
Elbphilharmonie Hamburg – Saisoneröffnung – mit Starcellist Yo-Yo Ma
NDR Elbphilharmonie Orchester Hamburg startet fulminant unter Alan Gilbert
von Patrik Klein
Seit zwei Jahren nun leitet der gebürtige New Yorker Alan Gilbert das Residenzorchester der Elbphilharmonie Hamburg. Das von ihm dort präsentierte neue Programm mit vielen Klassikern, aber auch Schwerpunkten in amerikanischer und zeitgenössischer Musik litt trotz großer internationaler Aufmerksamkeit in den ersten beiden Saisons erheblich unter den Folgen der Corona Pandemie. Selbst erst vor einigen Wochen von einer Corona-Infektion wieder genesen, sollte die neue Saison 21/22 mit großem Schwung und vielen neuen Plänen nun wieder Fahrt aufnehmen. Immerhin war man bei einer Saalbelegung von knapp 50% der maximalen Kapazität, unter strengen Hygienevorschriften (Vollständig geimpft, genesen, oder getestet und mit FFP2 Maske während des Konzerts), angelangt und konnte die Programmstruktur wieder von zwei sechzig-minütigen Konzerten am Abend mit maximal mittlerer Orchesterbesetzung in ein abendfüllendes Konzertvergnügen bei größeren Besetzungen wandeln.
Zum Saisonstart hatte sich Alan Gilbert eine Mischung aus populären Klassikern aus Alter und Neuer Welt ausgewählt, die auch einen Ausblick auf das Festival Age of Anxiety – An American Journey (Zeitalter der Angst – die USA im Aufbruch und Umbruch des 20. Jahrhunderts) im Februar 2022 geben sollten. Mit Stargast Yo-Yo Ma ist Alan Gilbert seit Langem befreundet und konnte so den in Europa seltenen Gast, der zwei umjubelte Auftritte beim Eröffnungsfestival der Elbphilharmonie Hamburg Anfang 2017 hatte, als besonderen Verfechter von musikalischer Völkerverständigung für diesen Konzertabend gewinnen.

Auf dem Programm standen Leonard Bernsteins “Symphonic Dances from West Side Story”, Samuel Barbers “Konzert für Violoncello und Orchester a-Moll op. 22″, Mark-Anthony Turnages “Time Flies” und schließlich George Gershwins sinfonische Dichtung “Ein Amerikaner in Paris”.
Die Idee für das Musical West Side Story entstand 1949. Der Choreograph und Produzent Jerome Robbins schlug dem zu dieser Zeit bereits bekannten Komponisten Leonard Bernstein vor, eine moderne Version von Shakespeares Romeo und Julia auf die Bühne zu bringen. Zusammen entwickelten sie ein Konzept zur East Side Story. Die Idee war, ein Musical zu schreiben, das der Oper nicht zu nahe kommen sollte. Bernstein wählte als Thematik des Musicals die ethnischen Konflikte zwischen Puerto-Ricanern und US-Amerikanern, da ihm die erste Idee, jüdisch-christliche Probleme zu behandeln, zu altmodisch erschien. Außerdem benannte er das Stück von East Side Story in West Side Story um. Erst im Jahre 1957 wurde das Projekt dann endgültig in Angriff genommen. Es wurden Proben durchgeführt, 40 Jugendliche in das Stück integriert und Entwürfe für die Szenen sowie für die Kostüme fertiggestellt. Am 19. August 1957 fand die Premiere im National Theatre in Washington statt. Bei den Zuschauern wurde die West Side Story sehr gut aufgenommen und entwickelte sich zu einem großen Erfolg. Man schätzte die kühne Mischung aus klassischer und abendländischer Musik, progressivem Jazz und lateinamerikanischen Rhythmen. Der Startschuss für die Entwicklung eines originär amerikanischen Musiktheaters war gefallen.
1960 arrangierte Bernstein einige Nummern des Musicals als Suite für Orchester unter dem Titel “Symphonic Dances from West Side Story“. Die Uraufführung erfolgte 1961 durch die New Yorker Philharmoniker unter der Leitung von Lukas Foss bei einer Gala zu Ehren Bernsteins. Im Prologue (Allegro moderato) wird wachsende Spannung zwischen den Gangs geschildert. Bei Somewhere (Adagio) vereinigen sich im Traum die Gangs in Freundschaft. Das Scherzo (Vivace leggiero) erzählt davon, wie die Teenager die Citygrenzen verlassen und sich in einer freundlichen Welt wiederfinden. Der Mambo (Meno presto) wirft sie wieder zurück in der gewaltsamen Realität. Beim Cha-Cha (Andantino con grazia) tanzen die Hauptfiguren Tony und Maria zum ersten Mal zusammen, wobei es bei der Meeting Scene (Meno mosso) zu einem ersten Austausch von Worten zwischen den Liebenden kommt. Im Cool, Fugue (Allegretto) explodiert nun die Feindseligkeit der Jets. Beim Rumble (Molto allegro) kommt es zum Höhepunkt der Feindseligkeit, bei dem die beiden Gangführer getötet werden. Zum Finale (Adagio) schließlich stirbt Tony in Marias Armen, und der Traum von “Somewhere” kehrt zurück.
Das NDR Elbphilharmonie Orchester war mit reichlich Schlagwerk sehr groß besetzt und füllte beinahe das gesamte Podium aus. Alan Gilbert zauberte mit seinen Musiker*innen eine überschwängliche, temporeiche und temperamentvolle Palette von feurigen und aufregenden Farben. Die Musiksuite hatte die Aura der Nähe und Vertrautheit, mit der richtigen Mischung von Pop in den lateinamerikanischen Rhythmen, die die Partitur durchdringen. Schon die “Mambo!“-Rufe und das rhythmische Fingerschnippen der Musiker*innen vermittelten eine ansteckende Lust und einen extremen Hörgenuss. Auch die leisen, lyrischen Momente gelangen mit vollem emotionalen Berührungspotenzial, ganz besonders beim kurzen Querflötensolo als Einleitung zum Adagio von Andreas Blau. Der Start in eine neue Konzertsaison in Hamburgs Musiktempel war bereits nach knapp dreißig Minuten unter großem Beifall des Publikums gelungen.
Der in Amerika häufig gespielte und anerkannte, in Europa eher unterschätzte Komponist Samuel Barber vollendete sein “Konzert für Violoncello und Orchester Op. 22″ am 27. November 1945. Dieses Werk war nach seinem Violinkonzert das zweite seiner drei komponierten Konzerte. Es folgte danach lediglich noch ein Klavierkonzert und sein berühmtes “Adagio for Strings“, welches in etlichen berühmten Hollywoodfilmen landete. Barber erhielt den Auftrag, sein Cellokonzert für Raya Garbousova, eine im Ausland lebende russische Cellistin zu schreiben. Der noch junge Komponist versuchte dabei ihrem besonderen Aufführungsstil und den Ressourcen ihres Instruments zu entsprechen. Garbousova brachte es am 5. April 1946 mit dem Boston Symphony Orchestra in der Symphony Hall in Boston erfolgreich zur Uraufführung. Barber gewann mit dem Konzert 1947 den New York Music Critics’ Circle Award. Letztlich ist das Werk jedoch im Dunkeln geblieben und die Aufführungen sind rar, vor allem wegen seiner extremen technischen Anforderungen, aber auch, weil die schwere Bearbeitung des Soloparts von Raya Garbousova die individuelle Interpretation behinderte.
So lag es nahe, einen der besten, wenn nicht gar den besten Cellisten auf diesem Globus für die Opening Night zu gewinnen. Yo-Yo Ma wurde 1955 als Sohn chinesischer Einwanderer in Paris geboren. Seine Mutter war Sängerin, sein Vater Violinist. Schon mit vier Jahren begann Ma mit dem Cellospiel. Wenige Jahre später wanderte die Familie in die USA aus, wo er kurz darauf mit Leonard Bernstein im Fernsehen auftrat und später die Juilliard-Musikhochschule sowie die Elite-Universität Harvard besuchte.

Die Pandemie hatte den üblicherweise vollen globalen Konzertkalender von Yo-Yo Ma abrupt unterbrochen. Lange Zeit standen nur Online-Auftritte auf seinem Programm. Deshalb durfte sich das Hamburger Publikum ganz besonders über seinen Auftritt zur Saisoneröffnung freuen.
“Musik ist für mich die beste Form, meine Neugierde nach Menschen zu stillen und die Welt zu erkunden”, sagte Cellist Yo-Yo Ma einmal der Deutschen Presse-Agentur.
Die Musik hatte ihm auch über die bisherige Coronazeit und all ihre Einschränkungen geholfen. “Während der Pandemie ist uns genommen worden, wie sehr wir auf Berührungen reagieren. Man kann nichts anfassen, nicht umarmen, keine Hände schütteln. Aber was die Musik macht, ist, dass sie Luftmoleküle bewegt. Wenn die Luft sich bewegt, die Haut und die Härchen auf der Haut bewegt, das ist Berührung. Das ist das, was dem von jemandem berührt zu werden am nächsten kommt. Ich bin angesichts des vielen menschlichen Leidens vor allem dankbar für das Leben, die Musik und die Natur. Ich genieße und erlebe das einfach derzeit, dass ich irgendwie ein Teilnehmer dieses Planeten bin”, sagte Ma der Zeitschrift Washington Post. Yo-Yo Ma wurde unter anderem mit zahlreichen Grammys ausgezeichnet und für sein Engagement unter anderem zum Friedensbotschafter der Vereinten Nationen ernannt.
Im Januar/Februar 2017 gab er bereits zwei umjubelte Konzerte in der Elbphilharmonie, wo mich bereits sein Humor an den Dalai Lama erinnerte; nur dass dieser nicht so gut Cello spielen kann: und Yo-Yo Ma erfüllte alle hohen Erwartungen und brachte die Elbphilharmonie zum Beben. Bereits beim Bühnenauftritt kam er mit verschmitztem Lächeln aufs Podium, was man erst deutlich vernahm, als er die Maske abnahm, die sich in seiner Brille verheddert hatte. Er spielte das Cellokonzert mit glühendem Einsatz, hoher technischer Kompetenz und interpretatorischem Feingefühl. Manche Noten wurden gezupft, nicht nur gestrichen. Er riss an seinem Instrument wie ein Wahnsinniger und liebkoste es an anderer Stelle mit allergrößter Zuneigung. Bei ständig intensivem Blickkontakt zum Dirigenten, oder zu den ihn umrahmenden Musiker*innen vertiefte Ma sich mit Leidenschaft in die immensen Schwierigkeiten des teils schroffen, teils unerwartet melodiösen Werkes hinein. Den harten Gegensätzen gab der leidenschaftliche Musiker die nötige Intensität, den sanglich geführten, lyrischen Melodien schenkte er den vollen, runden Klang seines kostbaren Instrumentes “Petunia” aus der Werkstatt von Domenico Montagnana (1733).
Alan Gilbert, der Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters lenkte die blendend disponierten Musiker*innen mit Souveränität und Übersicht, so dass sie sehr genau und einfühlsam den Intentionen des Mannes am Cello folgten. Besonders eindringlich gelang dies im zweiten Satz “Andante sostenuto” im voller Inbrunst ausmusizierten Kanon von Solist und Solooboist Paulus van de Merwe.

Das Publikum war regelrecht aus dem Häuschen, als die letzte Note verstummte. Als kleines Dankeschön reihte sich Yo-Yo Ma in die Reihen der glänzend musizierenden Cellisten des Orchesters ein und gab zusammen mit ihnen “Summertime” von George Gershwin.
Das vielseitige Programm der Opening Night wurde abgerundet mit der Uraufführung von Mark-Anthony Turnages Time Flies. Dieses Stück wurde gemeinsam vom Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra, BBC Radio 3 und dem NDR Elbphilharmonie Orchestra in Auftrag gegeben. Es ist gestaltet als Reise um die Welt in drei Sätzen und sollte eigentlich schon im Jubiläumskonzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters zu dessen 70. Geburtstag erklingen.
Geboren 1960 in Corringham, Essex, studierte Mark Anthony Turnage zunächst bei Oliver Knussen und John Lambert am Royal College of Music in London, weitere Studienaufenthalte folgten bei Gunther Schuller und Hans Werner Henze in Tanglewood. Anschließend startete er 1988 seine Karriere als Komponist mit dem Auftragswerk Greek, IOCO Kritik HIER!, das er für die Münchener Biennale komponierte. Von 1989 bis 1993 war er am City of Birmingham Symphony Orchestra als Composer in Association tätig, ferner arbeitete er in derselben Position für das BBC Symphony Orchestra. Heute gilt er als bedeutender Vertreter der Neuen Musik, zudem sind seine Kompositionen von seiner Leidenschaft für den Jazz geprägt.

(Bild 4: NDR Elbphilharmonie Orchester Hamburg; Foto Peter Hundert)
Nach der Pause flog das in drei Sätze gegossene rund 20-minütige Werk zwischen den Städten in London, Hamburg und Tokio umher und fand ironischer weise eine unerwartete Aktualität in einer Zeit globaler Reisebeschränkungen. Für großes Orchester mit einer prominenten Rolle für Sopransaxophon komponiert, eines der Lieblingsinstrumente von Turnage, eröffnete Time Flies in der britischen Hauptstadt und warf ein synkopisch rhythmisiertes Thema um die Orchesterteile. Die Hamburger Mitte war breiter und akkordischer, wobei das Orchester als Ganzes arbeitete, während der letzte Tokio-Satz eine energiegeladene Feier einer olympischen Stadt mit Jazzband-Feeling darstellte.?
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Schließlich ließ Gershwins Ein Amerikaner in Paris aus dem Jahr 1928 hören, was passiert, wenn ein Jazz-affiner New Yorker zu Gast in einer pulsierenden Metropole des “Alten Europa” ist. Das Stück ist neben der Rhapsody in Blue eines seiner populärsten Werke. Die Tondichtung in freier Form, in der Gershwin die Eindrücke seines eigenen Aufenthalts in Paris musikalisch ausmalt, wurde mit drei Saxophonen ausgestattet und mit einem riesig besetzten Orchester des Hauses im Hafen Hamburg dem Publikum fulminant dargebracht.
Großer Jubel nach gut zwei kurzweiligen Stunden für alle Beteiligten
—| IOCO Kritik Elbphilharmonie Hamburg |—