Bonn, Theater Bonn, Anatevka: Humor und Mitgefühl trotzen Not und Vertreibung, IOCO Kritik, 22.03.2016

Bonn, Theater Bonn, Anatevka: Humor und Mitgefühl trotzen Not und Vertreibung, IOCO Kritik, 22.03.2016
bonn_theater_bonn

Theater Bonn

Theater Bonn © Thilo Beu
Theater Bonn © Thilo Beu

Musical Anatevka von Jerry Bock Aufforderung zu Menschlichkeit, Humor und Aufbruch

Anatevka, als Fiddler on the Roof uraufgeführt, ist das ergreifend melancholische Musical um Leben, Ermordung und Vertreibung ukrainischer Juden aus ihrem Heimatdorf  Anatevka. Eine Story von zeitloser Aktualität; die derzeitige Flüchtlingskrise ist nur eine weitere traurige Kopie damaligen Elends. Anatevka lehrt vom hohen Gut von Menschlichkeit, auch wenn Elend oder moralische Verrohung Nahe sind.

Bonn / Theater Bonn ANATEVKA_Milchmann Tevje © Thilo Beu
Bonn / Theater Bonn ANATEVKA_Milchmann Tevje und Dorfgemeinschaft © Thilo Beu

Das Musical entstammt dem Buch Tevje, der Milchmann, in welchem der nahe Kiew geborene Yakow Rabinowitz Leben und Vertreibung der Juden aus dem ukrainischen Örtchen Anatevka beschreibt. Rabinowitz nahm später den Namen Scholem Alejchem an, hebräisch für „Friede sein mit Euch“. Als sein Buch um 1916 erstmals erschien hatte Scholem Alejchem wegen judenfeindlicher Pogrome seine Heimat längst verlassen. In New York fand der Bewahrer jiddischer Kultur neue Heimat und literarischen Erfolg. Sein Buch Tevje war die Basis für Jerry Bock und sein erfolgreiches Musicals. Bock schrieb die für Ostjuden typische Musik; mit Jerome Robbins (Choreographie), Joseph Stein (Buch) und Sheldon Harnick (Liedtexte) hatte Fiddler on the Roof 1964 in New York seine spektakuläre Uraufführung. Die deutsche Uraufführung 1968 in Hamburg als Anatevka entkrampfte zudem den deutschen Zugang zu jüdischer Kunst und Künstlern.

Bonn / Theater Bonn - ANATEVKA und der mitreissende Flaschentanz © Thilo Beu
Bonn / Theater Bonn - ANATEVKA und der mitreissende Flaschentanz © Thilo Beu

Regisseur Karl Absenger inszenierte Anatevka erfolgreich auf vielen großen Bühnen. Menschlichkeit, Humor und Wehmut prägen seine Inszenierungen, so auch im Theater Bonn. Bühnenbild und Kostüme sind unverstellt naturalistisch. Holztische, Holzdielen, Milchkarren. Doch bietet die Inszenierung auch viele optische Höhepunkte. Mit der Ouvertüre spielt im Rang des Theaters ein Fiedler Klezmer während auf der Bühne Tevje, der Milchmann (Gerhard Ernst) mit Milchkarren den Wert der Tradition beschwört. Tradition helfe Gleichgewicht, Friede und Eintracht der Dorfgemeinschaft zu erhalten, das schweren Leben fertig zu meistern. Die Inszenierung im Theater Bonn wird von darstellerisch hervorragend besetzte Partien, große Chören, sanftem jiddischem Humor (Tevje: „..Heute bin ich das Pferd..“, „..wenn man reich ist, gilt man auch als klug“..“..Geld ist ein Fluch...Oh möge uns der Herr damit beladen“..) geprägt.

Bonn / Theater Bonn ANATEVKA - Nachtträume von Tevje und Golde © Thilo Beu
Bonn / Theater Bonn ANATEVKA - Nachtträume von Tevje und Golde © Thilo Beu

Tevjes Frau Golde (Anjara Bartz) träumt derweil kauzig über gute Partien für ihre drei heiratsfähigen Töchter; und beschwört die Heiratsvermittlerin Jente (Maria Mallé):Jente, o Jente, bring uns einen Mann..“ Tevje verspricht dagegen Tzeitel dem Metzger Lazar Wolf (Martin Tzonev). Dagegen träumen die drei Töchter (Tzeitel – Sarah Laminger; Chava – Lisenka Kirkcaldy; Hodel - Maria Ladurner) von eigenen Heiratswünschen, welche denen der Eltern gar nicht entsprechen. Pogrom-Meldungen, nach denen im Nachbardorf Juden vertrieben wurden, gehen im dörflichen Treiben unter. Zu einer spektakulären Tanz-, Traum- und Lichtchoreographien (Vladimir Snizek) schwebt Goldes verstorbene Großmutter (Barbara Teuber) durch den Bühnenhimmel, feiert Tzeitel ihre Hochzeit mit dem Schneider Mottel (Christian Georg) bis marodierende Soldaten die reale Bedrohung in Anatevka sichtbar machen.

Bonn / Theater Bonn ANATEVKA - Die Erscheinung der toten Großmutter © Thilo Beu
Bonn / Theater Bonn ANATEVKA - Die Erscheinung der toten Großmutter © Thilo Beu

Im zweiten Akt setzen auch die beiden anderen Töchter Tevjes, Chava und Hodel eigene Liebeswünsche durch. Tevje erkennt rückblickend weise: „Auch wir wussten voneinander nicht Bescheid, doch nach 25 Jahren wird es endlich Zeit“. Dann müssen die jüdischen Bewohner müssen ihr Anatevka binnen drei Tagen verlassen. Tevje und die Dorfbewohner reagieren pragmatisch leise. Sie entscheiden nicht zu kämpfen sondern Anatevka auf immer zu verlassen. „Anatevka ist auch nicht der Garten Eden!“, „Vielleicht haben wir Juden deshalb immer einen Hut auf dem Kopf!“ Einer: „Wir ziehen nach Amerika zu Onkel Abraham!“, der andere geht nach Krakau. Jente die Heiratsvermittlerin: „Ich ziehe nach Jerusalem ins gelobte Land!“

Bonn / Theater Bonn_Anatevka Ensemble © IOCO
Bonn / Theater Bonn_Anatevka Ensemble © IOCO

Anatevka im Theater Bonn reißt mit und macht gleichzeitig betroffen. Wehmütig endet der Abend zu Klezmer-Klängen des Fiedlers und einer Dorfgemeinschaft, welche erneut Gewalt weicht, um ihre körperliche wie kulturelle Existenz zu bewahren. Große wie kleine Geschichten jiddischen Alltags und das traurige Ende werden in der Produktion des Theater Bonn mit bestechender Choreographie und einem riesigen Ensemble nicht grob und rau sondern filigran, listig wie lebensfroh ausgebreitet. Der neue 1. Kapellmeister am Theater Bonn, Stephan Zilias, leitete das kleine Beethoven Orchester, führte Solisten, Ensemble und die großen Chöre sanft und feinfühlig. Das Publikum im ausverkauften Theater Bonn dagegen, wenig filigran oder feinfühlig, ließ kein Zurückhaltung walten: Laut und lang wurden die Anatevka Inszenierung, Darsteller und Orchester gefeiert. Nach über 10 Jahren besitzt das Theater wieder eine neue großartige Anatevka.

IOCO / Viktor Jarosch / 22.03.2016

---| IOCO Kritik Theater Bonn |---