jahren.

Musikalische Leitung: Hermes Helfricht, Inszenierung - Andreas Rosar, Ausstattung - Fabian Lüdicke, Dramaturgie - André Meyer, Choreinstudierung - Albert Seidl

BESETZUNG: Der Holländer - Christian Henneberg, Daland - Peter Fabig, Senta - Patricia Bänsch, Erik - Wonjong Lee, Mary - Johanna Brault, Der Steuermann Dalands - Yalun Zhang, Neue Lausitzer Philharmonie, Opernchor, Statisterie