Mannheim, DER SILBERSEE - ein Wintermärchen

Der Silbersee. Ein Wintermärchen ist eigentlich eine Sozialutopie, eine zeitlose politische Parabel über gesellschaftliche Spaltung, über Schuld und Sühne, Armut und Reichtum, Habgier und Wohltätigkeit, aber auch über den erbitterten Klassenkampf am Ende der Weimarer Republik.

Mannheim, DER SILBERSEE - ein Wintermärchen
NTM - Alte Schildkrötfabrik @ Christian Kleiner

Mannheimer Erstaufführung - Drama Georg Kaiser (1878-1945), Musik Kurt Weill (1900-1950) - Fassung Xavier Zuber und Calixto Bieito - Nationaltheater Mannheim, Alte Schildkrötfabrik - Besuchte Vorstellung 16.12.23

von Uschi Reifenberg

Ziemlich beste Freunde und der Traum von einer gerechteren Welt

Wenn die beiden ungleichen Freunde Severin und Olim am Ende auf dem zugefrorenen Silbersee gemeinsam einer vermeintlich besseren Zukunft entgegen gehen, liegen märchenhafte Ereignisse und unerwartete Wendungen hinter ihnen, auf ihrer verzweifelten Suche nach Glück, Verständnis und Gerechtigkeit.

Der Silbersee. Ein Wintermärchen ist eigentlich eine Sozialutopie, eine zeitlose politische Parabel über gesellschaftliche Spaltung, über Schuld und Sühne, Armut und Reichtum, Habgier und Wohltätigkeit, aber auch über den erbitterten Klassenkampf am Ende der Weimarer Republik. Und vor allem ein Stück über die Höhen und Tiefen einer seltsamen Freundschaft in herausfordernden Zeiten.

NTM - Trailer der Silbersee @ youtube Nationaltheater Mannheim

Sie leben am Rande der Stadt, in ärmlichen Mooshütten am Silbersee, die gestrandeten, arbeitslosen Außenseiter, mit dem jungen Rebellen Severin an der Spitze, immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Der Hunger und die existenzielle Not treibt sie, ein Lebensmittelgeschäft zu plündern, dabei lässt Severin, statt „Mehl und Fett“, zu klauen, lediglich eine Ananas mitgehen, eine „Frucht aus Fabelland“, die Glücksverheissung schlechthin. Er wird von einem Polizisten angeschossen und kommt ins Krankenhaus. Der Polizist Olim, ein reflektierender und empathischer Ordnungshüter, wird von massiven Gewissensbissen geplagt, da er nur eine Ananas bei Severin findet. Er will seine Tat wieder gut machen, was ihm wenig später auch gelingt. Überraschend gewinnt er 5 Billiarden Euro im Lotto, was ihm erlaubt, seine sozialen Ambitionen als Wohltäter auszuleben. Er kauft ein Schloss und lädt Severin dorthin ein, um ihn gesund zu pflegen. Als ehemaliger Polizist bleibt er Severin gegenüber als Täter unerkannt. Die beiden Männer werden Freunde.

Frau von Luber, die Haushälterin des Schlosses, eine verarmte Adlige, will das Schloss und ihre Herrschaft zurückgewinnen, und setzt auf eine Intrige: Ihre mittellose, hilfsbereite Nichte Fennimore wird als Animierdame eingesetzt um zu spionieren und Severin und Olim gegeneinander auszuspielen. Fennimore jedoch will den beiden helfen und solidarisiert sich mit Severin. Als dieser erfährt, dass Olim es war, der ihn verletzt hat, beschliesst er sich zu rächen; die Freundschaft steht auf der Kippe, Misstrauen und Neid machen sich breit. Durch die sich überstürzenden Ereignisse überantwortet Olim Frau von Luber leichtsinnig Schloss und Schlüssel, die sofort die neuen Besitzverhältnisse zu ihren Gunsten nutzt, die alte Ordnung mitsamt ihren sozialen Spaltungen ist somit wieder hergestellt.

Severin beschließt letztendlich, Olim zu verzeihen; die beiden Freunde versöhnen sich; nun wieder völlig verarmt, werden sie von der neuen Schlossherrin fortgejagt. Sie wollen ihrem Leben ein Ende  setzen und machen sich auf ihre letzte Reise zum Silbersee auf, dem Zufluchtsort und Endstation aller Träume. Aber ein Wunder geschieht: es beginnt im Frühling zu schneien, der Silbersee gefriert, und die beiden Freunde wandern über den See, vielleicht in eine bessere Welt, geleitet von Fennimores positiver Utopie und den Chorstimmen: „ euch entlässt die Verpflichtung weiterzuleben noch nicht“, denn „wer weiter muss, den trägt der Silbersee …“ Die Hoffnung stirbt zuletzt.

NTM - DER SILBERSEE - Ein Wintermärchen @ Christian Kleiner

 Der Silbersee. Ein Wintermärchen weist deutliche Parallelen zu Heinrich Heines Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ auf, was auch beabsichtigt ist.

Die satirische Abrechnung mit den politischen Verhältnissen im Deutschland um 1844 schrieb Heine nach Jahren des Exils, um seine Kritik an Restauration, Militarismus, der Zensur seiner Werke sowie seiner persönlichen Situation als jüdischer Schriftsteller zu formulieren. Im selben Jahr wird „Deutschland. Ein Wintermärchen“ in Preussen verboten und beschlagnahmt, am 18. Februar 1933 erleidet Der Silbersee das gleiche Schicksal: Nach den Uraufführungen, die zeitgleich in Leipzig, Magdeburg und Erfurt stattfanden, verschwand er von den Spielplänen für die nächsten zwölf Jahre und ist bis heute auf den Theaterbühnen leider selten zu erleben.

Die dritte gemeinsame Zusammenarbeit von Georg Kaiser und Kurt Weill erlangte mit dem Silbersee einen Höhe-und Endpunkt. Georg Kaiser, einer der führenden expressionistischen Dramatiker der 1920er und 1930er Jahre, geriet mit seinen humanistischen Visionen und der offenen Sozialkritik an den herrschenden Verhältnissen dieser Zeit in die Schusslinie der Nationalsozialisten; die hintergründigen ironischen Anspielungen im Silbersee auf Hitlers zunehmende Machtentfaltung hatte ein Aufführungs- und Publikationsverbot von Kaisers Stücken zur Folge. Die zeitliche Abfolge der Rezeptionsgeschichte des Werkes und die parallelen politischen Entwicklungen lesen sich wie eine deutsche Kultur-Tragödie: Am 30. Januar '33 erfolgte Hitlers Machtergreifung, am 18.2. wurde die vielbeachtete und  erfolgreiche Premiere des Silbersee von den Nazis massiv gestört, im Mai 1933 brannten auch Georg Kaisers Werke auf dem Scheiterhaufen,1938 floh er vor der Gestapo in die Schweiz.

Der jüdische Komponist Kurt Weill verließ Deutschland für immer, da der Silbersee nach der dritten Aufführung von den Nazis verboten wurde. Er floh zunächst nach Frankreich, ab 1935 emigrierte er in die USA, wurde amerikanischer Staatsbürger und schuf dort einen neuen Musikstil. In den 40er Jahren feierte er am Broadway mit Musicals große Erfolge, übte aber auch hier Kritik an der Rassentrennung und der ungleichen Verteilung des Wohlstands.

Der musikalische Leiter der Uraufführung des Silbersee, Gustav Brecher, wurde seines Amtes enthoben und nahm sich im Exil in Belgien aus Angst vor den deutschen Besatzern zusammen mit seiner Ehefrau das Leben.

Kurt Weill entwickelte die Musik des Silbersee im Stil der „Dreigroschenoper“ weiter, konzipierte es als „Zwischengattungs-Stück“, als genreübergreifendes Werk, was ein innovativer Schritt hin zu einem vielgestaltigen Musiktheaterwerk war. Weill erläutert: „Ich würde gern in dieser Kombination Volksstücke schreiben, die gattungsmässig zwischen Oper und Schauspiel stehen müssten“. Das dreiaktige Stück ist gegliedert in 16 Musiknummern und viel gesprochenen Text.  Weill vereint ein einzigartiges stilistisches Kaleidoskop von Liedern und Songs, die an die Zusammenarbeit mit Brecht erinnern und teilweise Unterhaltungscharakter haben; ebenso trifft man Moritaten, opernhafte Arien, Revue- und Jazz- Elemente, Duette, einen kommentierenden Chor, Tanznummern, Ouvertüre, Instrumentalstücke, auch mit sinfonischer Anlage.

Den Protagonisten wird extrem viel abverlangt: sie müssen die Balance finden zwischen opern-und liedhaftem Singen, Melodramatik und Sprechgesang, dem unverwechselbaren Songstil von Weill / Brecht und Text.

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Der international renommierte spanische Regisseur Calixto Bieito inszenierte am Nationaltheater Mannheim (NTM) bereits mit großem Erfolg Monteverdis „Marienvesper“, Rihms „Jakob Lenz“ und Händels „La Resurrezione“. Für Bieito steht im Silbersee die konkrete Utopie mit ihrer humanistischen Botschaft im Vordergrund und die Frage, wie - allen sozialen Problemen zum Trotz - Freundschaft, Mitmenschlichkeit und Empathie in einer krisengeschüttelten und immer bedrohlicher werdenden Welt bewahrt werden können.

Bieitos Regie besticht durch präzise und einfühlsame Personenführung, mit viel Empathie für die Nöte und Ängste der Benachteiligten. Ironie, stimmige Dialoge, geniale Einfälle, und viel Humor, lassen die Grenzen zwischen Komik und Tragik verschwimmen.

Zusammen mit seinem wunderbaren Team Anna-Sofia Kirsch (Bühne), Paula Klein (Kostüme), Nicole Berry (Licht), Adrià Reixach (Video) hat Bieito die räumlichen Besonderheiten der Alten Schildkrötfabrik ideal genutzt und eine lange Laufsteg-Bühne geschaffen, um die herum das Publikum fast auf Tuchfühlung platziert ist und in die aktionsreiche und spannende Regie direkt mit einbezogen wird. Das geschieht gleich zu Beginn, wenn der Lotterieagent -herrlich witzig und skurril, eine schillernde androgyne Figur: der Tenor Niklas Mayer - die hereinströmende Menge in Varieté Manier hereinbittet, auf die Vorstellung einstimmt und einzelne Besucher anspricht. Das macht mächtig Stimmung und sorgt für jede Menge Lacher. Am einen Ende der Bühne befindet sich das kleine Orchester, die Sänger-Darsteller, allesamt herausragende Opernsänger des NTM, sind mit Mikroports ausgestattet. Die akustischen Bedingungen sowie die Koordination zwischen Dirigent und Orchester lassen keine Wünsche offen.

Die große goldene Lotterietrommel dreht sich, das Spiel kann beginnen. Letztendlich will es hier der Zufall, wer das große Los des Reichtums zieht und wer, gesellschaftlich abgehängt, ein Leben in Armut führen muss.

Es werden Mülltonnen hereingefahren, in denen die hungrigen  Burschen und Severin nach Essbaren suchen; sie kriechen in die Müllreste, verschwinden dort, man glaubt die Armut förmlich zu riechen. Die Tonnen werden multifunktional eingesetzt oder bringen Überraschendes zum Vorschein, sind Tanzpartner oder dienen als Schreibtisch mit Schreibmaschine. Stimmlich stark, mit profundem Bariton: Ilya Lapich als zweiter Bursche, mit schönem hellen Tenor: Jordan Harding als erster Bursche. Aber der Hunger lässt sich nicht begraben. Severin findet zu Herzen gehende Töne mit seinem „Lied vom Bäcker“ und der Sehnsucht nach dem „allerfeinsten Weizenbrot“. Christopher Diffey überzeugt mit flexiblem und höhensicherem Tenor, wechselt mühelos zwischen seelenvollen Lyrismen, kämpferischer Attacke und resignativer Ergebenheit, ein eindrückliches Rollenporträt.

NTM - DER SILBERSEE - Ein Wintermärchen @ Christian Kleiner

Patrik Zielke als Polizist Olim, der Severin unfreiwillig verwundete, kommt mit seiner Identität als Ordnungshüter nicht mehr zurecht. Er entledigt sich dieser, in dem er seine Uniform in der Tonne entsorgt und vorerst mit entblößtem Oberkörper sein überdimensionales Lotterielos mit der unvorstellbaren Summe triumphierend über die Bühne trägt. Patrik Zielke verschlankt seinen edlen Heldenbass auf Weillsches Mass und trifft jederzeit in allen Lebens- und Stimmlagen den perfekten Ton. Ergreifend vollzieht er die Wandlung vom preußischen „Landjäger“ in Uniform zum aufrichtigen Kameraden und feinem Herrn im Anzug, der dem aufgelösten Severin Geschenktüten ans Krankenbett bringt.

Olim trägt Severin in den Rollstuhl, fährt ihn überall hin und gemeinsam besingen sie ihr neues gutes Leben als wohlhabende Freunde.

Ein witziger Regieeinfall, wenn die beiden Verkäuferinnen, die zugleich als Ärztin, Pflegerin und Putzfrauen agieren, mit Servierwagen im Publikum Hot Dogs verteilen. Maria Polanska und Yaara Attias begeistern mit stilsicheren und klangschönen Sopranstimmen und munterem Spiel.

Die arme Verwandte Fennimore im schäbigen braunen Mantel, zieht mühsam goldene Stoffbahnen über den Laufsteg und verleiht dem Raum neuen Glanz; eine ungeliebte junge Frau, die im hochherrschaftlichen Schloss ihre Dienste als Spionin  bereitstellen soll und sehr schlecht behandelt wird.

Mirella Hagen, bayreutherprobte Sopranistin, gibt mit geschmeidigen, silbernen Höhen und facettenreichen Stimmfarben, Charme und Charisma, der leidgeprüften Nichte der Frau von Luber Profil und sorgt für anrührende Momente. Ihre Ballade von „Cäsars Tod“, in welche die Nazis Anspielungen umstürzlerischer Aktionen gegen Hitler hineinlasen, singt sie herrlich ironisch, im roten Kleid, mit Stahlhelm und Zange bewaffnet, umgeben von Unmengen von Ananas-Konservendosen.

Frau von Luber, eine arrogante Adlige, im noblen Kostüm, mimt noch immer die Schlossherrin, weniger die Haushälterin, sie wird von Rita Kapfhammer mit herablassender und intriganter Attitüde und schönen Mezzofarben ausgestattet. Ihr zur Seite Baron Laur, ein schmieriger Repräsentant der „alten Ordnung“, verhalten bösartig. Er wird von Uwe Eikötter mit lauernder Häme und bewährtem hellem Charaktertenor gegeben.

Marcel Brunner musste als Polizist in zweifacher Hinsicht ersetzt werden: Aimar Tammel sang von der Seite, während Luka Kjell Mahlmann die Figur auf der Bühne darstellte.

Nachdem alle Träume zerplatzt sind und die Armut wieder von Severin und Olim Besitz ergriffen hat, beschließen sie, ihr Leben im Silbersee gemeinsam zu beenden. Sie begeben sich, zusammen mit Fennimore, mit letzter Kraft auf den beschwerlichen Weg, stützen sich gegenseitig, bis sich am anderen Ende der Bühne eine wunderbare Vision zeigt: ein schwarz-weiß Video aus der Stummfilm Ära wird eingeblendet, man sieht traumhafte  Schneelandschaften, zugeschneite Städte, eine Eisläuferin, die Pirouetten dreht. Der Silbersee wird zum Wegweiser und geleitet die Freunde in ein neues Leben, vielleicht in ein erfülltes …

Dass diese frohe Botschaft in der Weihnachtszeit nicht zum kitschigen Rührstück mutiert, findet Calixto Bieito eine erheiternde, „epische“ Lösung: hinter einer der Türen der Schildkrötfabrik wabert Nebel herauf, das Tor öffnet sich und vorfährt ein weißes Taxi, in das die hoffnungsvollen Freunde einsteigen. Wohin sie wohl fahren?