Chemnitz, Opernhaus, Der Bajazzo - R. Leoncavallo, IOCO
15. November 2025
Leoncavallos Bajazzo im amerikanischen Mittelwesten; Opernensemble Chemnitz kreiert eine hoffnungsvolle Repertoirebereicherung für ein junges Publikum
Wir wissen nicht, ob dem dreiunddreißig-jährigen Ruggero Leoncavallo (1857-1919) bewusst gewesen war, dass er mit seiner Oper Pacliacci eine der seltenen umfassenden Erklärungen der Weltenläufte geschaffen hatte. Denn mit seinem Postulat, dass sich die Dramen der Welt sowohl vor als auch hinter dem Vorhang ereignen, hatte er den wunden Punkt der menschlichen Existenz getroffen. Und dass sich auch die geringen Spuren von Liebe oder Wohlwollen auf der Welt im Blute der Beteiligten ersticken und die scheinbar unbeteiligten Volksmassen trotzdem beruhigt nach Hause geschickt werden, ist auch eine Tatsache.
Die Musikliteratur geht zwar überwiegend davon aus, dass der vom Musikverleger Giulio Ricordi (1840-1912) unterbeschäftigte Leoncavallo beim Besuch eines Talentwettbewerb des Verleger-Konkurrenten Edoardo Sonzogno (1836-1920) von der Siegerkomposition Cavallieria rusticana des Pietro Mascagni (1863-1945) extrem beeindruckt gewesen sein sollte. Beide Musikhäuser konkurrierten um die Gunst des Publikums: Ricordi, der die klassische Operntradition mit moralischem, ästhetischem Anspruch für das gebildete Publikum favorisierte, während Sonzogno, das Leben der einfachen Menschen mit ihren Leidenschaften, das Verismo auf die Opernbühne bringen wollte. Leoncavallo brach seine Zusammenarbeit mit Ricordi ab und schuf bei Sonzogno das Libretto und die Komposition der Oper Pagliacci. Die Streitereien und verbliebenen Unklarheiten über die Herkunft des Sujets der Oper, wer was im Vorfeld vorgelegt hatte, sollten uns wenig interessieren. Auch dass in der Musik der Oper zahlreiche Anleihen anderer Komponisten zu finden sind hat zumindest für mich kaum eine Bedeutung.

Obwohl sich die Cavalleria rusticana des Jahres 1888 stilistisch und in der Handlung der zugrundeliegenden Ästhetik deutlich vom 1892 entstandenen Pagliacci unterscheidet, kombinierte Sonzogno beide Werke zu einem Theaterabend. Auch wenn, um die Vorstellungen nicht über das Übliche auszudehnen, Mascagni 247 Takte seiner Urfassung opfern musste. In dieser Kopplung werden Cav und Pac noch immer mit großem Erfolg aufgeführt. Inzwischen wird aber zunehmend versucht, Pagliacci mit anderen Werken, so mit Henzes Das Wundertheater, Bartoks Herzog Blaubart sowie Puccinis Erstling Le Villi zu verknüpfen. Oder man überlässt dem Bajazzo als Alleinstellungsmerkmal, wie hier in Chemnitz, den kompletten Opernabend. Das verschafft dem Werk seine besondere Prägnanz und kommt den Wünschen eines jüngeren Publikums nach kürzeren, weniger aufwendigen Aufführungen entgegen.
Das Libretto Leoncavallos hatte es bezüglich der umfassenden Deutung etwas kleiner: es erzählt das winzige Ereignis aus dem Welttheater um die schöne Nedda, die mit der Commèdia-dellʼArte-Truppe ihres Mannes Canio in einen ländlichen Ort zu einem Gastspiel kommt. Hinter den Masken der Columbina und des Clowns verbergen sich Gefühle und Sehnsüchte nach einem grundverschieden anderen Leben. Als sich Nedda in den Bauern Silvio verliebte und versuchte diese Liebe auch zu leben, löste sie damit ein Eifersuchtsdrama aus.

Offenbar um ein junges Publikum für das Sujet zu interessieren, verlegte die Regisseurin Luise Kautz ihre Neuinszenierung des Bajazzo in den vorwiegend landwirtschaftlich geprägten Mittleren Westen der Vereinigten Staaten von Amerika und verknüpfte die Handlung mit den Wild-West-Road-Shows. Diese Veranstaltungen von Wanderschauspieler-Truppen bieten in den Kulturwüsten bis in die Neuzeit eine Mischung aus Unterhaltung, Propaganda sowie Mythenkult. Zudem verband Luise Kautz die simple Handlung mit den sozialen Medien des Internets, indem der Tonio als Mitglied einer frauenfeindlichen Chatgruppe eine besondere Bedeutung erhielt. Damit zurrte er die ohnehin von Leoncavallo dramatisch geschürzten Knoten noch fester.
Der Bühnenbildner Valentin Mattka hatte dem Team einen am Rande der Zivilisation vegetierenden Ort, dessen Einwohner von der Mais-Monokultur ihren Lebensunterhalt bestreiten, aufgebaut. Puppen aus Maisstroh und der Gemeinsame Kirchgang ließen vermuten, dass die Gauklertruppe an einem Feiertag mit ihrem bescheidenen Bus-Quartier im Ort ein trafen.
Die Drehbühne verschaffte uns dann einen Einblick in die ärmlichen Lebensverhältnisse der agierenden Künstler. Ein Blick in die Küche des Farmers Silvio ließ uns am von Tonio ausspionierten Treuebruch der Nedda teilhaben. Im weiteren Verlauf hatten die Bühnenhandwerker eine Bühne für die Show aufgebaut und die Einwohner zu fröhlichen, farbenfrohen Besuchern gruppiert.

Als die Columbina wie eine Europa auf einer Stier-Nachbildung zur Eröffnung der Show einritt, vermutete ich einen Rückgriff auf die die Person der Giuseppina Morlacchi-Omohundro (1836-1886) mit ihrer kulturhistorisch bedeutsamen Verknüpfung der Commèdia dellʼArte mit den Wild-West-Road-Shows. In Mailand geboren, gelangte Giuseppina im Jahre 1867 mit einer portugiesischen Ballettgruppe in die USA. Als Star einer Wandertruppe, die Ballettdarbietungen mit Westerndramen kombinierte, heiratete sie im August 1873 den Westernhelden John B. Texas Jack Omohundro. Nach dessen Tod im Jahre 1880 verließ Giuseppina Morlacchi-Omohundro das Ensemble und lebte wohlversorgt auf ihrem Landgut. Sie gilt noch immer als die erste Europäerin, die Teile der europäischen Kultur nach Amerika gebracht hatte.
Die massive Videogestaltung des Prologs und der Zwischenaktmusik von Judith Selenko, gestalterisch durchaus gekonnt, überdeckte leider die prachtvolle Musik aus dem Graben. Aber diese Empfindung dürfte eine Generationsfrage sein und medienüberfrachtete Besucher, die mit anderen Erwartungen die Vorstellung besuchen, kaum stören.
An den von Charlotte Werkmeister gestalteten Kostümen gefiel besonders die liebevolle Detailausstattung des Chorensembles.
Der kompakte Opernklassiker, Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, erlebte damit einen Versuch, ihm thematisch in neuer Aktualität auf die Opernbühne zu bringen.

Die musikalische und darstellerische Umsetzung der Arbeit des Inszenierungskollektivs ließ keine Wünsche offen. So wie sich der realistische Text kaum abgenutzt hatte, blieb auch die Musik Leoncavallos authentisch, selbst wenn altitalienische und französische Stileinflüsse die folkloristischen Anklänge überdeckten. Als Musikalischer Leiter des Abends vermittelte Johannes Braun mit der Robert-Schumann-Philharmonie die pointierte Musik. Mit deutlicher Zeichengebung sorgte er für den vorwärtsdrängenden Schwung der Entwicklung der Dramatik und sicherte in jeder Phase ein packendes Zusammenspiel des Grabens mit der Bühne. Dabei suchte und fand er auch spannungsreiche Momente der Moderne in der kontrastreichen Partitur. Die Musik, am Beginn noch zirkushaft schmetternd, wurde gefälliger in diesem Spiel im Spiel, bis echte Leidenschaft die Doppelbödigkeit zur Gewalttätigkeit aufbäumte. Die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie agierten dabei auf hohem musikalischem Niveau und schafften es, den Abend in Erinnerung bleiben zu lassen.
Auch das von Stefan Bilz mit etwa fünfzig Sängern gut besetzte hervorragend einstudierte Chorensembles gestaltete beeindruckende Gruppenszenen und hatte einen entscheidenden Anteil an der eindringlichen Wirkung der Aufführung.
Die Überbrückung der Mentalitätsunterschiede zwischen italienischen Wanderkomödianten und US-amerikanischen Road-Show-Artisten war, soweit es das Sujet zuließ, war gelungen.
Mit lebhaftem Spiel und einer in allen Lagen starken Stimme füllte der Tenor Daniel Pataky die Partie des Canio glanzvoll aus und sang einen mächtig auftrumpfenden Patriarchen. Als der Chor den Schauspielern seine Wünsche offerierte, hielt er mit seiner Bühnenpräsenz, dem Druck seines Singens dagegen. Er verteidigte die Rollenverteilung in seinem Ensemble und stimmte sein Bühnenpublikum für das veristische Geschehen ein. Seine glanzvoll timbrierte Stimme bot die Rohheit ungebremster Emotionen. Sein Bajazzo erforschte weniger die Macht glühender Leidenschaften als vielmehr die Brüchigkeit der künstlerischen Welt. Vom Taddeo des Thomas Essl auf die Untreue seiner Frau hingewiesen, ließ Pataky seine Bühnenfigur seelisch zusammenbrechen, aber zunächst weiterspielen. Auf offener Szene wurde er im Strudel der Eifersucht zur Raserei fortgerissen und wendete die Handlung der Komödie zur Bühnenrealität.
Als Nedda gelang der Sopranistin Akiho Tsujii mit dem Vogellied den Lebensdurst einer jungen Frau anschaulich zu gestalten. Mit strahlender Höhe, impulsivem Klang und in besten Legato ausgesungenen Passagen belegte sie ihrer Sehnsucht nach Unabhängigkeit von Canios Eifersucht, von Tonios Nachstellungen und vor allem weg von den ärmlichen Lebensumständen des fahrenden Volkes. Die Rolle der ehebrecherischen Nedda ist keine der großen Partien, aber unglaublich vielschichtig. Während ihr Partner sie auf der Bühne bereits bedroht, versuchte die Colombina den Schein noch aufrechtzuerhalten und die Ängste fortzuspielen. Doch im Flackern, wie die seit 2023 zum Ensemble des Hauses gehörige Japanerin das sang, war zu erkennen, dass ihre Nedda bereits nicht mehr an die Kraft ihres Spiels glaubte. Berückend wie Akiho Tsujii mit wenigen Tönen ihre Figur zusammenbrechen ließ.
Mit einer eher intellektuellen Erscheinung, der natürlichen Art der Bewegung und seiner schönen, tragenden Stimme bot der Ensemble-Bariton Jakob Ewert einen hervorragenden Silvio. Gezielt eingesetztes Vibrato, klare Diktion und ein metallisch-leuchtkräftiger Bariton kennzeichneten seine Rollenauslegung. Für den grandios durchgestalteten Prolog der Oper ließ der Bariton Thomas Essl seine sowohl mit Schwärze als auch eindrucksvoller Höhe ausgestatteten Stimme scheinbar mühelos strömen. Sorgfältig ausbalanciert und sensibel, zeichnete Essl mit differenziertem Gesang und engagiertem Spiel die schwierigen Charakterzüge seiner Tonio-Darstellung. Klarstimmig mit auffallender Bühnenpräsenz gab David Sitka einen perfekt besetzten munteren Peppe und lieh seinen schönen farbenreichen Tenor für die kurze Canzone des Arleccino, eigentlich eines Ständchen des Harlekins für die Colombina.
Die Chorsolisten Sang Gyun Ha und Stephan Hönig ergänzten als zwei gut besetzte Farmer das Solistenteam.
Die musikalische und ideenreiche Qualität der ausschließlich von Mitgliedern des Chemnitzer Ensembles gestalteten Premiere war ein faszinierender Nachweis der Leistungsfähigkeit des Chemnitzer Opernhauses.