Hamburg, Elbphilharmonie, NDR Elbphilharmonie Orchester mit „Sinfonien der Krise“, IOCO Kritik, 22.01.2018
Januar 22, 2018 by
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NDR Elbphilharmonie Orchester mit Herbert Blomstedt
„Sinfonien der Krise in nobler nordischer Eleganz“
Von Guido Müller
Am 11. Januar 2018 feierte das neue Wahrzeichen Hamburgs, die Elbphilharmonie einjährigen Geburtstag. Und zwar gut hanseatisch nicht mit einem Galakonzert großer Stars von auswärts sondern mit ihrem Hausorchester und dem langjährigen Chefdirigenten Herbert Blomstedt in einem Abonnementskonzert mit Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonie Nr. 39 Es-Dur KV 543 und der Sinfonie Nr. 3 d-moll in der Urfassung von Anton Bruckner.

Elbphilharmonie Hamburg / NDR Elbphilharmonie Orchester Hamburg / hier mit Herbert Blomstedt und „Sinfonien der Krise“ © Daniel Dittus
Eine bessere und festlichere Kombination hätte es kaum geben können. Der noble, charmante und bescheidene Maestro aus dem hohen Norden mit der heroischen und vornehmen großen Es-Dur Sinfonie von Mozart, deren Eingangsportal mit feierlichen Punktierungen des Orchesters nach dem Vorbild der barocken Ouvertüre bereits die Töne des Erhabenen wie in seiner Oper Die Zauberflöte vorgeben. Und die große d-moll-Sinfonie Bruckners, nicht nur der Tonart nach an Beethovens Großer Neunter Sinfonie modelliert, mit der die Elphi vor einem Jahr eröffnet wurde (Foto) – und dirigiert vom bedeutendsten Bruckner-Dirigenten unserer Tage. Schon diese Programmierung macht deutlich, wie intelligent und bewußt der neunzigjährige Altmeister aus Schweden seine Konzertprogramme zusammenstellt.
Bruckners dritte Sinfonie, die er als sein Schmerzenskind in drei Fassungen von 1874, 1877 und schließlich 1890 hinterlassen hat, hat noch den Beinamen „mit der Trompete“ – aufgrund des charakteristischen Trompetenmotivs – und „Wagner-Sinfonie“, aufgrund der Widmung Bruckners nach seinem Bayreuthbesuch an seinen zweiten neben Gott am meisten verehrten und angebeteten Meister Richard Wagner.

Elbphilharmonie Hamburg / Die spektakuläre Elbphilharmonie zum Eröffnungskonzert 2017 © Michael Zapf
Wie der NRD-Dramaturg Julius Heile in seinem ausgezeichneten Einführungsvortrag plastisch mit Tonbeispielen zeigte, ist die Urfassung auch voller Themen und Motive aus Richard Wagners Opern wie das berühmte Tristan-Motiv aus Tristan und Isolde, aus Isoldes Liebestod, das Schlafmotiv aus der Walküre und aus dem Chorauftritt im zweiten Aufzug Lohengrin. Diese huldigenden Wagner-Zitate strich Bruckner später nach den totalen Mißerfolgen der ersten Konzerte wieder. Die Wiener Philharmoniker hatten sich der Aufführung 1874 verweigert.
Wagner selber bezeichnete in seiner ironisch-sarkastischen Art den Verehrer aus Linz aufgrund dieser Sinfonie als „die Trompete“. Bruckner zitierte aber nicht nur unterwürfig den Bayreuther Meister sondern auch sich selber selbstbewusst mit der Zweiten Sinfonie. Damit wird deutlich, wie durchaus seiner kompositorischen Fähigkeiten bewußt der sonst voller Skrupel und Unterwürfigkeit auftretende und leicht zu verunsichernde Organist von Sankt Florian eigentlich war. Auch im Finale der dritten Sinfonie in der Urfassung zitiert Bruckner selbstreferentiell und selbstbewusst bereits in dem ihm eigenen Verfahren Themen aus den ersten drei Sätzen seiner Sinfonie.
Vor Mozarts „Erhabener“ und der „Wagner-Sinfonie“ Bruckners mit der Trompete in der Urfassung, die Bruckner selber nie gehört hatte, wurde das einjährige Elbphilharmonie – Jubiläum mit einer festlichen Blechbläserfanfare von Simone Candotto, die das Oboen-Solostück zur Elphi-Eröffnung 2017 verwendet, sowie einer kurzen Ansprache von Generalintendant Christoph Lieben-Seutter gewürdigt.
Darauf folgte Mozarts erste Sinfonie aus der großen sinfonischen Trias des Krisenjahrs 1788. In diesem Jahr hatte Mozart gesellschaftlich seinen Zenit überschritten, hatte als Unternehmer in Wien keine Erfolge mehr und sank sein Einkommen drastisch. Im Jahr zuvor war sein Vater gestorben und Mozart verfiel in seelische Depression und Melancholie. Trotzdem entfaltete er gerade in dieser Zeit eine enorme kreative Produktivität wie mit den in nur neun Wochen geschriebenen großen letzten Sinfonien, deren Auftrag oder Anlass wir nicht kennen.
Das oftmals mit solchen Attributen wie „glücklich“, „liebenswürdig“ und „heroisch“ bezeichnete Stück steht mit einem Bein noch in der überkommenen Tradition gepflegter Unterhaltung. Auf der anderen Seite zeugt es aber auch von der „Auseinandersetzung des Individuums mit mächtigen, bisweilen übermächtig erscheinenden Kräften“ (Martin Geck). Der „Gestus des Erhabenen“ (Julius Heile im Einführungstext des Programms, S. 7) manifestiert sich in der nebenbei auch freimaurerischen Tonart Es-Dur und schließt bei Mozart aber auch scheinbare Unordnung mit vielerlei Kontrasten ein.
„Die heroischen und elegischen Züge der Sinfonie, das F-moll Thema des Andantes, besonders im Adagio, die heftigen Zweiunddreißigstel und die Herzens-Seufzer kurz bevor sich die krause Stimmung in lächelnde Heiterkeit auflöst, sind reale Erlebnisse, an denen nicht zu zweifeln ist.“ (Theodor Kroyer,1933). Diese innere Gegensätzlichkeit und scheinbare Unordnung, sicher biographisch begründet, zwischen dem ungewöhnlich zarten Thema des 1. Satzes nach der pompösen Einleitung oder dem dunklen h-moll Einbruch des Andantes ist bezeichnend für diese Sinfonie des Umbruchs kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789. Ebenso auch der das Versprechen der majestätischen Sinfonie-Eröffnung à la Ancien Regime so gar nicht einlösende, ja geradezu in Frage stellende unschließende offene Schluss des à la Altmeister Haydn wirbelnden Allegro-Finales voll Mozartischer Unfasslichkeiten und Überraschungen.
Herbert Blomstedt dirigiert nun einen nie aufdringlichen, nie aufgeregten Mozart. Zart und ernst, leicht federnd und mit der nötigen Dramatik und Tiefe, zusammen mit dem NDR Elbphilharmonie Sinfonieorchester atmend gestaltet er den Übergang vom Adagio zum Allegro des 1. Satzes mit philosophisch rhetorischer Eleganz des Grandseigneurs. Die existentielle Dramatik kommt im voll aufblühenden und duftigen Klang des überragend musizierenden Orchesters ganz zu ihrem Recht. Herausragend immer wieder der Stimmführer der Flöten Wolfgang Ritter. Im Menuett explodiert der Tanz förmlich mit einem zugleich luftig wie männlich-markant aufspielenden Trio. Dabei spielt der Klarinettist Gaspare Buonomano mit aller italienisch-Wienerischen Eleganz. Im Andante steuert das Fagott von Magnus Koch-Jensen die zauberhafte Kantilene bei. Auch im Duett mit Sonja Starke. Im Finale gestaltet Blomstedt mit dem meisterhaft spielenden Orchester eine perfekte Terrassendynamik und ruft bei den Mitgliedern des auf der Stuhlkante musizierenden Orchestere Lächeln und Freude in die Gesichter. Selbstverständlich dirigiert Blomstedt den Mozart ebenso wie den Bruckner auswenig. Nur ein kleines rot eingeschlagenes Heft auf dem Pult bezeugt die Demut des lediglich ausführenden Kapellmeister-Dirigenten vor der Komposition und dem Komponisten.
Zu Bruckner hatte Herbert Blomstedt bereits als junger Student vor bald 70 Jahren ein besonderes Verhältnis. Mit seinem älteren Bruder pfiffen sie nach einem Besuch der Vierten Sinfonie Bruckners die Themen nach, um sie nicht zu vergessen, und bei den schönen Stellen klopften sie sich gegenseitig leicht auf die Knie. Die Auseinandersetzung mit Bruckner war für Blomstedt „anfangs – bevor die intellektuelle Aufarbeitung kam – vor allem ein sehr emotionales, fantastisches Erlebnis„, das ihn seitdem nicht los gelassen hat. (zitiert nach dem Programmzettel) Genauso ergeht es sicher den meisten Hörern beim erstmaligen Besuch einer Bruckner-Sinfonie.
Und dieses großartige emotionale Erlebnis garantiert heute Blomstedt, wenn er auf der ganzen Welt immer wieder Bruckner dirigiert, wie an diesem unvergesslichen Abend in Hamburg mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester.
Wenn der Bruckner-Kritiker Hanslick 1877 das gehässige Verdikt über die Dritte ausspricht, sie sei eine „Vision, wie Beethovens ‚Neunte‘ mit Wagners ‚Walküre‘ Freundschaft schließt und endlich unter die Hufe ihrer Pferde gerät“ (Programm, S. 9), so empfinden wir das heute in der meisterlichen Interpretation durch Blomstedt als Kompliment. Den ersten großen Satz der Dritten als Sonatensatz mit drei Themengruppen in der Exposition gestaltet Blomstedt bereits im Trompetensignal (hervorragend Guillaume Couloumy) über dem pulsierenden Klangteppich der herausragenden Streicher unter Konzertmeister Stefan Wagner – nomen est omen, kann man hier sagen – als erhabene festliche „Welt-Enstehungsmusik“. Blomstedt gelingt dabei gestalterisch auf das Faszinierendste den ganz großen Bogen zu schlagen zur Wiederkehr des signalartigen Trompetenmotivs in den letzten Takten des Finales und triumphalen Zieles der gesamten Sinfonie. Die wuchtigen Blechbläsersteiherungen lassen den Zuhörer den Atem anhalten (Hörner mit Jens Plücker, Posaunen mit Stefan Geiger und Uwe Leinbacher (Bassposaune). Ähnlich wie in Mozarts Es-Dur Sinfonie atmet Bruckners Scherzo des 3. Satzes in der Ländler-Melodie des 2. Abschnitts und im Trio im Dreiertakt Wiener Eleganz. Wie in einer Bruckner-Sinfonie zeichnen diese Querbezüge immer auch die Konzertprogramme Blomstedts aus.
Im Finale kombiniert Bruckner Sphären des mit grober Pranke dreinschlagenden Hauptthemas mit einer charmant schmeichelnden Polka und einem Choral der Hörner (Jens Plücker, Dave Claessen, Adrian Diaz Martinez, besonders Nuria Rodrigez hervorragend!). Alle Themen der vorherigen Sätze spielt Bruckner kurz vor Schluss des Finales nochmals kurz an. Dies wirkt innerhalb der Sinfonie wie eine Reminiszenz auf das vorhergehende Geschehen und erlaubt dem Zuhörer gedanklich gleichsam sich der vielen großartigen Momente eines Elphi-Jahres zu erinnern.
Mit enormer geistiger Wachheit, körperlicher Präsenz, Herzlichkeit und manchmal bübischer Fröhlichkeit, charmant, nobel und uneitel dirigiert Herbert Blomstedt als absolute Ausnahmeerscheinung unter den Dirigenten unserer Zeit mit Konzentration auf Wesentliche, größtmöglicher Präzision und geradezu hartnäckiger Durchsetzung seiner ästhetischen Anschauungen nicht nur Mozart und Bruckner. Sondern ebenso souverän und fröhlich stellt er sich auch den dankbaren Ovationen und dem Beifallsorkan des Hamburger Publikums.
Ein schöneres Geburtstagsgeschenk konnte Chefdirigent Herbert Blomstedt mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester den Hamburgern und vielen Besuchern von weit her nicht machen. Das Konzert wurde aufgezeichnet und im NDR übertragen.
—| IOCO Kritik Elbphilharmonie Hamburg |—
Oldenburg, Oldenburgisches Staatstheater, Siroe von Adolph Hasse, IOCO Kritik, 12.01.2017
Januar 11, 2018 by
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Siroe von Johann Adolph Hasse
Barockoper verzaubert in märchenhaft-exotischer Inszenierung
Von Guido Müller
Johann Adolph Hasses Opera seria in drei Akten Siroe, Re di Persia, in der Dresdner Fassung von 1763 ist eine spätere Überarbeitung eines eigenen Werks dieses in Italien zu Ruhm gekommenen Hamburg-Bergedorfer Komponisten von 1733. Es wurde in Bologna auf ein Libretto des berühmtesten Operndichters des 18. Jahrhunderts Pietro Metastasio uraufgeführt, den noch Mozart für seine Opern nutzte. Das Libretto von Siroe war dabei ein besonderer Renner im 18. Jahrhundert, den u.a. nach dem ersten Komponisten Leonardo Vinci (1726) auch Georg Friedrich Händel und Antonio Vivaldi vertonten.
Der seit mehr als drei Jahrzehnten in kursächsischen Diensten stehende Hofkapellmeister Hasse wollte mit 66 Jahren die Komposition noch einmal ganz überarbeiten. Doch ein schwerer Gichtanfall und vor allem das Ende des Siebenjährigen Krieges mit Preußen wie der überstürzte Umzug des Kurfürsten Friedrich August II. aus dem polnischen Exil in Warschau nach Dresden zwangen Hasse dazu, die Arbeit unter Zeitdruck anlässlich des Namenstages des Kurfürsten für das kriegszerstörte und von den Preußen zuvor als Munitionslager genutzte Opernhaus in der sächsischen Metropole zu beenden.
So revidierte Hasse nur 14 von 21 Nummern von 1733, darunter alle für Siroe, den in Bologna der berühmte Kastrat Farinelli gesungen hatte, der nun nicht mehr zur Verfügung stand. Der Kurfürst starb aber schon bald darauf im Oktober 1763 während einer Vorstellung von Siroe unerwartet am Schlaganfall. Das bedeutete auch für das durch den Krieg mit Preußen finanziell ausgeblutete Sachsen das Ende einer glänzenden musikalischen Ära, in der auch ein Johann Sebastian Bach gerne ein Hofamt in Dresden bekleidet hätte.
Hasse verließ mit seiner Frau, der berühmtesten Sängerin des 18. Jahrhunderts Faustina Bordoni aus Venedig, wo das Paar eine Zweitwohnung hatte, Sachsen Richtung Wien an den Hof der Kaiserin Maria Theresia. Dort kreuzte Hasse die Wege von Joseph Haydn, den er unterrichtete, und Wolfgang Amadé Mozart, der sich als Heranwachsender wünschte, einmal ein so berühmter und bewunderter Komponist wie Händel oder Hasse zu werden.

Oldenburgisches Staatstheater / Siroe von Johann Adolph Hasse – hier Hagar Sharvit als Emira und Nicholas Tamagna als Siroe © Stephan Walzl
Bekanntlich sollte Mozart sowohl Hasse wie Haydn als Opernkomponist so in den Schatten stellen, dass beide zunächst nur mit ihren kirchlichen Kompositionen und Oratorien bis wiet ins 20. Jahrhundert bekannt blieben. Hasse wird auch heute noch regelmäßig mit seinen Kompositionen für die Dresdner Hofkirche dort aufgeführt. Seine bedeutenden Opern, die im 18. Jahrhundert sehr viel mehr Beachtung fanden in ganz Europa als die Werke Händels oder gar Vivaldis gerieten in Vergessenheit und galten als unaufführbar. Das ändert sich zum Glück gerade – nicht zuletzt durch Maßstäbe setzende CD-Aufnahmen z.B. auch des Siroe durch die durch Europa tourende Parnassus Produktion mit namhaften Sängern oder von Artaserse (DVD und CD aus Italien mit Franco Fagioli), Didone abandonata unter Michael Hofstätter und der letzten Oper Hasses, Ruggiero aus Mailand, die Mozart auswendig beherrschte.

Oldenburgisches Staatstheater / Siroe von Johann Adolph Hasse – hier Nicholas Tamagna als Siroe © Stephan Walzl
Seit einigen Jahren findet nun endlich nach Georg Friedrich Händel und Antonio Vivaldi langsam mit Unterstützung der beiden Hasse-Gesellschaften in Hamburg-Bergedorf und München auch eine Hasse-Renaissance statt, nach zögerlichen Versuchen u.a. der Dirigenten Frieder Bernius in Dresden, René Jacobs in Innsbruck und Berlin und anderer auch mit den großen opernmässigen Oratorien in den 1990iger Jahren.
Mit den CD-Aufnahmen der Mezzosopranistin Vivica Genaux und des Countertenors Valer Barna-Sabadus im letzten Jahrfünft, beides große unermüdliche Botschafter der Musik Hasses, fing es vor wenigen Jahren an, bis nun auch die berühmten Countertenöre Max Emanuel Cencic und Franco Fagioli ganze Opern einspielten, darunter als Parnassus Produktion den Siroe. Mittlerweile gibt es sogar auch in den sozialen Medien auf Facebook eine Gruppe der Johann Adolph Hasse Friends und Spezialisten aus der ganzen Welt.
Auf die ältere Siroe-Produktion von Parnassus von 2014 mit Max Emanuel Cencic, die u.a. bereits in Wiesbaden zu den Maifestspielen gezeigt wurde und 2018 in Bayreuth im neu eröffneten Markgräflichen Opernhaus zu sehen sein werden wird, und die hier besprochene Siroe-Produktion in Oldenburg 2017/18, die erweitert auch 2018 durch die Niederlande tourt, folgt im April 2018 die Neu-Eröffnung des Markgräflichen Opernhauses in Bayreuth mit der dort bereits zur Eröffnung im 18. Jahrhundert uraufgeführten Hasse-Oper Artaserse. Im Sommer 2018 führt das barocke Ekhof Theater im Schloßbezirk von Gotha Johann Adolph Hasses neapolitanische Serenade Marc Antonio e Cleopatra auf.
Die Besetzung der Sänger der ersten Aufführung in Dresden 1763 ist uns erfreulicherweise bekannt und verdient Beachtung. Die Titelpartie Siroe sang der Kastrat Pasquale Bruscolini, genannt Pasqualino, (1718-1782), der seit 1753 in Dresden tätig war. Emira wurde von der Sopranistin Caterina Pilaja verkörpert.

Oldenburgisches Staatstheater / Siroe von Johann Adolph Hasse – hier Hagar Sharvit als Emira © Stephan Walzl
Cosroe wurde von dem berühmten Tenor Angelo Amorevoli (1716 -1798) gesungen, der bereits seit 1744 bis dann bis 1764 in Dresden verpflichtet war, und Medarse von dem Kastraten Giuseppe Gallieni. Dem Komponisten und Barockopernspezialisten Dragan Karolic aus Berlin danke ich ebenso für Hinweise auf die Besetzung wie der sehr informativen französisch-englischen Internetseite „Quell’Usignolo“.
Die erst 18jährige anspruchsvolle und später in Wien berühmte Elisabeth Teyber (1745-1816) sang 1763 Dresden die äußerst anspruchsvolle Koloratursopranpartie der Laodice, die in der CD-Einspielung bei Decca 2014 mit höchster Virtuosität von Julia Lezhneva gesungen wird. 1765 sollte die Teyber in Wien in Glucks Festoper Telemaco die Circe zur Hochzeit des späteren Kaisers Joseph II. mit Maria-Josepha von Bayern verkörpern.
Am Oldenburgischen Staatstheater gestaltet Sooyeon Lee die Laodice mit einer solchen enormen Hingabe und mit solcher technischen Perfektion, dass sie mit dieser eindrucksvollen Leistung nicht hinter der berühmten Kollegin der Decca-Einspielung verstecken muss. Ihre große Arie Se il caro figlio im dritten Akt wird zu einem Kabinettstück gesanglicher Perfektion und Ausdruckskunst. Besonders der Tenor Amorevoli fand 1763 in Dresden höchste Anerkennung für seine extreme Kehlkopfbeweglichkeit, seine herausragende Koloraturfähigkeit, seinen Stimmumfang von d bis zum hohen h“ und seinen sehr natürlich und tonschön klingenden Stimmklang – vor allem im Bereich zwischen c‘ und b‘.
All dies trifft auch auf den österreichischen jungen Tenor Philipp Kapeller zu. Dieser Ausnahmetenor mit einer wunderschönen sicheren Höhe, einschmeichelnden Mittelage und in die tiefe Lage bruchlos geführten Stimme war für mich die größte Entdeckung des Abends. Ein Ereignis der Extraklasse dem österreichischen Tenor Philipp Kapeller zuzuhören und im sehr lebendigen Spiel zusehen zu dürfen. Nicht nur in seinen mit Koloraturen und mit stimmlichen Finessen gespickten großen Bravourarien wie „Tu di pieta mi spogli“ mit virtuoser Naturhörnerbegleitung (Joaquim Palet und Hubertus Grünewald) im zweiten Akt berührt Philipp Kappeler ganz besonders in den mit größtem Stilgefühl vorgetragenen, besonders kantablen Arien wie „Gelido in ogni vena“ des dritten Aktes, als Cosroe den Geist des vermeintlich auf seine Veranlassung getöteten Sohnes beklagt.

Oldenburgisches Staatstheater / Siroe von Johann Adolph Hasse – hier Yulia Sokolik als Medarse © Stephan Walzl
Ihm stand die Mezzosopranistin Yulia Sokolik in der Hosenrolle als Cosroes hinterhältiger und intriganter, nach der Herrschschaft strebender Sohn Medarse in nichts nach. Ihre stimmliche Perfektion und innige Beseelung der Figur lässt wahrlich staunen. Ihre große Arie „Torrente cresciuto“ im dritten Akt über den anschwellenden Strom hat mich mit den emotional und psychologisch begründeten enormen Sprüngen und endlosen, immer im Dienste des Ausdrucks stehenden Koloraturkaskaden besonders stark bewegt. Diese stimmlich prächtigen und schillernden Kaskaden erinnern an die prächtigen Springbrunnen der sächsischen königlichen Parks von Pillnitz oder Warschau.
Martyna Cymermann gestaltet den Arasse mit größter emotionaler und stimmtechnischer Perfektion, die staunen macht. Hagar Sharvit als Emira bezaubert nicht nur mit ihrem Spiel, sondern beeindruckt mit enormer gesanglicher Finesse wie in ihrer empfindsamen Schäferinnen-Arie „Non vi piacque“ zum Abschluss des zweiten Aktes, die Mozarts spätere Arien etwa in Don Giovanni vorwegnimmt. Ihre große anklagende und an ähnliche Arien Mozarts in Idomeneo oder La Clemenza di Tito gemahnende Furien-Bravourarie Che furia, che monstro im dritten Akt lässt das Blut gefrieren.
Nicholas Tamagna als Cosroes zunächst mißachteter und dann siegreicher Königssohn Siroe zieht nicht nur alle Register seiner überaus großartigen Countertenorstimme sondern berührt mit einer äußerst glaubwürdigen Darstellung. Tamagnas große Arie „Se l’amor tuo mi rendi“ im dritten Akt mit ihren rhythmisch vertrackten, atemberaubenden Sprüngen und Koloraturen ließ mich den Atem anhalten. Diese Arie der tief empfundenen Bruderliebe, die zu den schönsten des späten Rokoko zählt, erinnert an springende Lämmer in einem Gemälde von François Boucher.
Ebenso wie Philipp Kappeler und Yulia Sokolik mit dem übrigen Ensemble macht Nicholas Tamagna besonders nachdrücklich deutlich, wie heutzutage fast mühelos wirkend eine neue Sängergeneration diese Partien der ganz besonders von der menschlichen Stimme lebenden Hasse-Opern bravourös und zur Begeisterung des Publikums meistert. Die stimmtechnisch höchsten Anforderungen dieser Arien gehören zum schwierigsten und anspruchsvollsten, was das Jahrhundert des von der neapolitanischen Schule ausgehenden wahren Belcanto und der größten Stimmartistik zu bieten hatte.
So wie der zeitgenössische Musikkritiker Charles Burney über Johann Adolph Hasse schrieb: „Er betrachtet beständig die Stimme als den Hauptgegenstand der Aufmerksamkeit auf der Bühne, und unterdrückt sie niemals durch ein gelehrtes Geschwätz mannigfaltiger Instrumente, oder arbeitender Begleitsätze; vielmehr ist er immer darauf bedacht, ihre Wichtigkeit zu erhalten, gleich einem Mahler, welcher der Hauptfigur in seinem Gemälde das stärkste Licht gibt.“ (Programmheft, Oldenburgisches Staatstheater, S. 13).
Johann Adolph Hasses späte Oper Siroe im Übergang vom Barock zur Klassik, oder von Händel zu Mozart, fand am Oldenburgischen Staatstheater eine besonders feinsinnige, stilbewußte, humorvolle, psychologisch genaue und bildmächtige Inszenierung von Jakob Peters-Messer mit den schönen Bühnenbildern und prächtigen Kostümen von Markus Meyer.
Sehr geschmackvoll und handwerklich gekonnt kontrastiert Jakob Peters-Messer auf drei Ebenen historische Kontexte der Handlung im märchenhaft-exotischen antiken Persien, das im 18. Jahrhundert gerne als sittlicher Spiegel der höfischen europäischen Gesellschaft diente, und die prächtige Rokoko Entstehungszeit aus der Epoche der Herrschaft des Sohnes August des Starken mit heutigen Kriegserfahrungen und Bildern des Vorderen und Mittleren Orients.
Besonders gelingt Jakob Peters-Messer die psychologische Vertiefung und Verdichtung auch in den Kontrasten rokokohafter Leichtigkeit und aktueller Kriegsbilder, die bereits in der empfindsamen Musik Hasses angelegt ist.

Oldenburgisches Staatstheater / Siroe von Johann Adolph Hasse – hier Oldenburgisches Staatsoprchester unter Wolfgang Katschner © Stephan Walzl
Hasses Komposition weist oft verblüffend auf die Wiener Klassik und Mozart voraus, der bekanntlich von Hasse so stark beeindruckt war, dass er zur Verärgerung des Vaters, der sicherlich einen zu starken Einfluss Hasses befürchtete, die Hasse-Opern auswendig wieder geben konnte. Musikalisch von Wolfgang Katschner mit einem Alte Musik Spezialensemble aus Mitgliedern des Staatsorchesters und Gästen erarbeitet, bleibt dessen Handschrift deutlich spürbar auch unter der vorzüglichen und präzisen musikalischen Leitung von Thomas Bönisch an diesem Abend.
Wenn auch die bereits von Jean Jacques Rousseau als bestes Orchester Europas gelobte Dresdner Hofkapelle 1763 in Siroe z.B. mit zwei Cembali noch stärker besetzt war als in dieser Oldenburger Aufführung, so füllt das mit je vier Violinen (Konzertmeisterin Birgit Rabbels), drei Violen, zwei Violoncelli, einem Kontrabass, einer Theorbe und einem Cembalo wie je zwei Holzflöten, zwei Oboen, einem Fagott und zwei Naturhörnen besetzte Spezialensemble voll den Raum des nicht so sehr großen Staatstheaters. Die Opernhäuser in Neapel, Venedig und Dresden zur Zeit von Hasse waren deutlich größer als das Opernhaus in Oldenburg.
Besondere Erwähnung unter den Musikern in Oldenburg verdient das Bassuo continuo Ensemble mit den Gästen Gerd Amelung am Cembalo, Fabian Boreck am Cello und Andreas Nachtsheim an der Theorbe. Oldenburg bietet ein Sängerensemble mit ausnahmslos hervorragenden Solisten wie Philipp Kapeller, Nicholas Tamagna, Yulia Sokolik, Hagar Sharvit, Sooyeon Lee und Martyna Cymerman.
Was die Staatsopern von Hasses Geburtstadt Hamburg und Hasses jahrzehntelanger Uraufführungsstätte Dresden, aber auch große Häuser in München, Wien oder Berlin nicht schaffen oder sich nicht trauen, das gelingt Oldenburg auf das Überzeugendste. Damit straft diese Maßstäbe setzende Produktion des Oldenburgischen Staatstheaters auch das Verdikt René Jacobs vor zwanzig Jahren Lügen, die Opern Hasses seien nicht mehr aufführbar. Jacobs sah damals keine Sänger ausser Vivica Genaux, die nicht nur in der Lage seien, die halsbrecherischen technischen Schwierigkeiten mit größter Lust an vokaler Selbstinszenierung zu beherrschen sondern ebenso die für Hasse charakteristischen großen melodisch-empfindsamen kantablen Bögen auch über die bereits sich auflösende traditionelle Form der Dacapo-Arie hinweg zu beseelen, psychologisch zu vertiefen und stilvoll zu gestalten.
Und zu Recht empfing das der Vorstellung begeistert und aufmerksam folgende Publikum einer Repertoirevorstellung mit Jubel und zahlreichen Bravorufen alle Künstler am Ende, nachdem es bereits mut Applaus für die einzelnen Arien nicht gegeizt hatte. Nach der Pause war keine Abwanderung zu bemerken. Glückwunsch daher dem Staatstheater Oldenburg für ein solches aufmerksames, neugieriges und konzentriertes Publikum.
Unbedingter Vorstellungsbesuch dieser Rarität einer herausragenden Oper zwischen Händel und Mozart empfohlen – entweder noch in Oldenburg ab März 2018 wieder oder der leicht durch den Regisseur vor allem mit Tänzen erweiterten Version ab Januar unter der musikalischen Leitung von George Petrou mit teilweise Übereinstimmung der Sänger auf einer Tournee in den Niederlanden: 26.1.2018 Enschede, 29.1.2018 Amsterdam und mehr….siehe auf www.reisopera.nl
Siroe von Johann Adolph Hasse am Oldenburgischen Staatstheater; weitere Vorstellungen 25.3.; 27.3.; 31.3.; 5.4.2018
—| IOCO Kritik Oldenburgisches Staatstheater |–
Hamburg, Laeiszhalle, Telemann-Festival: Miriways, IOCO Kritik,
Dezember 7, 2017 by
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Miriways von Georg Philipp Telemann
Telemann-Festival 11/2017 – Eröffnet mit Festoper Miriways
Von Guido Müller
Im Gegensatz zu den heutzutage landauf und landab auch an Stadttheatern aufgeführten Händel-Opern gibt es außer bei den Magdeburger Telemann-Festtagen leider nur sehr selten die Gelegenheit, eine veritable große Oper von Georg Philipp Telemann an Opernhäusern ungekürzt zu erleben.
In Madgeburg war bereits 2012 Miriways von 1728, die Telemann-Oper mit aktuellen politischen Bezügen eines Krieges zwischen Afghanistan und Persien in einer optisch schönen Inszenierung von Jakob Peters-Messer zu sehen, Messer hat sich gerade in Oldenburg an die Oper Siroe des in Hamburg-Bergedorf geborenen Johann Adolph Hasse gewagt, dessen Werke noch seltener als die von Telemann auf deutschen Bühnen zu sehen sind. Allerdings wird Hasses Oper Artaserse zur Eröffnung des Markgräflichen Opernhauses in Bayreuth im Frühjahr 2018 dort wieder zu sehen sein.
Das Theater Hildesheim (TfN) macht gerade mit dem Telemannschen Orpheus einen gelungenen Versuch der szenischen Wiederbelebung durch die Spezialistin für barocke szenische Aufführungspraxis Sigrid T’Hooft. Die Hamburger Staatsoper schließlich hat für den Juni 2018 die Inszenierung ebenfalls der Oper Miriways angekündigt – allerdings in einer stark zusammen gestrichenen Fassung. Da die Barockopern genau wie die Opern von Mozart und Wagner einer abgestimmten, austarierten und wechselreichen Musikdramaturgie folgen, verstümmeln Kürzungen der Arien, Ensembles und instrumentale Zwischenstücke diese Werke genauso wie bei einer Wagner-Oper oder Bizets Carmen.
So ist es um so erfreulicher, dass die Akademie für Alte Musik Berlin unter dem kanadischen Dirigenten Bernard Labadie mit einem handverlesenen exquisiten Sängersensemble das Werk Miriways wenigstens konzertant fast ungestrichen aufführt. Jeder Dirigent muss sich zudem seine Aufführungsfassung selbst erstellen. Längst schon gehört ein Telemann-Festival in die Stadt, in der Telemann Jahrzehnte als bedeutendster Musikdirektor an der Gänsemarkt Oper wirkte wie er für offizielle Anlässe der reichen Hansestadt und in den Hauptkirchen tätig war.
Der NDR eröffnete in seiner Reihe NDR Das Alte Werk nun mit diesem Konzert ein Telemann-Festival aus Anlass des 250. Todestages des Komponisten. Dieses auch vom NDR live übertragene Konzert verdeutlicht, wie Telemanns reicher kompositorischer Fundus immer viele Entdeckungen zu bieten und das angelockte, leider nicht allzu zahlreiche Publikum mitzureißen vermag. Das Hamburger Publikum muss erst den enormen Reiz der Barockoper noch kennenlernen.
Während die Opern in Italien oder Frankreich und an denen diesen nacheifernden deutschen Höfen von Stuttgart bis Dresden meistens antike oder mythologische Stoffe benutzten, dürstete das Hamburger Publikum nach zeitaktuellen Stoffen und komischen Bestandteilen. Bereits Reinhard Keiser, der mitteldeutsche Vorgänger Telemanns bis 1718 an der Gänsemarkt Oper wusste das geschickt zu bedienen.
So macht Miriways ein damals relativ aktuelles Geschehen zum Thema. Telemanns Librettist Johann Samuel Müller baute nach einem kleinen Zeitungsbericht über den afghanischen Stammesführer Mir Wais einen Opernplot von dynastischen Verwirrungen und Herzschmerz. Politischer Ausgangspunkt ist die Eroberung Persiens, die in der historischen Wirklichkeit allerdings seinem Sohn Mir Mahmud gelang. Darum baut sich ein abwechslungsreiches exotisch angehauchtes und entsprechend buntes Kaleidoskop aus Intrigen und Verwechslungen, Staatsräson und moralisierenden Ermahnungen, Liebesbeziehungen und einem Familien-Happy-End auf. Die wahre Liebe siegt am Ende mit viel Witz, Humor und Ironie schon im Geiste der Empfindsamkeit einer neuen Zeit gegen die Liebe aus Pflicht in der Ständegesellschaft des Ancien Regime.
In bester Laune bot uns die Akademie für Alte Musik unter ihrem Dirigenten Bernard Labadie mit den neun Solisten ein Feuerwerk an instrumentalen Finessen, exotischen Harmonien und sensationeller Spiellaune, die alle gegenseitig anfeuerte. Fast alle Instrumentalisten, darunter so bedeutende Solisten wie die Oboistin Xenia Löffler und der Flötist Bernhard Huntgeburth haben prominente solistische Aufgaben, in denen sie sich virtuos mit den Sängern messen.
Daher ist es besonders bedauerlich, dass die Mitglieder von AKAMUS nicht namentlich im Programm aufgeführt werden. Besondere Herausforderungen haben beispielsweise die schon in der Ouvertüre stark geforderten zwei Hornisten auf ihren Naturhörnern bravourös zu meistern. Außerdem finden sich noch je zwei Fagotte und Oboen und eine Flöte neben den Streichern im Orchester, das von dem vorzüglichen Konzertmeister Bernhard Forck angeführt wird, der auch das Händel Festspielorchester in Halle (Saale) leitet,
AKAMUS zeichnet einen satten, warmen, aber nie dickflüssig-ruppigen sondern eher durchgängig eleganten und stets präzisen Ton aus. Schwungvolle Opulenz und dynamische Detailfreude, flinke und immer die emotional richtigen Tempi, die für Telemann typische Lautmalerei und melodischer Witz ebenso wie affektgeladene tiefe Gefühle vermittelt das Orchester in historischer Aufführungspraxis auf ideale und mustergültige Weise. Dazu geben dem Spitzenensemble zudem zusätzlich Gelegenheit einige Zwischenmusiken und festliche Märsche, von denen einer stark an den späteren Trauermarsch aus Georg Friedrich Händels Oratorium Saul erinnert
Der kanadische Dirigent Bernard Labadie hatte sichtlich mit AKAMUS und mit seinen Gesangssolisten großen Spaß an der Umsetzung. Das reicht dann bis ins abwechslungsreiche Schlagwerk, in dem auch schon mal Kastagnetten oder eine leer getrunkene Weinflasche bei einer der für Telemann mit Augenzwinkern typischen Trunkenheitsarien gegen geizige Narren zum Einsatz kommen – Ähnlichkeiten mit Hamburger Pfeffersäcken wären rein zufällig – hier köstlich im Spiel und Gesang Dominik Köninger in der kleinen Rolle des Scandor. Neben ihm verlieh Paul McNamara dem Gesandten schöne tenorale Würde. Das Continuo begleitete durchgängig äußerst vielfarbig, spritzig und abwechslungsreich.
Maßstabsetzend waren aber nicht nur das Spitzenensemble sondern durchgängig auf allerhöchstem Niveau auch die fast ausnahmslos Telemann erprobten Gesangssolisten. Eine besondere Freude war zu beobachten wie die Kollegen, die gerade nicht im Einsatz waren, an der Seite mit ihren singenden und äußerst ausdrucksstark spielenden Kollegen mitfieberten, im Geiste sangen und sich im Gelingen freuten.
Nach der festlichen dreiteiligen Ouvertüre im französischen Stil mitvirtuos konzertierenden Naturhörnern hat die ihren edlen Mezzosopran samtig verströmende Marie-Claude Chappius als zurück gelassene fürstliche Gattin Samischa des Heerführers Miriways ihren berührenden großen ersten Auftritt mit einer Schlafarie, die auch als Parodie auf diesen in italienischen Dramma in Musica meist zum Aktschluss üblichen Arientypus verstanden werden kann. So verfährt Telemann höchstvirtuos mit den Traditionen der europäischen Oper. Der Französin gelingt wie allen ihren Kollegen eine bewunderswürdige Deutlichkeit des deutschen Textes, elegante lebendige Artikukation der Rezitative und vorbildlicher vokaler Diktion. Damit machen sie die Übertitel fast überflüssig. Ebenso gelingen ihr aber auch die schon rokokohaften Neckereien in anderen Arien. Perlmuttgleich schillert ihre Stimme, duftige Nachtigallentriller entströmen ihrer auch schon mal tief melancholisch angehauchten Stimme.
Ihr Ehemann Miriways wird in atemberaubender stimmlicher und spielerischer Präsenz und Sicherheit vom kurzfristigen Einspringer André Morsch von der Staatsoper Stuttgart dargestellt. Sein Talent für die von Telemann geforderte Stimm- und Darstellungskunst scheint unerschöpflich. Der trotz seiner jungen Jahre bereits besonders als Hugo Wolf und Franz Schubert Liedsänger anerkannte Bariton zeigt nicht nur eine am Lied geschulte perfekte Stimmtechnik sondern verströmt in allen Lagen mit seiner kernigen Balsamstimme eine exemplarische Legatokultur. In seiner großen Arie „Laß mein Sohn dir raten, nimm die Vernunft zum Führer an!“, einem Höhepunkt der Kompositionskunst des großen Aufklärers Telemann begleitet ihn Xenia Löffler auf der Oboe und beide verschmelzen zu einer zutiefst berührenden Wirkung. André Morsch trifft sowohl stilsicher wie komödiantisch den galant-staatsmännischen Ton ebenso wie das heiß Aufbrausende des Vaters oder die metallisch glänzende Wut des Herrschers. Seine Verzierungstechnik ist höchst stilsicher und in perfekter gesanglicher Diktion. Er singt stets offen, äußerst deutlich artikulierend und bewunderungswürdig koloratursicher.
Seine verlorene geglaubte Tochter Bemira singt Sophie Kartäuser zärtlich elegant und mit Feinheit und leidenschaftlicher Hingabe. Ihr restlos und schmerzlich verfallen ist der von Robin Johannsen mit der ihr eigenen stimmlichen Perfektion gesungene Sophi. Verzweifelt als sich chancenlos glaubender Geliebter zieht sie alle Register ihrer kristallklaren und perfekt atmenden Stimmkunst gerade in den atemberaubend schwierigen Arien und läuft dann richtig zu Höchstform auf.
Neben dem hohen aristokratischen Paar darf in der deutschen Barockoper immer ein halb ernstes, halb lustiges Paar nicht fehlen wie die Diener entsprechend der Dreistände-gesellschaft. Dies sind die persische Nisibis der Koloratursopranistin Lydia Teuscher und der Murzah des Baritons Michael Nagy. Wie kostbarste Perlen klingen Lydia Teuschers Koloraturen, höchst virtuos, in fein dynamischer Abstufung und zugleich mit sanften Krallen wie ein Kammerkätzchen. Um sie buhlt Michael Nagy mit allen stimmlichen Schönheiten und Ausdrucksmitteln seines stets tief berührenden, warmen und hellen kräftigen Baritons. Auch die Parodie auf die große italienische Virtuosenarie mit „Dieser Strahl soll“ gelingt ihm perfekt differenziert und mit leuchtendem koloratursicheren Heldenbariton.
Sein von der Mezzosopranistin Anett Fritsch mit herzerfrischendem Spielwitz und größter Präsenz dargestellter persischer Nebenbuhler Zemir hat einige der ausdrucksstärksten Arien der Oper. Anett Fritsch vermag jede ihrer ausdrucksstarken Arien zu einem smaragdig dunkel und kräftig leuchtenden Schmuckstück zu gestalten.
Das Spitzenensemble erhält nach über drei Stunden verdienten anhaltenden Riesenbeifall und zahlreiche Bravorufe des begeisterten Publikums. Wir hoffen auf mehr Telemann-Oper und Opern vom Gänsemarkt in Hamburg und eine Neuauflage des Telemann-Festivals!
—| IOCO Kritik Laeiszhalle Hamburg |—
Reinhard Keiser – Ein großer Barockkomponist wird geehrt, IOCO Portrait, 02.12.2017
Dezember 4, 2017 by
Filed under Hervorheben, Konzert, Portraits
Reinhard Keiser – Mitteldeutscher Komponist des Barock
Ehrung in Teuchern – Stadtkirche St. Georg
Von Guido Müller
In Teuchern, dem nahe Halle (Saale) gelegenen Geburtsort des großen mitteldeutschen Barock-Opernkomponisten Reinhard Keiser (1674 – 1739) und Vorgängers Händels und Telemanns an der Hamburger Oper am Gänsemarkt findet jährlich mit einem prominent besetzen Konzert eine Ehrung des mitteldeutschen Komponisten statt.
Am 12.11.2017 waren der Barock-Opernspezialist und bekannte Tenor Knut Schoch aus Hamburg und der Dirigent, Keiser-Spezialist und u.a. fest an der Komischen Oper Berlin verpflichtete Chitarrone-Spieler und Lautenist Thomas Ihlenfeldt aus Bremen mit einem spannenden und ausgefallenen Programm Wer in Liebesfrüchten wählet. … Arien aus Hamburger Opern zu Gast. Der durch zahlreiche Gesamtaufnahmen Keisers bekannte Kenner seines Werks, Thomas Ihlenfeldt moderierte launig und führte mit interessanten Kommentaren durch das Programm.
Das humorvolle Programm war außer Keiser selbst vor allem seinen Vorläufern und älteren Zeitgenossen an der Gänsemarkt-Oper gewidmet. Den Anfang machte der 1650 in Warschau geborene Lautenist und Viola da Gamba Spieler Jakob Kremberg (+ 1718), Schüler von Heinrich Schütz und erster Pächter der Oper, mit drei stark text-akzentuierten und italienisch geprägten Liedern.
Johann Wolfgang Franck (1644 – 1710) komponierte außer Opern wie Aeneas häufig stark volkstümliche und zeitgemäße Sujets, wie in den Jahren der Türken-Gefahr vor Wien die Oper Cara Mustafa, die später in Hamburg sogar als zu türkenfreundlich verboten wurde. In diesem Werk findet sich die erste niederdeutsch verfasste komische Arie der Hamburger Oper.

Hamburgische Staatsoper – Heute / Wirkungstätte von Reinhard Keiser – Bedeutendstes deutsches Theater um 1700, in der Barockzeit © IOCO
Besonders beliebt sicher schon beim Hamburger Publikum um 1700 war das moralisierende Recipe: Edler Tee, der gut für Gesundheit und Tugend, gegen alle Plagen helfe und Jugend erhalte. Es folgen drei von Franck und Georg Böhm vertonte religiöse Lieder des Theologen, Librettisten und Textdichters Heinrich Elmenhorst (1632 – 1704), dem es gelang, vor allem mit seiner Streitschrift Dramatoligia von 1688 die Bedenken der Pietisten gegen die Oper in Hamburg auszuräumen. Daran schlossen sich das Morgen- und Abendlied des mit Elmenhorst befreundeten Lüneburger Organisten Georg Böhm (1661 – 1733) an, die direkt nichts mit der Oper zu tun haben.
Auf ein religiöses Reiselied Francks folgen zunächst eine Arie von Keiser aus Masagniello furioso und dann aus Heraclius. Das letztere „Ich kenn ein hübsches Mädchen“ wird auf der Barockgitarre begleitet.
Dann folgt mit Johann Sigismund Kusser (1660 – 1727) der interessanteste Zeitgenosse Keisers, ein wahrer kosmopolitischer Europäer, der u.a. auch in Dublin wirkte. Bei dem Vorläufer Keisers hört man in seiner Oper Erindo bereits viel französischen Einfluss. Zwischen dem französisch geprägten Menuett Was bewegt dich und der Branle devillage O höchst gewünschte Lust hat die Arie „Zu euch muss ich wiederkommen“ sowohl liedhafte Elemente wie kunstvolle italienische Verzierungen und Stilelemente.
Hier kann Knut Schoch in ganz besonderem Maße sein hohes und vornehmes Stilbewußtsein für diese hochbarocke deutsche Arienkunst zeigen, die sich in einer sehr intelligenten Gestaltung äußert. Sein gepflegter und vornehmer, dabei durchaus kräftiger, leicht baritonal eingefärbter Tenor singt nicht nur sehr elegant im Legato auf der Linie des Atems sondern trifft auch den jeweiligen spezifischen Ton dieser kleinen Arienkunstwerke sehr genau. Dabei singt Schoch äußerst textverständlich. Langsam und vornehm zurückhaltend steigert er von Arie zu Arie seine äußerst geschmackvolle Verzierungskunst der Koloraturen und Triller. Hier singt zum Beispiel die weltberühmte amerikanische Mezzosopranistin und Händel-Preisträgerin 2018 JoyceDiDonato ihre ausgewählten, äußerst virtuosen Keiser-Arien sehr viel stärker mit der Emphase der italienischen Opera seria.
Zu Höhepunkten dieses stilistisch äußerst abwechslungsreichen Hamburger Arien-programms gestalten Knut Schoch und Thomas Ihlenfeldt auf der Chitarrone dann die dramaturgisch geschickt an das Ende des Programms gesetzten Keiser-Arien der lustigen, dem Arlecchino der italienischen Stehgreifposse verwandten Figur aus Der geliebte Adonis. Damit hat Keiser wie später auf besonders geniale Weise Georg Philipp Telemanns eine mythologisch-historischen Opernstoffe für das zahlende Hamburger Bürgertum mit volksnahen Elementen aufgelockert. Dabei hat Keiser mit seinem kongenialen Textdichter sich oft auch moralisierend über die Hamburger Pfeffersäcke und die hohe Minne der italienischen Opera seria lustig gemacht.
In den Opernhäusern Italiens und den aristokratischen Hofopern außerhalb Frankreichs setzte sich nämlich damals um 1700 der ganz andere Typ der Opera seria oder des Dramma per musica durch, bei dem zur Auflockerung nur zwischen den Akten Intermezzi gespielt wurden. Im 17. Jahrhundert überwog auch in Italien noch die in Hamburg wie auch damals in Leipzig oder Braunschweig üblich bleibende Mischform mit ernsten allegorisch-historischen Figuren und meistens als Dienstpersonal oder Exoten gezeichneten komischen oder halb ernsten Figuren.
Der geliebte Adonis ist die erste erhaltene Hamburger Oper von Reinhard Keiser. Sie zeigt sogleich wie im Fall Telemanns ihre große Bühnentauglichkeit, die auch heute noch das Publikum unmittelbar anzusprechen, zu unterhalten und zu berühren vermag. So wie Bayreuth seine Richard-Wagner-Festspiele hat würde Hamburg ein Keiser-Telemann-Festival oder ein Gänsemarkt-Opernfestival gut zu Gesicht stehen.
Auch Georg Friedrich Händel und der im 18. Jahrhundert in ganz Europa angesehenste, in Hamburg-Bergedorf geborene Opernkomponist Johann Adolph Hasse (Händel und Bach waren außerhalb ihres engeren Wirkungskreises vor allem als Orgel- und Cembalo-Virtuosen bekannt) starteten ihre Karriere in Hamburg am Gänsemarkt.
Hamburgs Oper am Gänsemarkt war von 1678 bis 1738 das erste und wichtigste bürgerlich-städtische Theater im gesamten deutschen Sprachraum. Mit zweitausend Plätzen übertraf es alle zeitgenössischen Theaterräume. Die Menge der an diesem Hause wirkenden Opern-komponisten und Literaten ist innerhalb der Opernlandschaft Europas einzigartig.
In den beiden komisch-moralisierenden und frivolen Arien Ein Mädchen ist wie Wind und Ein Mädchen und ein Orgelwerk zeigt der Tenor Knut Schoch (Tenöre nahmen in der deutschen Oper den Platz der Kastraten in der damaligen italienischen Oper ein) noch mal abschließend dem dankbaren und aufmerksamen Publikum seine intelligente und tonschöne Kunst der komischen Gestaltung. Keiser appelliert daran, Mädchen wie Orgelwerke mit Bedacht zu bespielen. Das begeisterte Publikum erklatschte sich von beiden Künstlern als Zugabe nochmal eine Wiederholung des Abendliedes von Georg Böhm Nun will ich mich zu Bette legen.
Es wäre zu wünschen, dass dieses vielfältige, stilistisch mannigfaltige Hamburger Barock-Arien-Programm von beiden Künstlern und Spezialisten der Hamburger Gänsemarkt-Oper auf CD eingespielt würde, so wie viele frühere Werke von Keiser, die auch in Teuchern aufgeführt wurden, als CD vorliegen.
Kontakt: Reinhard-Keiser-Förderverein, Vorsitzender Bertram Adler (Weißenfels).
Webadresse: http://www.reinhard-keiser-verein.de/start.htm
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