Bayreuth im Kino? Eine Live-Übertragung der Meistersinger im Kino - IOCO

Moderner Krimskrams oder "Bayreuth meets Hollywood"?
Gott sei Dank, die moderne Technik lässt es zu: Die Festspiele sind nicht nur in Bayreuth selbst zu sehen. Sondern z. B. auch in Flensburg, Detmold und Saarbrücken. Überall in jeder Großstadt, sogar in der Provinz. Bundesweiter geht nicht. Wie ein Fußball-Länderspiel. Äußerst bequem im Kino. Der Autor hat einen Versuch in seinem Stamm-Kino, dem Atelier in Düsseldorf, gemacht, wo sonst aktuelle europäische Filmkunst läuft.
Heute wird als Eröffnungsvorstellung der Festspiele die Premiere der Meistersinger gezeigt. Nur 2 Stunden zeitversetzt im Vergleich zum Original. Also live, oder jedenfalls fast live.
Der Festspielleitung sei Dank, die dieses Pro für die moderne Technik mannhaft entschieden hat. Oder stand doch der eher woke orientierte Zeitgeist Pate? Und so stellt sich hier ganz vehement die Frage,
- ob das im Kino wirklich gut ist, ein großer Grund zu Freude aller Wagnerianer
- oder nur ein moderner Krimskrams,
- oder gar ein Mord an der großen exklusiven Tradition?
Der Autor hat einen Selbstversuch gewagt und versucht hier, Vorteile und Nachteile der Sache „Bayreuth ohne Festspielhaus“ aufzuspüren. Höchst subjektiv natürlich.
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Ein riesiger Vorteil ist natürlich die verführerische Bequemlichkeit. Kurze Anreise, äußerst großzügige, bequeme Kinosessel, breite, gepolsterte Armlehnen mit Getränkehaltern. Auch sehr lange Beine können genussvoll bis an ihr orthopädisches Ende ausgestreckt werden. Die Bayreuth-spezifischen Quälgeister in den übersteilen Rückenlehnen sind hier chancenlos. Und auch die Garderobe ist formloser. Nur eine einzige Krawatte zeigte sich – der Mann entschuldigte sich, er kam gerade direkt von der Arbeit.
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Der Kinosaal ist bestens temperiert. Wer einmal bei 35 Grad Celsius die Festspiel-Sauna durchgestanden hat, weiß das bis in die letzte Pore zu schätzen. Und erzählt von diesem Schreckensabend noch jahrelang. Dieser Klima-Vorteil schwankt andererseits jedoch je nach Wetterbericht. Der bange Blick auf die Wettervorhersage für Bayreuth hellt sich diesmal auf, aktuell sind 20 Grad Celsius angesagt. Dann ist der Klimavorteil höchstens ein + wert.
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Ob das obligatorische Popcorn heute eine vertretbare Wahl ist, muss jeder selbst entscheiden. Das anwesende Publikum im Altersschnitt von sicher 60 Jahren konnte heute geschlossen darauf verzichten. Von festlich zu profan wäre wohl nur ein kleiner Schritt gewesen. Die Popcorn-Maschine im Atelier lief zwar auf Hochtouren, aber die frisch duftenden Popcorn-Tüten fanden ihren Weg alle in den anderen Kinosaal.
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Na ja, die Tonqualität. Bestimmt ist hier jedes Kino anders. In Düsseldorf blieben die überwältigenden Schalldruckwellen aus, die man auf dem Hügel gewohnt ist. Die Musik wirkt irgendwie „flächig“. Vermutlich haben die meisten sich nach dem 1. Akt daran gewöhnt und hören den Unterschied nicht mehr.
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Etwas beckmesserisch könnte man auch anmerken, dass Ton und Lippenbewegungen manchmal auseinanderfallen. Was vermutlich aber nur „echten Kennern“ auffällt, die die Arien ohnehin auswendig kennen. Vielleicht wären einige Kreidestriche des Merkers angemessen.
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Was vermutlich der größte Vorteil überhaupt ist: Im Kino sieht man eine erlesene Folge von speziell geplanten Schnitten in der jeweils besten Kameraposition. Das hat so fast schon Hollywood-Format. Auf dem Hügel selbst kann man das in dieser Form leider nicht sehen, noch nicht einmal mit einem Opernglas. Durch diese speziell konstruierten Schnitte und Bildpositionen kommt eine völlig neue Qualität ins Opernleben, die man nicht mehr missen mag, wenn man sie auch nur ein einziges Mal gesehen hat. Dass es alle paar Sekunden einen neuen Schnitt gibt, ist fast nicht zu merken, man folgt atemlos der Bilderfolge, die das Werk bestens unterstützt. Den Technikern der Live-Übertragung gehört ein großes Kompliment: So wird es noch sehr viel mehr Bayreuth als auf dem Hügel selbst. Wagner hätte das bestimmt als weitere Steigerung des Gesamtkunstwerkes gefallen. Beispiele gefällig für das effektvolle Zusammenwirken von Kameraposition, Bildformat und Augenblick:
- Die darstellerische Qualität von Georg Zeppenfeld im Wahnmonolog. Die Großaufnahme seiner Mimik ist ein Erlebnis.
- Und natürlich ist die Kamera für die Nahaufnahme dabei in der entscheidenden Kussposition nach 3 Stunden Handlung: Sie zeigt nur 2 Köpfe im Großformat, im richtigen Kuss-Augenblick optimal eingefangen.
- Die vielen schnellen Kameraschnitte eignen sich bestens zum genussvollen Verfolgen aller Handlungsstränge. Wenn man sich z.B. fragt, was das hinter der Telefonzelle versteckte Paar (Walther, Eva) bei der Aktion des anderen Paares (Sachs, Beckmesser) empfindet: Die Kamera fängt es bestens in Nahaufnahme ein.
- Beckmessers grotesk-pantomimische Slapstick-Einlage in detaillierter Nahaufnahme beim Stolpern durch die Schusterwerkstatt.
- Die Hand Pogners in Großaufnahme, welche die Meisterkette nach 5 Stunden Oper zur Übergabe an den Ritter Stolzing bereithält. Und die Hand von Eva natürlich auch, die in Großformat dazukommt und dann völlig Überraschendes tut.
- ...man möchte gar nicht aufhören zu schwärmen....
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Die Pausen werden durch gute Interviews bestens gefüllt, ach was, bereichert. Der Regisseur Mattias Davids, Georg Zeppenfeld (Sachs), Michael Spyres (Walther von Stolzing) kommen zu Wort. Wir steigen mit auf den Schnürboden und schauen uns mal alles aus der Perspektive „hinter dem Vorhang“ an. Das ist eben nur digital möglich und beispiellos gut.
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Trotzdem: Das magische Erlebnis Bayreuth fehlt dann doch irgendwie. Spätestens wenn man am Ende applaudieren möchte. Und Trampeln ist auch keine Option auf dem harten Betonboden des Kinos. Was tun die Zuschauer im Kino, während der Applaus vom Hügel übertragen wird? Es entsteht ein merkwürdiges Schweigen. Es wird klar, dass etwas Wesentliches fehlt. Neben dem Festlichen.
Die Zukunft ???
Ist das die Zukunft? Bayreuth ohne Hügel? Im Kino? Braucht es gar nicht mehr die vielen teuren Opernhäuser? Oder ist es doch nur digitaler, modern-unnötiger Quatsch? Eine Antwort liefert die Abstimmung des Publikums mit den Füßen. Auf dem Hügel war zur Premiere ausverkauft (natürlich), das Düsseldorfer Kino höchstens zu einem Viertel besetzt. Aber bundesweit kamen sicher zwischen 10.000 und 20.000 Zuschauer für die Live-Übertragung zusammen. Was auch ein starkes Argument ist.
Man kann abschließend sicher sagen, dass man 2 unterschiedliche Aufführungen der Meistersinger am 25.7.25 sehen konnte:
- Zum einen die flüchtige Version auf dem Hügel, deren besondere Eindrücke unwiederholbar sind.
- Und dann eine Version, die digital mit bester Hollywood-Schnitttechnik aufgezeichnet worden ist. Und Gott sei Dank auch noch zum Jubiläum in 10 Jahren angesehen werden könnte. Wer will, kann sich diese Version in der Mediathek von 3Sat ansehen. Große Empfehlung!