Hamburg, Elbphilharmonie, Wiener Philharmoniker und Ingo Metzmacher, IOCO Kritik, 26.1.2017

Hamburg, Elbphilharmonie, Wiener Philharmoniker und Ingo Metzmacher, IOCO Kritik, 26.1.2017

Elbphilharmonie Hamburg

Elbphilharmonie Hamburg / Lasershow zur Eröffnung © Ralph Lehmann
Elbphilharmonie Hamburg / Lasershow zur Eröffnung © Ralph Lehmann

"Die Luft elektrisiert – dunkle Energien erfüllen den Raum"

Die Wiener Philharmoniker - Ingo Metzmacher

Eine vollkommene und magische Demonstration dessen, was Neue Musik kann: Fulminante Wiener Philharmoniker unter Ingo Metzmacher in der Elbphilharmonie

Von Sebastian Koik

Das zweite Konzert der Wiener Philharmoniker in der neuen Elbphilharmonie Hamburg am 23.1.2017 hatte Werke des 20. Jahrhunderts auf dem Programm. Düsterer und schwerer könnten die Themen der Stücke kaum sein: Trauermärsche, Anklage gegen Krieg, Verfolgung und Gewalt, Massaker und nationale Traumata. Und dennoch ist der Abend ein Hochgenuss allererster Güte.

Elbphilharmonie Hamburg / Ingo Metzmacher © Claudia Hoehne
Elbphilharmonie Hamburg / Ingo Metzmacher © Claudia Hoehne

Der Abend beginnt mit Anton Weberns Sechs Stücke für Orchester op. 6, einem Werk, das 1913 von Arnold Schönberg, dem Lehrer Weberns, in Wien uraufgeführt wurde. Es war eine Aufführung, die als „Watschenkonzert“ in die Musikgeschichte einging, bei der das Publikum laut und handgreiflich wurde, gegen die neuartige Musik protestierte und randalierte. Seitdem sind 104 Jahre vergangen. Aus heutiger Sicht, in Zeiten, in denen die Menschen das Gefühl haben, alles schon mal gesehen und gehört zu haben, ist ein solcher Aufruhr wegen etwas fremdartiger Musik ein wenig schwer nachvollziehbar. Das Publikum in Hamburg bleibt ruhig, sehr ruhig, ist konzentriert und gebannt.

Anton Webern äußerte sich zu einem Werk von Schönberg einmal auf eine Weise, die auch seine eigene Haltung zum Komponieren ausdrückt: „Kein Motiv wird entwickelt; höchstens, dass eine kurze Phrase sofort wiederholt wird. Wenn das Motiv einmal gesetzt ist, drückt es alles aus, was in ihm enthalten ist; es muss etwas Neues darauf folgen.“   Die Komposition Weberns ist radikal auf das Notwendigste reduziert, die vielen Musiker des Orchesters werden sehr sparsam eingesetzt. Die Instrumente spielen die gezielt nebeneinandergesetzten und sanft miteinander verwobenen Klänge meist sehr vereinzelt und wenig im großen Zusammenspiel, mehr nacheinander als miteinander – es ist Kammermusik einer Hundertschaft. Und wie alles am heutigen Abend ertönt diese Musik ganz fantastisch im großen Saal der neuen Elbphilharmonie: analytisch, klar, klangschön und mit genügend Wärme.

Es herrscht vom ersten Moment an extreme Spannung, zwischen Metzmacher und dem Orchester, zwischen Musikern und Ohrenzeugen. Die Musiker wirken extrem präsent und hellwach, so wach und aufmerksam wie man nur sein kann. In den vielen leisen Stellen würde man wohl hören, wenn eine Stecknadel auf die Bühne fiele.

Elbphilharmonie Hamburg / Wiener Philharmoniker © Claudia Hoehne
Elbphilharmonie Hamburg / Wiener Philharmoniker © Claudia Hoehne

Sehr schnell wird eine gespenstische Atmosphäre erzeugt, spooky. Von Beginn an wird klar, dass der Dirigent Ingo Metzmacher ganz genau weiß was er tut und die absolute Kontrolle über das Orchester und die Partitur hat. Man sieht und hört, dass der Mann am Pult das totale Vertrauen seines Orchesters hat. Es wird sehr schnell deutlich, dass hier sehr, sehr knackig und straff dirigiert wird, dass die Musik ganz genau so gespielt wird, wie es zu sein hat. Man erkennt sofort, dass das Abgelieferte absolute Weltklasse ist. Nicht besser vorstellbar.

Die Solo-Bratsche ist das wichtigste Instrument des heutigen Abends. Zu Beginn des ersten Stückes ertönt sie aus einer leisen Gespenstigkeit heraus, mir kommen Bilder eines einsamen Friedhofs, immer wieder wie eine Stimme in dunkler Nacht. Die Luft ist elektrisiert.   Die aufmerksame, elektrisierte Stimmung zieht sich in Intensität durch das ganze Stück, das extrem schnell vorbei ist. 15 Minuten gingen so schnell noch nie vorbei, wie in diesem Stück, mit diesem Orchester und diesem Dirigenten. Es war, als wäre man auf eine kurze Reise durch eine andere Welt entführt worden, außerhalb der Zeit. Eine solche extreme Spannung vom ersten bis zum letzten Ton. Eine Meisterleistung von Orchester und Dirigent. Eine wunderbare Erfahrung!

Elbphilharmonie Hamburg / Wiener Philharmoniker © Claudia Hoehne
Elbphilharmonie Hamburg / Wiener Philharmoniker © Claudia Hoehne

Das zweite Stück des denkwürdigen Abends ist Karl Amadeus Hartmanns, einem kurzzeitigen Schüler Anton Weberns, Sinfonie Nr.1 – Versuch eines Requiems. Bei diesem Stück kommt Gesang mit ins Spiel. Die Altistin Gerhild Romberger singt vier vertonte Gedichte aus Walt Whitmans Leaves of Grass. Die Texte handeln von Elend, Tod und Verzweiflung. So heißt es im ersten Gedicht „Auf alle Gemeinheit und Qual ohne Ende schaue ich sitzend hin, sehe und höre“. Im zweiten: „Elend, ach, gibst du uns all' und Gedanken an den Tod, der uns nah.'“ „Alles, alles öde und schwarz“ im dritten und „auf all ihre Toten schaute, verzweifelt, auf all die verzerrten Leiber, all die im Elend zugrunde gegangenen Menschen“ im letzten der vier Whitman-Gedichte.  Schön, trotz all dieser Abgründe und der Dunkelheit.

Auch hier herrscht von Beginn an extreme Spannung. Ingo Metzmacher hält die Zügel des kraftvollen Pferdegespanns Wiener Philharmoniker extrem eng. Alles am heutigen Abend ist wahnsinnig knackig, extrem zupackend und mit sehr viel Biss gespielt, mit perfektem Timing und größtmöglicher Musikalität. Die Gesangspartie ist  anspruchsvoll und die Sängerin macht ihre Sache gut. Allerdings ist diese Gesangspartie der einzige winzige „Kritikpunkt“ am heutigen Abend. Sie ist nicht ganz auf dem hohen Niveau des sehr guten Orchesters und Dirigenten. Das Orchester spielt die seltsam-komplexe Zeit der Komposition als extrem genaues Uhrwerk. Die Musiker spielen präzise, die Schlagzeuge auf den Punkt, das Zusammenspiel vollkommen. Das Orchester als geschmeidiger, muskulöser Panther. Es herrscht große Energie, auch im Leisen. Gespielt werden existentielle Klänge. Eine asketische Musik ohne Zitate. Die Komposition ein Monolith. Kein Gramm ist zu viel.  Zum Ende erschallt eine monströs unheilvolle Totenglocke, kurz aber markerschütternd, berührend. Viel Applaus, Bravo-Rufe.

Die erste Hälfte des monumentalen Abends war eine Demonstration dessen, was neue Musik kann. Pure Intensität. Gänsehaut. Vollkommen ohne Moment der Gleichgültigkeit oder Langeweile. Die Zeit vergeht im Flug. Energetisiert und hellwach gehe ich in die Pause.

Elbphilharmonie Hamburg / Eröffnungskonzert © Michael Zapf
Elbphilharmonie Hamburg / Eröffnungskonzert © Michael Zapf

In der zweiten Hälfte dann Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr.11 op.103 „Das Jahr 1905“. Auch hier herrscht vom ersten Ton an extreme Spannung. Trompeten und Trommelwirbel lassen sehr schnell und deutlich das Bild von Soldaten und einem Exerzierplatz erscheinen. Der erste Satz trägt den Titel Der Platz vor dem Palast. Auf diesem Platz wird leider nicht nur exerziert, sondern auch exekutiert. Dieser Platz soll zum Schauplatz eines Massakers werden, das eine tiefe Wunde im kollektiven russischen Gedächtnis hinterlässt und Schostakowitsch und dessen Familie jahrzehntelang beschäftigt und schmerzt. Am „Petersburger Blutsonntag“ im Jahre 2005 werden unbewaffnete Arbeiter bei einer Demonstration für bessere Arbeitsbedingungen auf Befehl des Zaren brutal zusammengeschossen. Mehr als 1000 Menschen sterben.

Das Orchester lässt dichte, unheilschwangere Erwartung entstehen. Ein leichter Moment, doch dann vollzieht sich das Unheil. Wie alles am heutigen Abend, ist das extrem kraftvoll komponiert und gespielt und sehr straff dirigiert. Die Musik reißt mit, man betrauert mit ihr die Toten. Zuerst in fassungsloser Nüchternheit. Doch dann der Moment der Realisierung des unfassbaren Geschehenen. Die Musik trägt weiter; heraus aus nüchternem Schock, hinein in große Gefühle, Entsetzen, Schmerz. Es sind unvergleichlich kraftvolle und wunderschöne musikalische Momente. Streicher-Salven mit unglaublicher Schärfe, die Luft durchschneidend, Moleküle auftrennend. Streicher-Attacken mit monumentaler Präzision, Kraft und Macht, von nie gehörter Aggressivität. Der Komponist als Regisseur einer Reise, auf die er Zuhörer mitnimmt, mit kraftvollem Sog, ins Geschehen hinein. Es wirkt die Macht der Musik. Schärfe, Kraft, Präzision des gesamten Orchesters. Dann ein paar Momente des Durchatmens, die Spannung wird  ein wenig aufgebrochen. Der Komponist lässt die Zügel für ein paar Takte lockerer.

Elbphilharmonie Hamburg / Wiener Philharmoniker © Claudia Hoehne
Elbphilharmonie Hamburg / Wiener Philharmoniker © Claudia Hoehne

Dann die Geigen wunderschön ätherisch und zart, mit unfassbarer Feinheit und Luftigkeit. Schönes, präzises, wieder Spannung aufbauendes Zupfen der Kontrabässe und Celli. Dann erst präzise Attacken und darauf folgend ein langer Sturmlauf. Man ist gebannt, an den Sitz gefesselt. Nirgendwo auf der Welt will man jetzt lieber sein als hier und jetzt, in diesem Konzert. Mit Sturmgeläut ist der letzte Satz des Stückes überschrieben und dieses Sturmgeläut ist eine gewaltige Macht, die einen betrifft, die mitnimmt. Keiner kann davon unberührt bleiben. Ein fulminantes, wunderschönes Finale. Dann Stille. Ein dezentes zweimaliges Harfenzupfen, noch ein Harfenzupfen. Die Oboe mit einer feinen Melodie. Noch ein Harfenzupfen. Eine extrem energiegeladene leise Passage auf die noch ein donnernder Großsturm folgt, noch heftiger als zuvor, die Wände Jerusalems erschütternd......Dann ist es aus!

Eines meiner beeindruckendsten Konzerterlebnisse ist vorbei. Raus aus Das Jahr 2005, zurück in den wunderbaren Konzertsaal an der Elbe in Hamburg. Und in diesem Saal bricht Jubel los. Das Donnern kommt jetzt aus den Zuschauerrängen. Tosender Applaus, lang, sehr lang, eine kleine Ewigkeit lang. Das zuvor konzentriert gebannte Publikum hellauf begeistert. Stehende Ovationen. Ingo Metzmacher schien schon direkt unmittelbar nach dem letzten Ton des Konzertes gerührt, überwältigt vom Geschehenen. Jetzt ist er es von der Reaktion des Publikums. Mehrfach scheint er sich Tränen aus des Augen zu wischen. Ein Konzert, das jeden berührte.

Die Musiker haben hier und heute Großes und Unvergessliches geleistet. Alle drei Stücke des Abends wurden mit einer solchen Präzision und Intensität gespielt, dass es sich die Komponisten wohl keinen Deut besser umgesetzt vorstellen könnten. Als Zuhörer verlässt man den Konzertsaal elektrisiert, voller Energie, wach, geistig und seelisch bereichert. Von den Wiener Philharmonikern und Ingo Metzmacher.

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