Berlin, Komische Oper, Die Gezeichneten von Franz Schreker, IOCO Kritik,

Berlin, Komische Oper, Die Gezeichneten von Franz Schreker, IOCO Kritik,

Komische Oper Berlin

Komische Oper Berlin / Zuschauerraum © Gunnar Geller
Komische Oper Berlin / Zuschauerraum © Gunnar Geller

Die Gezeichneten von Franz Schreker

Verstörende tonale Traumatherapie an der Komischen Oper

Von Kerstin Schweiger

Calixto Bieto inszeniert 100 Jahre nach der Uraufführung an der Frankfurter Oper 1918 Franz Schrekers spätromantische Oper Die Gezeichneten an der Komischen Oper Berlin. Premiere war am 21. Januar 2018.

Als einer der meistgespielten Opernkomponisten nach dem ersten Weltkrieg klingt Franz Schreker musikalisch nahe an Wagner, Mahler und Strauss. Mit ausgeprägten expressionistischen Stilmitteln war seine Musiksprache auch Ausdruck eines unbedingten Erneuerungswillens nach Kaiserreich und Weltkrieg in der jungen Weimarer Republik. Der Erfolg führte zur Berufung als Direktor der Berliner Akademischen Hochschule für Musik, die er leitete bis er von nationalsozialistischen Kulturverantwortlichen bereits 1931 aus dem Amt gedrängt wurde. Von den Nationalsozialisten als „entartet“ diffamiert und von den Bühnen verbannt, fanden seine Stücke erst in den 1970er Jahren nach und nach wieder den Weg in die Opernhäuser.

Schreker maß den Libretti seiner Stücke große Bedeutung zu und verfasste diese als Textdichter überwiegend selbst. Dabei waren die Veröffentlichungen Freuds ebenso prägend wie die morbiden Ausläufer des Fin de Siécle und das spätbürgerliche oder auch oppositionelle Verständnis von Künstlern und Literaten wie Oscar Wilde, Zweig, Schnitzler und Wedekind, auf dessen Drama „Hidalla oder Sein und Haben“ (1904) das Libretto zu Die Gezeichneten fußt. Das Stück ist im Genua der Renaissance-Zeit verankert.

Beeinflusst von Weltkrieg, Massentraumata und dem gesellschaftlichem Umbruch der Entstehungszeit, führt der gesellschaftliche Überbau in Schrekers Stück zu einer Konzentration der Figuren auf das Ich, zu einem Ringen mit dem Selbst und den Anderen. Schrekers Protagonisten sind auf der Suche nach Eros und Erlösung, Liebe und Schönheit, verlieren sich aber in den Abgründen seelischer und erotischer Exzesse.

Komische Oper Berlin / Die Gezeichneten © IKO Freese / drama-berlin.de
Komische Oper Berlin / Die Gezeichneten © IKO Freese / drama-berlin.de

Die Handlung

Eine Refugium der Lust vor den Toren Genuas, verschwundene und missbrauchte Kinder, ein seelisch deformierter Kunstliebhaber als Fädenzieher, der sich in den von ihm gesponnenen gesponnenen Fäden selbst verliert sind die Eckpunkte dieses spätromantisch-psychologischen Musiktheaterstücks. Der reiche Alviano hat ein hässliches Geheimnis. Seine Seelenqualen lindert er an einem  Fluchtort, den er sich selbst geschaffen hat, sein Elysium. Zugänglich ist es nur für ihn und sein männliches Netzwerk reicher Freunde. Diese leben dort abgründige, brutale Neigungen aus. Immer mehr junge Töchter und Söhne verschwinden aus der Stadt, Alviano fürchtet, dass sie in seinem Elysium entdeckt werden und will es allen Bürgern der Stadt zugänglich machen. In der Begegnung mit der schönen, fragilen Künstlerin Carlotta sieht er Seelenverwandtschaft und findet er erstmals einen Weg, aus den um sich selbst kreisenden seelischen Problemen auszubrechen und sich einem anderen Menschen zu öffnen. Carlotta malt sein Porträt und Alviano sieht in ihr die lang gesuchte Liebe seines Lebens, eine Art Erlöserin seiner mentalen Probleme. Carlotta wendet sich jedoch Tamare, einem der adeligen Freunde Alvianos zu und wendet sich von Alviano ab. Alviano öffnet sein Elysium den Bürgern der Stadt. Tamare verrät versehentlich dem Herzog den eigentlichen Zweck des Elysiums. Die Genueser, in Bewunderung des von Alviano geschaffenen äußerlich paradiesisch schönen Ortes schützen Alviano zunächst vor dem Zugriff. Die Stimmung kippt als das Ausmaß des Missbrauchs und Kindermordens offenbar wird. Alviano, Carlotta und Tamare reißen sich gegenseitig in den Tod.

Die Produktion

Anlässlich der Berliner Erstaufführung am 1. Juni 1921 in der Vossischen Zeitung schrieb Max Marschall: „Man mag im Einzelnen gegen das Werk sagen, was man will: es ist in seiner Gesamtheit anzunehmen, die Kühnheit und die Größe seiner Konzeption gelten zu lassen, ja zu bewundern, wird man nicht umsonst kommen“. Wie aber spricht das Stück heute ein Publikum an, zumal in der Komischen Oper, die unter der Leitung von Barrie Kosky stets nach Rückfragen zu aktuellen Themen an Opernwerke sucht und diese auch findet?

Calixto Bieito macht es dem Publikum nicht einfach. Wenn er Regie führt, sitzt der Zuschauer gedanklich den ganzen Abend auf der Sesselkante. Bieito konzentriert die verzweigte Handlung in der aktuellen Inszenierung auf Alvianos pädophile Neigung und macht dabei auch nicht vor Änderungen an Text und Handlungsfäden halt. So wird aus Alvianos selbst gewählter abgeschirmter Traumwelt Elysium ein von anderen im großen Stil genutzter organisierter Kindesmissbrauch an Jungen und Mädchen.

Bieito, der dem Haus mit Inszenierungen von Madame Butterfly, Armida, Freischütz, Dialoge der Karmeliterinnen und einer viel diskutierten Entführung aus dem Serail seit fast zwei Dekaden verbunden ist, fordert den Zuschauer auch in seiner 8. Inszenierung an diesem Haus heraus, sich auseinanderzusetzen, sich bestürzendsten Bildern zu stellen, die in eine verdichtete Gegenwart führen. (Kostümbild: Ingo Krügler). Alvianos Weltbild ist – auch optisch – wie ein verstörender immer währender Kindergeburtstag. Er selbst ein ewiger Peter Pan, der nicht erwachsen wird und in einer stets präsenten Jungenpuppe mit Matrosenanzug sein junges Alter Ego und seine pädophile Neigung spiegelt. Die Kinderkomparserie der Komischen Oper leistet hier und insbesondere später im Schlussbild Großartiges.

In einem weißen Reinraum der Gefühle (Bühnenbild: Rebecca Ringst) versetzt Bieito den Zuschauer in die Rolle eines Psychoanalytikers, der die Seelenbilder der Protagonisten betrachtet. Vermittelt wird dies im ersten Teil ausschließlich auf der Vorbühne in einem klinisch weiß abgehängten Portal vor einer weißen Wand, die als Projektionsfläche für die Innenwelten der Protagonisten aber auch – und das sind die verstörendesten Bilder – der unter deren Taten leidenden Kinder und ihrer Vergewaltiger dient (Projektionen: Sarah Derendinger). Die Konzentration der ersten beiden Akte auf der Vorbühne in einer fast statischen Regie dominiert die erste Hälfte des Abends, macht diese jedoch auch stellenweise sehr zäh und in der szenischen Aufbereitung seltsam undynamisch. Dies steht in völligem Kontrast zur überbordenden nervösen Klangwelt Schrekers. Die Protagonisten können sich in der szenischen  Reduktion also völlig auf den von Stefan Soltesz und dem absolut fabelhaften  Orchester der Komischen Oper ausgebreiteten opulenten Klangteppich Franz Schrekers begeben.

Im zweiten Teil reißt das Produktionsteam dann die Wand auf rückt und die Tabus der Gesellschaft ins direkte Scheinwerferlicht. Hier findet Bieito auch zu einer klaren irritierenden und direkten szenischen Sprache.

Komische Oper Berlin / Die Gezeichneten © IKO Freese / drama-berlin.de
Komische Oper Berlin / Die Gezeichneten © IKO Freese / drama-berlin.de

Ein Toyland mit riesigen Spielzeugen, Stofftieren, Monstern ist der Playground für die morbide Gesellschaft, die sich an Kindern vergeht und diese organisiert ins Elysium verschleppt hat. Riesige Teddybären, ein überlebensgroßer King Kong; Dinosaurier, Roboter bevölkern die düstere Szenerie. In der Vorankündigung der Komischen Oper heißt es: „Die Gezeichneten heute wie damals brisante Themen: Worüber trauen wir uns nicht zu reden? Und wie gehen wir mit dem um, was dann doch an die Oberfläche gelangt.“ Franz Schrekers ebenso opulente, ausladende aber auch stetig nervös springende Musik unterstützt dies mit eruptiven, teils schwülstigen Klanggemälden. Musikalisch steht das Stück permanent vor dem Ausbruch eines Vulkans, ein Spiegelbild des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Anklänge an Mahler und Strauss aber auch Korngold, in Klangsequenzen suggerieren quasi  der Tonfilmära vorweggenommene Hollywood-Filmmusik-Zitate. Die Ouvertüre macht bereits klar, wie virtuos Schreker ein Orchesterklangbild zeichnet. Weit gespannte Melodiebögen lösen sich stetig wechselnd ab mit harmonischen Entwicklungen bis an den Rand der Tonalität. Inspiriert durch Symbolismus und Psychoanalyse entsteht ein Musiktheater musikalischer wie dramatischer Grenzüberschreitung. Seine Figuren sind auch musikalisch buchstäblich voneinander Gezeichnete.

Die musikalische Leitung liegt bei Stefan Soltesz in besten Händen. Er bündelt Schrekers eklektische Klangekstase zügig und lässt trotzdem den Sängern Freiraum für große Phrasierungen. Mit straffem Dirigat bringt er das Orchester der Komischen Oper zum Strahlen.

Die international gefeierte litauische Sopranistin Aušrine Stundyte als Carlotta, der englische Tenor Peter Hoare als tragischer Held und der Bariton Michael Nagy, ehemals Ensemblemitglied der Komischen Oper Berlin, als moralisch korrupter Gegenspieler Alvianos sind die gefeierten Protagnisten. Peter Hoare bewältigt die fordernde Rolle des Alviano großartig. Aušrine Stundytes dunkler dramatischer Sopran unterstreicht in ihren großen Szenen die morbide Figur Carlottas, die in Bieitos Interpretation selbst Missbrauchsopfer zu sein scheint. Michael Nagys präsenter dunkler Bariton gibt dem selbstverliebten, egozentrierten Tamare stimmstrahlende psychologische Kontur. Als Herzog ist Joachim Goltz, als Podesta Nardi, Carlottas Vater, Jens Larsen musikalisch sehr präsent und souverän.

Komische Oper Berlin / Die Gezeichneten - hier Michael Nagy als Tamare, Michael Hoare als Alviano © IKO Freese / drama-berlin.de
Komische Oper Berlin / Die Gezeichneten - hier Michael Nagy als Tamare, Michael Hoare als Alviano © IKO Freese / drama-berlin.de

Schreker hat trotz der starken Konzentration auf das leading Trio noch eine Nebenhandlung implementiert. Hier sind als vorzügliche Sängerdarsteller aus dem exzellenten Ensemble der Komischen Oper insbesondere Christiane Oertel und Christoph Späth zu nennen.

Das Schlussbild im Toyland, in dem der klangstarke Chor der Komischen Oper Berlin, szenisch und musikalisch eindringliche (einstudiert von David Cavelius) Präsenz zeigt, gehört zu den stärksten des dreistündigen Abends: eine riesige Spielzeugeisenbahn mit leblosen Kindern an Bord zieht unermüdliche Kreise während die drei Protagonisten einander ihre Seelen öffnen und sich gegenseitig in den Abgrund ziehen.

Wer Stanley Kubriks filmisches Meisterwerk „Eyes wide shut“ als verstörende Filmoper nach Schnitzlers „Traumnovelle“ in Erinnerung hat, findet in Bieito an der Komischen Oper einen Bruder im Geiste Kubricks an der Seite Franz Schrekers.

Calixto Bieito galt lange als „Skandalregisseur“, hier katapultiert er sich mit dieser Inszenierung auf eine andere Ebene: als kluger Regieanalytiker versetzt er den Zuschauer in einen Opernalbtraum mit aktuellem Bezug.

Lang anhaltender Applaus für alle Beteiligten, insbesondere das Protagonisten-Trio und Stefan Soltesz

Die Gezeichneten an der Komischen Oper, weitere Vorstellungen: 10.2., 18.2.; 11.7. 2018

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