Stuttgart, Staatsoper Stuttgart, JOHANNES-PASSION - szenisches Oratorium, IOCO Kritik, 07.04.2023

Stuttgart, Staatsoper Stuttgart, JOHANNES-PASSION - szenisches Oratorium, IOCO Kritik, 07.04.2023

Staatsoper Stuttgart

Oper Stuttgart © Matthias Baus
Oper Stuttgart © Matthias Baus

JOHANNES-PASSION - Johann Sebastian Bach

Szenisches Oratorium - Leiden im Nebel -

Von Peter Schlang

Während es an deutschen Schauspielbühnen schon seit etlichen Jahren üblich ist, Prosawerke zu dramatisieren und szenisch auf die Bühne zu bringen, ist es auf hiesigen Opernbühnen bisher eher selten, mit eigentlich nicht-dramatischen Musik-Werken genauso zu verfahren. Zugegeben ist die Auswahl dafür in Frage kommender Kompositionen auch nicht gerade groß. Am ehesten eigneten sich dafür wohl dramatische Sinfonien bzw. solche mit einem klaren Programm - oder aber Passionen und andere Oratorien, also Chorwerke mit einem festen Handlungsgerüst und einem interessanten Personen-Tableau.

Johann Sebastian Bach Foto IOCO / HGallee
Johann Sebastian Bach Foto IOCO

Darunter wiederum scheint sich vor allem Johann Sebastian Bachs Johannespassion bei Regisseuren und Dirigenten einer gewissen Beliebtheit zu erfreuen. Denn nach den Opernhäusern in Berlin, 2014, Hamburg, 2019 und Leipzig im vergangenen Jahr und einem recht respektabel umgesetzten Projekt der Christophorus-Kantorei im Schwarzwaldstädtchen Altensteig 2018 kam es nun an der Staatsoper Stuttgart zur szenischen Aufführung der ältesten von Bachs ursprünglich für den Gottesdienst am Karfreitag vorgesehenen Passionen. Am Palmsonntag, dem 2. April 2023, also am Beginn der christlichen Karwoche, hatte die eigentlich schon für das Jahr 2021 geplante Produktion im Stuttgarter Opernhaus Premiere.

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Federführend war dabei der vor allem durch seine Schauspiel-Inszenierungen und darunter  wiederum durch die antiker Stoffe bekannt gewordene, 1969 in Bochum geborene Ulrich Rasche. Für seine zweite Arbeit für die Opernbühne bleibt Rasche seinem aus zahlreichen Sprechtheater-Inszenierungen hinlänglich vertrauten Konzept einer sich drehenden Scheibe und einer auf Metren und ständige Bewegung setzenden Choreografie  treu. Hier und bei der Stilisierung und Charakterisierung der Figuren erkennt man ganz klar die Handschrift Robert Wilsons, bei dem Rasche neben anderen Lehrern Regie-Erfahrungen gesammelt  hat. Weitere Elemente für seine Inszenierungen und deren Ausstattung - wie anderen Orts zeichnet der Regisseur auch in Stuttgart für die Bühne verantwortlich - entnimmt er seiner zweiten beruflichen Orientierung, der des Kunsthistorikers. Wie sich das zusammenbringen lässt und zu welchen Ergebnissen das führt, kann man also seit Sonntag auch in Stuttgart betrachten.

Auf der ununterbrochen rotierenden Bühne des dortigen Opernhauses lässt er die bis zu 24 Sänger*innen des Chores, dem in der Johannespassion die größte und wichtigste Rolle zukommt, sowie etliche in der Opern-Statisterie Beschäftige über weite Strecken der zweistündigen Aufführung entgegengesetzt zur Laufrichtung der Bühne schreiten. Als Begründung für dieses Konstrukt wie als dessen hörbaren Maßstab nennt Rasche den bei Bach wie in der Barockmusik allgemein so prägenden basso continuo, der im Programmheft dieser Produktion als „Walking Bass“ bezeichnet und ausführlich gewürdigt  wird.

Staatsoper Suttgart / Johannes-Passion hier Staatsopernchor Foto: Matthias Baus
Staatsoper Suttgart / Johannes-Passionhier Staatsopernchor Foto: Matthias Baus

Doch was bei einer Schauspielaufführung mit nur einer, nämlich der sprachlichen, Dimension noch funktionieren mag, erweist sich bei einer musik-dramatischen Produktion als riesige Herausforderung, ja als Unmöglichkeit. Zum einen haben es die ausführenden Sängerinnen und Sängern sicht- und hörbar schwer, ihren Schritt-Rhythmus auf Tempo und Takt der Musik abzustimmen und dazu passend den jeweiligen Sprach- und Notentext zu deklamieren. Zum anderen entsteht das fast noch größere Problem der mangelnden Verständlichkeit und musikalischen Dichte und Parallelität, denn da sich ständig ein Teil dieses rotierenden Chores vom Orchester und erst recht vom Publikum abwendet, wirkt der Gesang stellenweise dünn, zerfasert, ja brüchig.  Noch schlimmer kommt es bei den schnellen, höchst dramatischen Turbae-Chören, vor allem jenen im zweiten Teil der Passion, die teilweise regelrecht auseinanderfallen. Dies  mag auch daran liegen, dass Rasche den Chor in verschiedene (Klein-)Gruppen aufteilt, was dramaturgisch keine schlechte Idee ist, bei der erwähnten ständigen Bewegung und Zerstreuung der Ausführenden aber klanglich nicht funktionieren kann. Eine weitere Ursache für die zu bemängelnde musikalische Stringenz und Dichte dieser Umsetzung der Johannespassion auf der Opernbühne liegt sicherlich auch in deren gewaltigen Dimensionen und dem großen Abstand zwischen dem „im Graben versteckten“ Orchester und den weit dahinter agierenden Sängerinnen und Sängern. (Warum lässt man das Orchester nicht -  wie bei vielen  Barockopern üblich - vor der Bühne oder mindestens im leicht gehobenen Graben spielen oder aber die Vokalsolistinnen und –solisten im vorderen Teil der Bühne singen?)  Dies führt, zumindest bei der Premiere, zu manchen Klang- bzw. Hörverzögerungen und erst recht zu einer nicht befriedigenden Balance zwischen Graben und Bühne.

Davon sind  leider nicht nur die Chorpartien betroffen, sondern stellenweise auch die Solistinnen und Solisten, die vom häufig zu lauten Orchester übertönt werden oder sich gezwungen fühlen, über Gebühr ins Forte zu gehen und dabei die bei der Barockmusik so wichtige Dynamik zu vernachlässigen. Das ist vor allem immer wieder beim Christus des Shigeo Ishino sowie dem Petrus des Andreas Wolf und erst recht bei dessen Pilatus-Interpretation zu vernehmen, wo man schmerzhaft Schattierungen und emotionale Abstufungen und Phrasierungen vermisst.

Staatsoper Suttgart / Johannes-Passion hier Staatsopernchor Foto: Matthias Baus
Staatsoper Suttgart / Johannes-Passionhier Staatsopernchor Foto: Matthias Baus

Ansonsten schlagen sich diese Sänger einigermaßen wacker, auch wenn schnell klar ist, dass sie keine ausgebildeten Oratoriensänger und erst recht keine mit Erfahrung in der Alten Musik sind, sondern eben von der traditionellen Opernschule kommen. Dies gilt auch für die Interpretinnen und Interpreten der kleineren Rollen und der Arien und Ariosi, etwa die Sopranistin Fanie Antonelou, die  Altistin Alexandra Urquiola, den Tenor Charles Sy, den Bariton Joannes Kammler und den Bassisten Michael Nagl. Eine erfreuliche Ausnahme bildet hier der Tenor Moritz Kallenberg, der als äußerst wandlungsfähiger, dramatisch höchst flexibler Evangelist die Fäden der Handlung zusammenhält, diese - ähnlich dem Erzähler in Brechts Epischem Theater - voranbringt und kommentiert und stimmlich die beste Leistung des Abends zeigt. Das ist umso bewundernswerter, als auch dieser Solist von Rasche zu einem ununterbrochenen Schreiten verurteilt wurde, was ihn an manchen Stellen wie einen Unterweisenden in Sachen Disco-Fox aussehen lässt.

Zurück zum Staatsorchester Stuttgart, das an diesem Abend zwar in der passenden, von Bach vorgeschriebenen kleinen Besetzung spielt, aber eher selten bzw. nicht durchgängig den Ansprüchen der historisch informierten Aufführungspraxis gerecht wird. Das jedoch hätte man erwarten dürfen, wenn man den viel versprechenden Ankündigungen des für diese Produktion verpflichteten Schweizer Dirigenten Diego Fasolis als erfahrenem Sachwalter der Alten Musik vertraut und sich seine durchaus imposante musikalische Vita  angeschaut hat.

Der IOCO-Rezensent gibt zu, dass er als bekennender Anhänger der historisch-informierten Aufführungspraxis und durch zahlreiche Aufführungen der Bach’schen Passionen durch die in Stuttgart und seiner Region beheimateten großartigen Originalklang-Ensembles, etwa die des Musikpodiums Stuttgart unter Frieder Bernius oder die der Bach-Akademie unter Christoph Rademann, ziemlich verwöhnt und entsprechend anspruchs- und erwartungsvoll  in diese Premiere der Stuttgarter Oper gegangen ist. Und  immerhin gab es ja auch in diesem Haus in den letzten Jahren etliche wunderbare, mustergültige und werkgetreue Aufführungen von  Barockopern und auch einiger Kantaten Johann Sebastian Bachs, an die anzuknüpfen man sich von diesem Bach-Projekt erhofft hatte.

Wie eingangs angedeutet, gelingt dies dem Regieteam leider auch im szenisch-dramaturgischen Bereich nur bedingt. Dazu hätte es eben auch mehr Abwechslung in der Gestaltung der verschiedenen Szenen und Personentableaus und vor allem größerer Phantasie in der Personengestaltung und –führung bedurft. Rasche beschränkt diese jedoch auf das Allernötigste und gibt so dem Betrachter kaum einen Fingerzeig oder Impuls, in welche Richtung er seine Interpretation gedeutet haben möchte. Wenn sich aber eine Regiearbeit auf reines Kopftheater reduziert, braucht es sie eigentlich nicht. Und so geht der IOCO-Rezensent am Ende dieses Premierenabends mit der unbeantworteten Frage in den kalten Stuttgarter Frühlingsabend, welchen Erkenntniszuwachs er dorthin mitnimmt und welchen dramaturgischen und ästhetischen  Mehrwert eine solche szenische Bearbeitung gegenüber einer herkömmlichen, traditionell konzertanten Aufführung von Bachs Meisterwerk zu erzeugen vermag.