Genf, Grand Théâtre de Genève, ELEKTRA - Richard Strauss, IOCO Kritik, 07.02.2022

Genf, Grand Théâtre de Genève, ELEKTRA - Richard Strauss, IOCO Kritik, 07.02.2022
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Grand Théâtre de Genève © Mario del Curto
Grand Théâtre de Genève © Mario del Curto

ELEKTRA -  Richard Strauss, nach Hofmannsthal und Sophokles

-  UNGEHEUERLICHE (MENSCHLICHE) SCHEUSSLICHKEITEN…  -

von Peter Michael Peters

Als er sich der Dramatisierung seiner Elektra (1903) näherte, war Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) entschlossen, mit der goetheschen Tradition der Humanisierung der Antike zu brechen: „Ich dachte an einen Stil, der das Gegenteil von Iphigenie auf Tauris (1779) sein würde und nicht auf das Wort (von Goethe): „Diese hellenisierende Produktion kam mir beim zweiten Lesen teuflisch menschlich vor“.

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Visionen der Antike

Gegen Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) und Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) beruft sich Hofmannsthal einerseits auf Friedrich Nietzsche (1844-1900), Erwin Rohde (1845-1898), Jacob Burckhardt 1818-1897) und andererseits auf Josef Breuer (1842-1925) und Sigmund Freud (1856-1939). In seinen Regieanweisungen empfiehlt er den Regisseuren auf eine archäologische Rekonstruktion zu verzichten: „Jene antiquierten Banalitäten würde das Publikum eher verärgern denn beeindrucken“. Die mykenische Umgebung wird in seiner Vorstellung orientalisch! Der Palast der Atriden muss dem Zuschauer „jenen Aspekt präsentieren, der die großen Residenzen des Orients so seltsam und so geheimnisvoll macht“. Er wollte Fenster, denen „die Ausdruckskraft des Bühnenmalers jene Atmosphäre der Verborgenheit und des wachsamen Blicks verleihen würde, der typisch für den Orient sind“. Auch die Kostüme „sollten einen orientalischen Flair heraufbeschwören!“

Wir kennen in dieser Verschiebung von Mykenischen zu Orientalischen Ausläufen, die unter dem griechischen Element eine Vorstellung von einer orientalischen Renaissance der ersten Romantik und des Basler Kreis zeigt. Wonach der klassische Hellenismus in einer Ordnung des Orientalischen Chaos bestanden hätte: „Ihre Kultur war lange Zeit ein Chaos von Formen und fremden Ideen, semitisch, babylonisch, lydisch, ägyptisch und ihre Religion ein regelrechtes geschlossenes Feld, auf dem die Götter des Orients aufeinanderprallten. (…) Die Griechen haben nach und nach gelernt, Chaos zu organisieren“, schreibt Nietzsche (unter Einfluss von Rohde und Johann Jakob Bachofen / 1815-1887) am Ende seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen (1874).

Nietzsches Vorliebe für das dionysische Griechenland, das suggestiver war als das klassische Athen, war auch für Hofmannsthal offensichtlich gleich gewesen. So beschwor er in dem Essay über Algernon Charles Swinburne (1837-1909) von 1892: „Nicht nur das Herkömmliche des Hellenismus mit der gemeisterten Klarheit und den Anmut des Tanzes (…), sondern auch das ursprüngliche orphische Griechenland verdunkelt von den Leidenschaften. Diese liefen wie Mänaden barfuß und die Haare in den Wind und das Leben zeigte sich unter einer Medusa-Maske mit rätselhaften und qualvollen Augen wie in der Trauer für Adonis. Im Kult von Kybele wird der Schauer des erfülltesten Lebens und die des Todes verwirrt und Dionysos wandelt lachend als ein sterblicher Gott durch eine Welt voller Leben und Beunruhigung“. Diese dekorative und manieristische Variante nach Ideen von Nietzsche findet ihren vollendeten Ausdruck bei Hofmannsthal im Opernlibretto Ariadne auf Naxos (1912).

Sünde des Lebens

  • Vielleicht verdammt, vielleicht gerettet, Mensch!
  • Verlornes Licht im Raum,
  • Traum in einem tollen Traum,
  • Losgerissen und doch gekettet,
  • Vielleicht des Weltenwillens Ziel,
  • Vielleicht der Weltenlaune Spiel,
  • Vielleicht unvergänglich, vielleicht ein Spott,
  • Vielleicht ein Tier, vielleicht ein Gott.
  • (Hofmannsthal: Auszug aus Sünde des Lebens / 1891)

Mit Elektra stürzt sich Hofmannsthal in eine dunklere und tragischere Atmosphäre. Seine Neigung zum Orientalismus knüpft wieder an Friedrich Hölderlin (1770-1843) an, von dem er das Epigraph seiner anderen großen Adaption einer griechischen Tragödie Ödipus und die Sphinx (1906) entlehnt. Hofmannsthal ist wie Nietzsche geprägt von den Theorien Rohdes (Psyche, Seelenkulte und Unsterblichkeitsglaube bei den Griechen, 1890/94, die die Ansichten von Rohde noch verdichteten und erschienen kurz nach dem Zusammenbruch von Nietzsche). Besonders bei Rohde hat Hofmannsthal die für ihn erregendsten Darstellungen der Mänaden der weiblichen Anhängerinnen von Dionysos gefunden, deren ekstatischer Tanz den von Elektra am Ende des Dramas vorwegnimmt.

In der Übersetzung von Sophokles (495-406 v. J.C.) bemüht sich Hölderlin – und ein Jahrhundert später Hofmannsthal – das Prinzip hervorzuheben, das im Original verschleiert blieb. Die Übersetzung muss das Feuer des Himmels wieder entfachen, das von der junonischen Nüchternheit erstickt wurde. Deshalb betonen sowohl Hölderlin in seiner Übersetzung von Antigone (442 v. J.C.) als auch Hofmannsthal in seiner Elektra mit Vorliebe die mit Wut, Wahnsinn, Wildheit und Trunkenheit verbundenen Motive. Hofmannsthal greift dafür auf psychiatrische und psychoanalytische Literatur zurück und verwandelt Elektra in eine große Hysterikerin.

Theatre de Geneve / ELEKTRA © Carole Parodi
Theatre de Geneve / ELEKTRA © Carole Parodi

Es gibt jedoch einen grundlegenden Unterschied zwischen Hölderlins Antigone (1800) und Hofmannsthals Elektra: Bei Hölderlin trifft die Frau, die das Feuer vom Himmel trägt, auf eine mächtige männliche Figur: Kreon, den Repräsentanten des antiken Gesetztes, das unerträglich geworden ist! Antigone wird von ihm zerquetscht und wird zur Märtyrerin eines demokratischen Ideals. Im Gegenteil, wenn Hofmannsthal in die tiefsten Schichten vordringt und vor Sophokles die frühere orientalische Stufe der hellenistischen Kultur wiederentdeckt, führt er uns zurück zu dem von Bachofen beschriebenen archaischen Matriarchat. Wie Maximilian Harden (1861-1927) bei der Uraufführung des Stücks in Berlin bemerkte, die Männerrollen seien völlig zweitrangig, so sehr sei die Aufmerksamkeit des Autors auf die Frauenfiguren gerichtet gewesen. Und Hofmannsthal sagt: „Meine Elektra ist eine relevante Sache und hätte vielleicht ein schöneres Stück und ein reineres Kunstwerk werden können, wenn Orest einfach nicht vorhanden wäre“.

Die gegen Elektra gerichtete Kraft ist nicht die männliche Rechtswelt, sondern die furchteinflößende magna mater Klytämnestra. Der unsichtbare Geist von Agamemnon, der von der Mutter ermordet wurde, verfolgt Erinnerungen und Gewissen. Aber es ist die Mutter die regiert! Und diese Herrschaft kennt keine Gleichheit, sondern folgt dem Lauf blinder und chaotischer Gewalt. Wie Bachofen sagte (als er nach Ernst Blochs /1885-1977/ Formel seine Vernunft und nicht sein Herz sprechen ließ), ist das archaische Matriarchat nur Anarchie und Barbarei

Gegen Carl Gustav Jung (1875-1961), der vorschlug den Begriff des Elektra-Komplexes einzuführen, um die Existenz einer Symmetrie der Einstellung gegenüber den Eltern bei beiden Geschlechtern zu markieren. Aber Freud akzeptierte nicht die Idee eines anderen femininen Ödipus-Komplexes: „An dieser Stelle scheint uns, dass das was wir über den Ödipus-Komplex sagen, streng genommen nur für das Kind männlichen Geschlechts gilt und dass wir berechtigt sind, den Ausdruck Elektra-Komplex abzulehnen, der auf der Analogie des Verhaltens der beiden Geschlechter besteht.“ Während der für die Menschwerdung konstitutive Ödipus-Konflikt in den Augen von Freud die eigentliche Grundlage aller menschlichen Zivilisationen ist, gehört die Beziehung zwischen Tochter und Mutter einem archaischen Universum vor jeder Kultur an und das dafür abgeschafft werden muss. Die Menschheit kennt das moralische Gesetz! Laut Freud gibt es kein Gesetz der Mutter! Das Stück Elektra erkundet das beeindruckende Mysterium der ambivalenten und gewalttätigen Beziehung zwischen Tochter und Mutter, aber wenn es wahr ist, wie Hofmannsthal selbst 1916 bestätigte, hatte er vielleicht ein wenig Wasser in das Feuer am Himmel gegossen, das seine Elektra von 1903 entzündet hatte. Dass Elektra „durch ihren Hass und durch das Werk für die Wiederkehr der Harmonie in der Welt gesorgt hatte“, ist ein Hinweis auf ein verlorenes Gesetz, das sie auf der Seite des Vaters Platz nimmt: Er ist nur durch sie da, sie ist die Mutter, mehr als die Richtige, sie ist das ganze Haus!

Ein moderner neuer Code geht Hand in Hand mit einer klugen Nutzung des kulturellen Erbes von den klassischen Oberschulen übertragen. Das Ansehen der griechischen Klassiker im kulturellen System der Bildung bringt dem modernen Schriftsteller die bestmögliche Legitimation: Der Name von Hofmannsthal wird so mit dem von Sophokles oder Euripides (etwa 480-406 v. J.C.) verbunden. Der Übersetzungs-Adaptionsprozess ermöglicht eine Lektüre auf mehreren Ebenen: Für ein geisteswissenschaftliches Publikum ist Hofmannsthals Arbeit das gute Gewissen für den Besuch eines kultivierten Theaterabends, aber gleichzeitig auch leicht verständlich für diejenigen, die die Geschichte von Elektra noch nicht kennen. Mit einem moderneren Geschmack macht Hofmannsthal dank der Ironie des sekundären Codes, den er dem Original überlagert, die notwendigen Zugeständnisse.

Der kulturelle Code der Bildung ermöglicht es dem Schriftsteller ein breites Publikum zu erreichen. Der Erfolg der Bearbeitungen griechischer Tragödien von Hofmannsthal inszeniert von Max Reinhardt (1873-1943) oder vertont von Strauss beweist dies ausreichend. Der Autor hat zu seinen Lebzeiten mehr materiellen Gewinn und Bekanntheit aus den Adaptionen gezogen als aus seinen poetischen Werken und Novellen, die wir heute so hoch schätzen. Die Berliner Uraufführung von Elektra zeigt, dass Hofmannsthal die hochkulturelle poeta doctus-Karte auszuspielen wusste, um seine Differenz zu Gerhart Hauptmann (1862-1946) und der naturalistischen Avantgarde zu behaupten.

Theatre de Geneve / ELEKTRA © Carole Parodi
Theatre de Geneve / ELEKTRA © Carole Parodi

Die Uraufführung des Dramas Elektra fand am 30. Oktober 1903 in Berlin statt, in der Inszenierung von Reinhardt und mit der berühmten Tragödien Gertrud Eysoldt (1870-1955), „monstre sacré“ der deutschen Bühne und so berühmt wie Sarah Bernhardt (1844-1923) in Paris. Der Erfolg stellte sich sofort ein: Drei Ausgaben innerhalb weniger Wochen ausverkauft und Ankauf der Aufführungsrechte von rund zwanzig deutschen und österreichischen Theatern. Im Frühjahr 1906 nahm Strauss Kontakt mit Hofmannsthal auf, um das Projekt einer Adaption des Textes für die Oper zu formulieren.

Am 1.November 1903, einen Tag nach der Berliner Uraufführung von Elektra brachte das Deutsche Theater die Uraufführung eines naturalistischen Schauspiels des berühmten Hauptmann Rose Bernd (1903). Das neue Drama von Hauptmann war viel weniger erfolgreich. Aber es ist sicher dass die naturalistische Komponente von Elektra stellen Hofmannsthals Stück auf halbem Weg zwischen das dekadente fin-de-siècle-Meisterwerk Salomé (1905) von Oscar Wilde (1854-1900) und Strauss, und die Apotheose der naturalistischen femme fatale, Lulu (1937) von Franz Wedekind (1864-1918) und Alban Berg (1885-1935).

Die Wiener Atmosphäre von Elektra ist auf viele Anleihen zurückzuführen, die Hofmannsthal aus Richard Freiherr von Krafft-Ebings 1840-1902) Psychopathia Sexualis (1886) und vor allem aus Studien über Hysterie (1895) von Breuer und Freud machten. Man könnte sogar von einem ungeheuerlichen Schrecken angesichts dieser vielen Weiblichkeit sprechen, die dem berühmten frauenfeindlichen Autor Otto Weininger (1880-1903) von Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung (1903) nahe kommt. Das infernale Duo Klytämnestra-Elektra beweist, wie Weininger sagte, dass das weibliche Universum vollständig von der Sexualität dominiert wird. Hofmannsthal bekräftigt dies auf seine Weise in einem Brief an Strauss von 1912 über Ariadne auf Naxos: „Für Elektra ist das Schlafzimmer von Klytemnästra das Einzige was auf der Welt zählt, während die Welt von Klytemnästra reduziert ist auf ihr Schlafzimmer.“

Bestimmte Details des Textes zeigen, dass Hofmannsthal das Kapitel aus den Studien der Hysterie von Breuer und Freud, das dem Fall Anna O. (Bertha Pappenheim /1859-1936) gewidmet ist, sehr aufmerksam verfolgt hatte. Wir erinnern uns, dass eines der Traumata den Leidensweg der Anna O. prägten: Der Tod des Vaters! Anna O. erinnert sich in ihrem Delirium an die besondere Pflege ihres kranken Vaters, während sie ihre Mutter beschuldigt, ihn sterben lassen zu haben. Nachdem Breuer das Unterbewusstsein von Anna O. analysiert hatte, bemerkte er den hypnotischen, somnambulen und angsterfüllten Zustand seiner Patientin, die die Schuld am Tode des geliebten Vaters auf ihre Mutter übertrug und sich selbst an die schmerzliche Zeit des Kultes für den sterbenden Vater hingab.

Eine andere Dimension des Charakters von Elektra schließt sich eine von Hofmannsthals Obsessionen an, die wir in vielen seiner Werke und insbesondere in Andreas (1932) finden: Die gespaltene Persönlichkeit! In diesem Roman erscheint die Figur von Maria Mariquita: Tagsüber eine fromme strenge Frau und allergisch auf jeden männlichen Vorstoß, aber nachts eine intrigante und faszinierende Kurtisane im Stil einer femme fatale. Hier können wir von einer gespaltenen Persönlichkeit des weiblichen Charakters sprechen, die von Elektra und Chrysothemis, die zwei Schicksalsseiten der Töchter Agamemnons. Chrysothemis verkörpert Schönheit, Verführung, Leben, den Wunsch nach Zeugung und nach Versöhnung mit der Mutter, die Überwindung der Trauer, den Schrecken vor Blut und Gewalt. Elektra ist die nächtliche Seite dieser kindlichen Weiblichkeit: Eine krampfhafte Maske, die den männlichen Blick erschaudern lässt, ein nächtliches Wesen, dessen Delirium beginnt, wenn die Fackeln in Agamemnons Palast aufleuchten. Eine blutrünstige Rachewut, die nur für den Tod von Klytämnestra und Ägisth lebt und dann leblos zusammenbricht, wenn die gewünschten Morde vollbracht sind: Als ob es keinen Sinn mehr zu leben gäbe, wenn der Todeswunsch erfüllt ist!

Eine auffallende Bemerkung von Klytämnestra in ihrem makabren Dialog mit Elektra beweist wie sehr Hofmannsthals Vorstellungskraft von Hinweisen auf die Psychopathologie genährt wird. Klytämnestra entlässt ihre Dienerinnen um Elektra besser zuzuhören: „Sie ist heute nicht widerlich. Sie redet wie ein Arzt.“ Die schuldige und korrupte Mutter, deren Haut wie Marmor von den Stigmata der Dekadenz, der krankhaften Gewissenslosigkeit gezeichnet, durchzogen und der Kopf von tausend schrecklichen Alpträumen bevölkert war, betrachtete ihre Mörderin als ihre Psychotherapeutin! Man könnte Elektra in dieser Szene als eine Art Mördertherapeutin bezeichnen!

Theatre de Geneve / ELEKTRA © Carole Parodi
Theatre de Geneve / ELEKTRA © Carole Parodi

Premiere ELEKTRA - 25. Januar 2022 - Grand Théâtre de Genève

Der deutsche Regisseur und Szenograph Ulrich Rasche hat eine relative schnelle Berühmtheit in der deutschen Theaterlandschaft erreicht und mit dieser ersten Inszenierung für die Oper will er ein neues Publikum erobern. Auch für uns sind seine Arbeiten kulturelles Neuland und wir waren natürlich sehr neugierig auf das, was uns da erwarten wird! Vorhang auf: Wir sahen eine riesige Monstermaschine aus Eisen und Stahl. Einen Turm mit infernalen Ausmaßen. Ein in sich drehendes pünktliches Roboteruhrwerk. Verschiedene drehende Plattformen und Rampen bewegten sich unaufhaltsam. Objekte in abrupten Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen mit ein- und ausrastender Haltung. Verschiedene Plattformen in steilen Höhen und auf glatten Ebenen. Mit waghalsigen gefährlichen Schrägschwenkungen. Das ganze monströse Spektakle spielte sich auf einer völlig schwarzen Bühne ab! Die aber mit einer äußerst raffinierten und dramatischen Beleuchtung von dem deutschen Lichtbildner Michael Bauer gestaltet wurde und natürlich durfte auch der unersetzliche Bühnennebel nicht fehlen, der mit einer schwarz-weißen Palette unendliche graue Farbtöne hervorzauberte. Der Szenograph hat sich eindeutig von den Metallplastiken und Zeichnungen des ungarischen Künstler László Moholy-Nagy (1895-1946) und der futuristischen Kunst-Bewegung vom Anfang des 20. Jahrhunderts inspirieren und beeinflussen lassen.

Im wahrsten Sinne des Wortes war es keine Inszenierung noch ein Spiel von Schauspielern! Und doch war es faszinierend und beeindruckend: Auf einer der untersten drehenden Rampen marschierten in umgekehrter Richtung die Mägde und Dienerinnen der Klytämnestra, es war kein normaler Marsch, sondern ein angstvolles marschieren, das mit einem Schritt vorwärts und einem halben Schritt zurück sehr beklemmend wirkte. In einer inneren Drehscheibe agierte Elektra in gleicher Schrittweise jedoch auf einem äußerst beschränkten Raum. Desgleichen auch Klytämnestra und dem Drama folgend in späteren Zeitabläufen die restlichen Personen: Chrysothemis, Ägisth, Orest, etc. Dieser spannende für alle Situationen und Rollen bestimmte Marsch war sehr eindrucksvoll und das Publikum konnte nach seinen Ideen und Fantasien eigene Albträume seines Lebens und vergangene Geschichtsabläufe assoziieren: Sklaverei, Zuchthaus, Irrenanstalt, Wolgaschlepper, Flucht, Auswanderung, Konzentrationslager, Verschleppung Krankheit und Tod. Alle diese schwarzen Visionen und krankhaften Träume sind Teile einer Wahrheit der realen Weltsituation. Auch der Ort und die Zeit des Geschehens wurde ungewiss behandelt, wir würden das Gesehene vielleicht im Weltraum verorten zwischen Mars und Jupiter mit einer Beobachtungstation oder sogar mit einem Hochspannungs-Zuchthaus für gefährliche Schwerverbrecher. Warum nicht? Die ganze Familie der Atriden war mehr als gefährlich und überaus wahnsinnig! „Hier sind alle gefangen“ so die Worte des Regisseurs!

Die Kostüme von den beiden deutschen Kostümbildnerinnen Sarah Schwartz und Romy Springsguth sind natürlich im Sinne der Regie entworfen worden. Es sind hässliche schwarze Overalls mit einem breiten Ledergürtel in der Taille, an dem der Sicherheitsgurt befestigt ist. Und mit dieser düsteren Bergsteigeruniform sind alle weiblichen und männlichen Atriden bekleidet. Die einzige Ausnahme für diese fantasielose eintönige Abscheulichkeit ist Klytämnestra: Denn sie darf ohne Overall mit weiten fast eleganten schwarzen Hosenbeinen marschieren! Wir haben leider keinerlei Erklärung für die zwei deutschen Choreographen Jonathan Heck und Yannick Stöbener, die wohl Marschrichtung und Rhythmus der Sänger beeinflussten?

Beim Klang der ersten Note begriffen wir, dass der englische Dirigent Jonathan Nott die Musik von Strauss praktisch aus seinem Ärmel schüttelt: Er atmet gewissermaßen die berühmten Harmonielinien des bayerischen Komponisten. Man riecht den morbiden Aasgeruch in allen Ebenen der Musik und wenn dann die Axt fällt, dann fällt sie wirklich… Wrumm! Von der musikalischen Seite war es wirklich großes Erlebnis.

Die schwierige Titelrolle wurde von der schwedischen dramatischen Sopranistin Ingela Brimberg interpretiert. Leider waren wir, und das besonders am Anfang, enttäuscht denn in dem großen Monolog der Elektra: „Allein! Weh, ganz allein!“ verspürten wir keinerlei Empfindungen, auch hatten wir nicht unsere unausweichliche Gänsehaut bei dem Ausruf „Agamemnon!“ Wir hatten das Gefühl die Sängerin sang die Partie ohne wirklich in die Rolle zu schlüpfen, es hörte sich nebensächlich und langweilig an und im Gesang war nicht die schöne berühmte Gesangslinie zu spüren, die der Komponist für seine geliebten Soprane erfand. Dazu war die Diktion wirklich unzureichend, denn einen Text von Hofmannsthal sollte man wohl verstehen. Im Laufe des Abends wurde die Sängerin besser und besser ohne jedoch für uns in die Reihe großer Elektra-Interpretinnen eingereiht zu werden.

Die deutsche dramatische Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner war aus anderem Holz geschnitten, eine sehr glanzvolle Klytämnestra. Mit einer großen breiten voluminösen Stimme, einem äußerst sensuellen Timbre und in den Tiefen schon beinahe eine Altstimme. Eine besondere Freude war die einmalige Aussprache der Sängerin, denn man verstand jedes Wort und jede Silbe dieser wunderschönen Sprache des Wiener Dichters! Auch in ihren von der Regie vorgesehenen Marsch-Bewegungen zeigte sie keinerlei Verkrampfungen und es wirkte alles völlig natürlich. Eine große Künstlerin mit einem unwahrscheinlichen Talent. In ihrem großen Dialog mit Elektra: „Ich will nichts hören… Ich habe keine guten Nächte…“ hat sie unserer Meinung Interpretations-Geschichte gemacht.

Die schöne naive Schwester von Elektra, Chrysothemis, von der amerikanischen Sopranistin Sara Jakubiak gesungen, verblasst leider völlig gegenüber ihren beiden Kolleginnen. Ein sehr enttäuschendes fades farbloses Timbre und auch hier eine katastrophale Diktion, so dass sich unser Dichter wohl im Grabe umdrehen würde.

Der ungarische Bariton-Bass Károly Szemerédy als Orest gehört wohl zu diesen Künstlern, die von der Natur alle Gaben und Talente ausreichlich erhalten haben: Eine großartige Stimme mit einem samtigen Heldenbariton-Timbre, ein phantastisches elegantes Bühnen-Auftreten, sowie eine traumhafte Aussprache. Eben alles was man sich von einem großen Sänger vorstellt und wünscht.

Die relative kurze aber wichtige Rolle des Ägisth war eine völlige Überraschung für uns, normalerweise in der Interpretationstradition von einem Charakter-Tenor gesungen. Hier wurde ein junger lyrischer Tenor für die Rolle eingesetzt: Der deutsche Michael Laurenz. Unserer Meinung viel zu schön gesungen für diese verkrampfte krankhafte Schreckensrolle: Es wäre viel eindrucksvoller mit einem altersbedingten unsauberen Timbre. Natürlich wird unser junger Tenor von der Wiener Staatsoper sehr schnell eine große Karriere machen! Aber ohne Ägisth!

Der russische Bass Dimitri Tikhonov als Alter Diener ließ aufhorchen, seine tiefe erhabene Stimme erinnerte an russische orthodoxe Kirchenmusikinterpretation. Die Aufseherin wurde von schweizerischen Sopranistin Marion Ammann gesungen und sie zeigte noch wunderschöne Reste von ihrer einstigen großen Stimme. Wir haben sie in der Vergangenheit mehrmals besonders in Wagner-Partien auf deutschen Bühnen gehört. Besonders ihre Sieglinde haben wir in sehr angenehmer Erinnerung.

Der junge englische Bariton Michael Mofedian als Pfleger des Orest hat schon eine staatliche Karriere hinter sich und singt in seinem Repertoire besonders deutsche, französische und russische Rollen. Der Junge Diener hatte einen sympathischen Interpret in dem jungen französischen Tenor Julien Henric gefunden. Alle restlichen Interpretinnen in den kleineren Rollen waren durchweg ausgezeichnet.

Trotz einiger Einschränkungen, die wir schon nannten, haben wir einen phantastischen und reichen Opernabend genossen. Nur noch ein letztes Wort zur Inszenierung: Wir hoffen nur dass diese Installationen für die nähere Zukunft kein sogenanntes Markenzeichen für Herrn Rasch wird und man auf allen Bühnen seine Masche wieder und wieder sehen müssen. Denn ohne Erneuerung wird jede Sache langweilig und fruchtlos.   (PMP/2. Februar 2022)

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