Wiesbaden, Hessisches Staatstheater, ORYX AND CRAKE - Søren Nils Eichberg, IOCO Kritik, 25.02.2023

Wiesbaden, Hessisches Staatstheater, ORYX AND CRAKE - Søren Nils Eichberg, IOCO Kritik, 25.02.2023
Hessisches Staatstheater Wiesbaden © Martin Kaufhold
Hessisches Staatstheater Wiesbaden © Martin Kaufhold

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

ORYX AND CRAKE - Oper - Søren Nils Eichberg

- Dystopische Welt mit genmanipulierten Wesen -

von Ingrid Freiberg

Zum zweiten Mal gelang es dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden Søren Nils Eichberg für ein Auftragswerk zu gewinnen. Nach seiner Oper Schönerland über Flucht und Heimat, die 2017 uraufgeführt wurde, kam nun Oryx and Crake zur vielbejubelten Aufführung. Der Komponist entführt uns in eine faszinierende dystopische Welt: Genmanipulierte Wesen, die völlig friedfertig, aber auch ohne jede Fantasie sind, sollen dort die Menschheit ersetzen. Von der Grundidee zur Oper bis zu ihrer Aufführung dauerte es rund sieben Jahre.

Trailer | »Oryx and Crake« | Oper von Søren Nils Eichberg youtube Staatstheater Wiesbaden [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

„Oryx and Crake“ führt in eine postapokalyptischen Zukunft

Eichberg studierte Klavier und Komposition an der Königlichen Dänischen Musikakademie Kopenhagen sowie Klavier und Dirigieren an der Hochschule für Musik Köln. 2001 wurde sein Violinkonzert Qilaatersorneq mit dem Ersten Preis des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs ausgezeichnet. 2010 war er der erste Composer in Residence in der Geschichte des Dänischen Rundfunk-Sinfonieorchesters. Hilary Hahn nahm für die Deutsche Grammophon seine Komposition Levitation auf, die 2014 den Grammy Award erhielt. Weitere Aufträge erhielt Eichberg von dem Ensemble Modern, dem Mahler Chamber Orchestra und dem ARD-Wettbewerb. Seine Science-Fiction-Oper Glare kam im November 2014 am Royal Opera House London zur Uraufführung.

Die deutsche Schriftstellerin Hannah Dübgen studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin und schrieb Libretti für mehrere international erfolgreiche Opern, u. a. für die Oper Matsukaze des Komponisten Toshio Hosokawa. Sie inspirierte die deutsche Choreografin Sasha Waltz mit einem Stoff aus dem traditionellen japanischem Nö-Theater zu einer Tanzoper. Komponisten wie Moritz Eggert und Jörn Arnecke setzten ihre Texte in Töne um. Für Arneckes Oper Kryos imaginierte sie das Gesellschaftsthema Klimawandel in das 23. Jahrhundert. Von der Kritik bekam sie viel Lob für ihre eigens erfundene Spektralsprache. Dübgen ist eine Autorin, die sich für gesellschaftliche Aspekte und aktuelle Lebensformen in der vernetzten Welt interessiert. Sie formuliert klangvoll, musikalisch, strukturiert und rhythmisch, das waren ideale Voraussetzungen, auch das englischsprachige Libretto für die Oper Oryx and Crake nach dem sehr erfolgreichen dystopischen Roman von Margaret Atwood, der im Jahre 2003 erschien, zu schreiben. Roman wie Oper beginnen in einer postapokalyptischen Zukunft.

Hessisches Staatstheater / Oryx and Crake hier Christopher Bolduc, Samuel Levine, Anastasiya Taratorkina, Benjamin Russell © Karl und Monika Forster
Hessisches Staatstheater / Oryx and Crake hier Christopher Bolduc, Samuel Levine, Anastasiya Taratorkina, Benjamin Russell © Karl und Monika Forster

Die Uraufführung dieser Oper bedingt, näher auf die Handlung einzugehen: Snowman ist der einzige Überlebende einer Pandemie. Anstelle der Menschen haben sich Craker ausgebreitet, primitive Naturwesen, die gentechnischen Ursprungs sind. Sie verehren Snowman, er erklärt ihnen durch erfundene Mythen die Entstehung der Welt. Den Namen Snowman hat er sich selbst gegeben. Vor der Pandemie hieß er Jimmy. Er verletzt sich am Fuß und beschließt, nach RejoovenEsense, an den Ausgangspunkt der Pandemie und der Craker, zurückzukehren, um nach Medikamenten und Waffen zu suchen. Auf seinem Weg plagen ihn Erinnerungen: Jimmy lebt mit seinen Eltern in einem streng bewachten Sicherheitskomplex, der zu OrganInc Farms gehört. Der Konzern züchtet gentechnisch modifizierte Schweine, die für Organtransplantationen verwendet werden. Jimmys Vater arbeitet bei OrganInc Farms, seine Mutter Sharon hat aufgrund von Depressionen ihren Job dort aufgegeben. Mit seinem besten Freund Crake verbringt Jimmy seine Zeit mit OnlineSpielen. Das Spiel Extinctathon, in dem es um ausgestorbene Tierarten geht, fasziniert Crake. Über das Internet lernen sie die Sexarbeiterin Oryx kennen. Beide sind gebannt von ihrem anklagenden Blick. Crake lässt sich an einer Eliteuniversität ausbilden. Er arbeitet im Komplex RejoovenEsense am Paradice Project: Angesichts der wachsenden Bevölkerung und der zunehmenden Naturzerstörung durch die Menschen entwickelt er mithilfe von Gentechnik Wesen, die im Einklang mit der Natur leben, sich kontrolliert fortpflanzen, keine Religion und keine Kultur haben und zwischen denen keine Rivalität herrscht: die Craker. Über das Internet hat Crake Oryx ausfindig gemacht. Sie soll die Craker erziehen. Crake und Jimmy verlieben sich beide in Oryx. Crake entwickelt ein Medikament, das Energie, Libido und Wohlbefinden verspricht. Die Pille namens BlyssPluss hat allerdings eine geheime Wirkung: Sie verhindert die menschliche Fortpflanzung. Jimmy beginnt hinter Crakes Rücken eine Affäre mit Oryx. Eine Pandemie bricht aus. In BlyssPluss hat Crake ein tödliches Virus versteckt, das die gesamte Menschheit auslöscht. Sich selbst und Jimmy hat Crake jedoch heimlich immunisiert. Jimmy verschanzt sich im Kontrollraum von RejoovenEsense. Crake verlangt, mit der verletzten Oryx eingelassen zu werden. In der Sicherheitsschleuse tötet Crake Oryx vor den Augen von Jimmy. Dieser erschießt Crake. Snowman ist in die Ruinen von RejoovenEsense zurückgekehrt und stattet sich mit Medikamenten und Waffen aus. In der Ferne erblickt er eine Gruppe von Menschen, die die Pandemie offenbar ebenfalls überlebt hat.

Hessisches Staatstheater / Oryx and Crake hier Benjamin Russell, Craker © Karl und Monika Forster
Hessisches Staatstheater / Oryx and Crake hier Benjamin Russell, Craker © Karl und Monika Forster

Dreamteam garantiert erfolgreiche, aufregende Aufführungen

Wie schon bei der umjubelten Babylon-Produktion führt Daniela Kerck in ihrem eigenen Bühnenbild Regie, erneut unterstützt von der Videokünstlerin Astrid Steiner, und unter Mitwirkung von Andrea Schmidt-Futterer, Kostüme. Sie sind ein Dreamteam für erfolgreiche, aufregende Aufführungen. Und wie stets arbeitet Kerck mit hoher Sensibilität die Szenarien der Produktion heraus. Auch ihre aktuelle Inszenierung ist wiederum eine dem Werk dienende. Den Roman von Margaret Atwood auf die Bühne zu bringen, birgt außerordentliche Schwierigkeiten. Die Bühnenfassung gliedert sie in acht Bilder (Awakening, Falling, Eating, Walking, Remembering, Liberating, Returning, Encountering). Dominiert werden die Szenen von einem auffallend platzierten, großen kahlen Ast, auf dem der Erzähler Snowman, ein Name, den sich Jimmy selbst gegeben hat, „lebt“. Die Bühne ist vorwiegend in Dunkel gehalten, weil er vor Sonneneinstrahlung geschützt werden muss. Angedeutet ist eine Skyline der Stadt New York, ein Labor, in dem Tiere gezüchtet werden, denen Ersatzorgane entnommen werden, und das Medikament, das die Seuche hervorruft entwickelt wird. Maßgeblich beteiligt am digitalen Futurismus ist die Videokunst von Astrid Steiner. Mit einer silberbeschichteten Spezialfolie, die der Bühne vorgespannt ist, wird technisches Neuland betreten und ein atemberaubender 3D-Effekt erzeugt. Gezüchtete Organschweine, neonfluoreszierende giftgrüne Kaninchen, ausgestorbene Tiere, Pflanzen, schwarze Vögel, Überschwemmungen kommen in spektakulärer Weise auf das Publikum zu. In dieser utopischen Welt können alle frei interagieren. Auch die Anforderungen, die Andrea Schmidt-Futterer zu bewältigen hat, sind eine Herausforderung. In Atwoods Buch steht: Die Craker sind nackt, mit einer verschiedenfarbigen Haut, die nach Zitronen duftet. Das zu abstrahieren und auf die Bühne zu bringen, gelingt Schmidt-Futterer mit transparenten, grünlich changierenden Ganzkörperstrümpfen.  Treffliche Kostüme betonen gekonnt zwei Zeitebenen, zeigen, dass der junge auch der alte Crake ist, und Jimmy nun Snowman.

Oryx and Crake - International Interview Teaser - Daniela Kerck & Albert Horne youtube Staatstheater Wiesbaden [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Mitreißendes Ensemble

Anastasiya Taratorkina ist die bezaubernde Oryx. Eine junge Frau, deren Kindheit durch die Armut der Familie früh endete und die nun eine Dreiecksbeziehung führt. Der schönste Moment des Abends ist das wundervoll lyrische Liebesduett mit Jimmy. Es erzeugt Gänsehaut. Die expressiven, hohen Töne sind sehr schwer zu singen. Mit fast instrumentaler Stimmführung drückt Taratorkina die enormen Gefühlsschwankungen der Titelheldin ergreifend aus. Ihre warme, biegsame Stimme, anrührende Seelentiefe und Klangschönheit überzeugen. Sie scheint für diese Rolle geboren. Samuel Levine als erwachsener Jimmy ist ihr kongenialer Partner. Seine subtile Körpersprache, sein quellfrisches, angenehm helles Timbre, seine präzise Tongebung begeistern. Es gibt sie eben doch immer wieder: die künstlerischen Glücksfälle. Charismatisch, gestalterisch perfekt, erzählerisch überzeugend in allem, was er tut, ist Benjamin Russell als Snowman. Sein Stimmumfang ist eindrucksvoll, seine warme Tiefe betörend, seine strahlende Höhe makellos. Was er zu bieten hat, sprengt die Möglichkeiten einer herkömmlichen Stimme bei weitem. Es ist auch eine ausgezeichnete darstellerische Leistung. Russell taucht in diese Figur ein, macht sie zu der seinen. Seine Begeisterung ist bewegend und reißt das Publikum mit.

Christopher Bolduc , der geniale verrückte Wissenschaftler Crake, der mit Hypris und Vernarrtheit eine Lösung für alle Probleme zu finden sucht, macht mit seiner großartigen Darstellung Angst und zeigt eine ungewöhnlich kommunikative Kraft. Umwerfend, mit schonungsloser Emphase, gelingt ihm ein Sprechgesang, vergleichbar mit einem Rap. Völlig unangestrengt in den Ausbrüchen, mal samtig-weich, mal mephistophelisch, fesselt er mit leidenschaftlicher Hingabe. Wichtige Kritikerin und Mahnerin des Systems, die Zustände der Gesellschaft hinterfragend, ist Sharon, Jimmys Mutter, gesungen von Fleuranne Brockway. Zunächst systemkritisch, danach depressiv, wird sie zur Dissidentin und Staatsfeindin. Es ist eine mehrdeutige bedeutsame Rolle, die sie wunderbar natürlich mit dramatischem klangschönem Mezzo, mit Sinnlichkeit und technischer Brillanz füllt. Teil des menschlichen Systems ist Jimmys Vater, mit tiefer Schwärze gesungen von Mikhail Biryukov. Er arbeitet wie auch Jimmys Mutter bei OrganInc Farms und geht an einer von deren Entwicklungen zugrunde. Angenehm im Klang, mit den beredten Schattierungen seines Basses verkörpert er das sich ankündigende Unheil.

Tianji Lin, Tenor, (Craker Abraham Lincoln), Jessica Poppe, Mezzosopran, (Craker Sacajawea) und Stella An, Sopran, (Craker Empress Josephine - mit dickem Babybauch; ist das ein Hoffnungsschimmer?), sind genetisch perfekte nackte Wesen, künstlich erschaffen, denen jeder Argwohn fehlt und die am Boden ihr Dasein fristen. Die Sänger*innen reihen sich als Solo-Craker perfekt in die Reihen der Tänzer ein. Das ist eine glänzende Ensembleleistung. Das Gesangs-Trio findet ausdrucksstark zu einer eigenen musikalischen Farbe. Komplettiert wird die Schar der Craker durch acht hingebungsvolle Tänzer: Felix Chang, Guillermo De la Chica Lopez, Jasper H. Hanebuth, Carlos Diaz, Joel Spinello, Tamara Kurti, Carla Peters, Josefine Rau. Die Choreografie von Rosana Ribeiro unterstreicht mit einer fesselnden Tanzsprache die „verrückten“ Bewegungen der künstlich entworfenen Wesen.

Solisten der Limburger Domsingknaben geben ihr Operndebüt

Dass Crake gedoppelt, Jimmy/Snowman verdreifacht wird - bis hin zu zwei Knabenstimmen, vergrößert die Fülle der Ausdrucksmöglichkeiten: Solisten der Limburger Domsingknaben, Jakob Hebgen, Crake als Kind, und Joel Stambke, Jimmy als Kind, geben ihr erfolgreiches Operndebüt. Die Einstudierung übernahm Andreas Bollendorf. Obwohl Eichberg in seiner Partitur auch Hosenrollen in Betracht zieht, ist das eine erstklassige Wahl.

Chor und Orchester auf ausgesucht hohem Niveau

Nicht zu sehen, aber ein wichtiges Element der Partitur ist der Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden unter Leitung des Chordirektors und Koordinierenden Musikalischen Leiters Albert Horne. Der Chor erreicht zum wiederholten Mal ein ausgesucht hohes Niveau.

Die Musikalische Leitung des Hessischen Staatsorchester Wiesbaden liegt ebenfalls in den Händen von Albert Horne. Um sich besser in die Orchestrierung von Oryx and Crake einfühlen zu können, hier die Aufzählung der in der Partitur angegebenen Instrumente: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten in Bb, Bass-Klarinette in Bb, Bass, Kontrabass, 4 Hörner in F, 2 Trompeten in C, Posaune, Bass-Posaune, Tuba, Pauke, 3 Percussionisten, Synthesizer, Piano und Streichinstrumente.

Klassische Orchesterinstrumente werden tonal mit Elektronik kombiniert, mit Leitmotiv-Technik bis hin zur menschlichen Stimme unterstützt. Gefühle und Stimmungen mit reizvollen, teils lieblichen, Melodien beschrieben. Durch Rapmusik entstehen starke musikalische Reize. Die lebhafte Musiksprache Eichbergs verfügt über ein breites Spektrum: ist überwiegend nachdenklich, sensibel und sehr kreativ. Sie lädt zum Innehalten und Wahrnehmen von Zwischentönen ein. Zeitweise wird man an die Abfolge eines Requiems erinnert. Glücklicherweise lässt die Komposition auf einen glücklichen Ausgang hoffen. Aufhorchen lässt das Glockenmotiv, welches mit vier Schlägen das jeweilige Geschehen einläutet. Das alles erfordert individuelle Einsatzbereitschaft des Orchesters, um neue Spieltechniken zu erlernen und neue Dimensionen zu erarbeiten. Unter Leitung von Albert Horne erreicht es eine glaubhafte klangliche Plastizität. Das Orchester präsentiert sich in geschliffener energiegeladener Bestform, dynamische Extreme auslotend. Es wird kraftvoll bis einfühlsam musiziert, durchsetzt von grellen dramatischen Akzenten. Klangfarben und soghafte Rhythmen überraschen immer wieder aufs Neue. Bewundernswert, wie umsichtig und zugleich leidenschaftlich Horne das Orchester führt, das ihm bedingungslos folgt.

Es war ein großer Abend, der von lang anhaltendem tosendem Applaus goutiert wurde.