Berlin, Berliner Ensemble, Oliver Reese folgt Claus Peymann, IOCO Aktuell, 05.12.2017

Berlin, Berliner Ensemble, Oliver Reese folgt Claus Peymann, IOCO Aktuell, 05.12.2017
Berliner Ensemble / (Theater am Schiffbauer Damm) © Moritz Haase
Berliner Ensemble / (Theater am Schiffbauer Damm) © Moritz Haase

Berliner Ensemble

BERLINER ENSEMBLE - Großes Theater - Neue Intendanz

Max Reinhardt, E.J. Aufricht, Rudolf Platte, Bertolt Brecht,  Helene Weigel

Von Anna Moll

Berliner Ensemble / Intendant Oliver Reese © Jonas Holthaus
Berliner Ensemble / Intendant Oliver Reese © Jonas Holthaus

Ich liebe dieses Theater! Oliver Reese, der neue Intendant des Berliner Ensembles spricht mir aus der Seele, wenn er sagt, dieses Theater sei “unfassbar schön“. Aber es ist nicht nur eines der schönsten Theater, es ist auch eines mit theatergeschichtlich bedeutsamer Tradition und über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt und bewundert! 180.000 Besucher zieht das Berliner Ensemble, meist nur kurz BE bezeichnet, jährlich in seinen Bann.

Die Spielstätte des BERLINER ENSEMBLE, das Theater am Schiffbauerdamm, wurde 1892 in herrlichem Neobarock mit einem Theatersaal für etwa 700 Personen erbaut (Foto) und mit Goethes Iphigenie auf Tauris eröffnet. Die Weber von Gerhard Hauptmann wurden hier uraufgeführt, Stücke von Frank Wedekind und Maurice Maeterlinck standen auf dem Programm sowie andere wichtige Dramen der damaligen zeitgenössischen Theaterliteratur.

Berliner Ensemble / Theater am Schiffbauer Damm - hier der herrliche Zuschauerraum in prächtigem Neobarock © Moritz Haase
Berliner Ensemble / Theater am Schiffbauer Damm - hier der herrliche Zuschauerraum in prächtigem Neobarock © Moritz Haase

Von 1903 bis 1906 war der große Max Reinhardt Direktor des Hauses, der hier  Shakespeares Ein Sommernachtstraum zur Musik von Mendelson-Bartholdy, Hofmannsthals Elektra, Oscar Wildes Salome inszenierte, um nur einige Produktionen zu nennen.  Nach dieser theatergeschichtlich wichtigen Zeit wurde das Haus bis 1925 unter verschiedenen Direktoren zum Operetten- und Unterhaltungstheater. 1926 wird es zur zweiten Spielstätte der Volksbühne. 1928 wird E.J. Aufricht Intendant. Im selben Jahr wird Brecht/Weills  Die Dreigroschenoper in der Regie von Erich Engel uraufgeführt – die Weimarer Republik erlebt ihren größten Theatererfolg!!

Das Theater bleibt weiterhin erfolgreich. Autoren wie Ernst Toller, Ödön von Horvath, Marieluise Fleißer, Jean Cocteau, mit dessen Orpheus Gustav Gründgens seinen Einstand als Regisseur gibt, werden zur Aufführung gebracht. Zum Ensemble gehören in dieser Zeit große Künstler und Künstlerinnen wie Lotte Lenya, Carola Neher, Helene Weigel, Hilde Körber, Ernst Busch, Ernst Deutsch, Peter Lorre, Kurt Gerron, Erich Ponto.

1931 endet Aufrichts Intendanz. Unter wechselnden  Bühnennamen gibt es wieder eher leichtere Unterhaltung, ab 1933 dominieren nationalsozialistische Vorgaben. 1944 wird das Theater geschlossen. Nach dem Krieg übernimmt zunächst Rudolf Platte als Intendant, abgelöst wird er 1946 von Fritz Wisten.

1949 hatte sich um Bertolt Brecht eine Gruppe von Theaterkünstlern formiert, die sich den Namen Berliner Ensemble gibt. Ohne eigenes Haus kommt sie auf Einladung von Thomas Langhoff am Deutschen Theater unter. Als Wisten 1954 mit seiner Kompanie in die wiederaufgebaute Volksbühne zieht, übernimmt das Berliner Ensemble das Theater am Schiffbauerdamm, nachdem Brecht bei Otto Grotewohl erfolgreich gegen Pläne Einspruch erhoben hatte, das Theater dem Ensemble der Kasernierten Volkspolizei zu überlassen. Die Bühne wurde zum BE, zum BERLINER ENSEMBLE mit Helene Weigel als Intendantin und Bertolt Brecht als Künstlerischem Leiter. Der Einfluss des Brecht‘schen epischen Theaters, auch international, sollte man nicht unterschätzen. Lange Jahre war Brechts Truppe das weltweit am meisten bewunderte deutsche Theater und hat  Regisseure wie Giorgio Strehler, Patrice Chereau, Juri Ljubimow, Roger Planchon, Ariane Mnouchkine, Peter Stein u.a.m. inspiriert und beeinflusst.

Mit Brechts Mutter Courage und ihre Kinder geht das BE 1954 zum Theaterfestival der Nationen nach Paris, wo es den ersten Preis für das beste Theaterstück und die beste Inszenierung (Erich Engel) erhält. Ebenfalls 1954 inszeniert Brecht Der kaukasische Kreidekreis. Bei der Premiere gibt es 52 Vorhänge und 4 vor dem eisernen Vorhang! Nach dem Tod von Bertolt Brecht im Jahre 1956 übernimmt Erich Engel die Künstlerische Leitung, Helene Weigel bleibt Intendantin.

Einen weiteren großen Erfolg erobert das BE mit der Inszenierung von Brechts Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (Regie Peter Palitzsch und Manfred Wekwerth). Mit Ekkehard Schall als Arturo Ui wird das Stück 1974 nach 532  Aufführungen abgesetzt. Eine Neuinszenierung von Die Dreigroschenoper, wieder mit Engel als Regisseur, knüpft an alte Erfolge an. Beeindruckend auch die Leistung von Helene Weigel, die 1961 nach 405 Aufführungen zum letzten Mal die Mutter Courage gibt.

Die Coriolan-Inszenierung durch Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert wird ebenfalls ein großer Erfolg, zu dem Ruth Berghaus mit ihrer Choreographie der Schlachtszenen beiträgt. Sie wirkt ab 1970 als Stellvertreterin Helene Weigels und übernimmt nach deren Tod in 1971 die Intendanz. In den folgenden Jahren holt Ruth Berghaus B.K. Tragelehn und Einar Schleef als Regisseure ans Haus, setzt sich ein für neuere dramatische Literatur der DDR von Autoren wie Peter Hacks und Karl Mickel. Sie inszeniert Zement von Heiner Müller, der 1961 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen worden war. Sie bekommt Schwierigkeiten wegen ihres experimentellen Ansatzes und wird entmachtet. Manfred Wekwerth folgt als Intendant. Stücke von Volker Braun und weiterhin von Heiner Müller werden erfolgreich aufgeführt. Die Inszenierungen von Goethes Faust Szenen (Urfaust) 1984 und Heiner Müllers Germania Tod in Berlin 1989 bekommen Aufmerksamkeit.

1992 entsteht ein Fünfer-Direktorium: Die Leitungsgruppe Langhoff, Marquardt, Müller, Palitzsch, Zadek zerfällt allerdings bald durch Unstimmigkeiten und Machtkämpfe. Heiner Müller setzt sich durch, wird alleiniger Intendant und prägt eine neue Epoche. Mit seiner letzten Inszenierung (1995) von Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui mit Martin Wuttke in der Hauptrolle entsteht ein bis heute andauernder Theatererfolg. Nach Müllers Tod 1995 folgen bis 1999 Martin Wuttke und nach ihm Stephan Suschke als Intendanten.

1996 wurde die vom Dramatiker Rolf Hochhuth gegründete Ilse-Holzapfel-Stiftung Eigentümerin der Immobilie Theater am Schiffbauerdamm. Vertraglich wurde für Hochhuth ein Rahmen festgelegt, innerhalb dessen er in beschränktem Maße das Theater für mögliche Aufführungen eigener Stücke nutzen darf. Daraus sich ergebende, oft auch öffentlich ausgetragene Streitereien, unter anderem mit Claus Peymann, besitzen in vielen Facetten, bis heute den Charakter einer eigenen Theatergroteske.

Claus Peymann, Intendant so wichtiger Bühnen wie Stuttgart, Bochum und Wien, übernimmt das BE 1999. In den 18 Jahren seiner Intendanz setzt Peymann auf Autoren wie William Shakespeare, Thomas Bernhard, Peter Handke, Bertolt Brecht und pflegt eine enge Zusammenarbeit mit George Tabori. Peymanns eigene Inszenierung von Shakespeares Richard II wird im Jahr 2000 vom französischen Kritikerverband zur besten fremdsprachigen Inszenierung gewählt. Einer der wichtigen Regisseure, die unter Peymann für das BE arbeiten, ist Robert Wilson, dessen Inszenierung von Die Dreigroschenoper großen Eindruck macht, ebenso wie  die von Sonnette von Shakespeare mit Musik von Rufus Wainright oder von Leonce und Lena mit musikalischen Assoziationen von Herbert Grönemeyer.

Im September 2017 endete die BE - Intendanz des inzwischen 80jährigen Claus Peymann. Oliver Reese, Jahrgang 1964, löst ihn ab. Ein Mann einer anderen Generation. Wie bei fast allen Intendantenwechseln gab es auch bei diesem Stabwechsel Reibereien, meist ausgehend von Peymann. Doch schlugen die Wellen der Aggression am BE nicht so hoch wie 2016, bei dem Stabwechsel von Frank Castorf zu Chris Dercon bei der Volksbühne Berlin.

Oliver Reese kehrt mit der Spielzeit 2017/18 sozusagen nach Berlin zurück. Denn bevor er das Schauspiel Frankfurt ab 2009/2010 als Intendant bis zur Spielzeit 2016/17 leitete,  war er als Chefdramaturg bereits sieben Jahre (1994-2001) am Maxim Gorki Theater und danach weitere acht Jahre am Deutschen Theater u.a. als Interimsintendant tätig.  Ihm dürfte sehr bewußt sein, in was für eine ausgeprägte Traditionslinie er sich am BE einreiht. Vom ehemaligen Ensemble übernimmt Reese lediglich zwei Mitglieder. Mitglieder des neuen Ensemble sind u.a.: Constanze Becker, Corinna Kirchhoff, Bettina Hoppe, Annika Meier, Stephanie Reinsperger, Ingo Hülsmann, Niko Holonics, Felix Rech, Andreas Döhler, Tilo Nest, Patrick Güldenberg.

Berliner Ensemble / Eine Frau - Mary Page Marlowe - hier v.l. Ruby Commey, Bineta Hansen, Carina Zichner, Corinna Kirchhoff © Julian Roeder
Berliner Ensemble / Eine Frau - Mary Page Marlowe - hier v.l. Ruby Commey, Bineta Hansen, Carina Zichner, Corinna Kirchhoff © Julian Roeder

Ein Coup dürfte Reese gelungen sein, indem er Frank Castorf, dessen (eher unfreiwilliger) Abschied von der Volksbühne die Gemüter Berlins bewegte, als Regisseur gewinnen konnte. Castorf wird am BE jedes Jahr ein Stück inszenieren. Seine erste Produktion, für Dezember 2017 angesetzt, wird eine Adaption von Les Misérables von Victor Hugo sein. Ein großer Gewinn für Berlin!

Des Weiteren hat Reese Michael Thalheimer als Hausregisseur und Mitglied des Leitungsteams gewonnen, der zwei Inszenierungen pro Spielzeit erarbeiten wird.

Seine erste Saison 2017/18 am BERLINER ENSEMBLE läutete Reese an einem September Wochenende mit gleich drei unmittelbar aufeinander folgenden Premieren ein: Caligula von Albert Camus mit der großartigen Constanze Becker in der Titelrolle (Regie: Antú Romero Nunes); Nichts von mir von Anre Lygre (Regie: Mateja Koležnik); Der Kaukasische Kreidekreis (Regie: Michael Thalheimer).

Das Repertoire wird ergänzt mit 13 weiteren Neuinszenierungen sowie mehreren Übernahmen vom Schauspiel Frankfurt am Main, darunter einige Inszenierungen, bei denen Reese in Frankfurt  selbst Regie geführt hat sowie zwei Inszenierungen von Michael Thalheimer: Kleists Penthesilea und die Medea des Euripides, jeweils mit Constanze Becker in der Titelrolle, die für ihre Medea den Deutschen Theaterpreis erhielt.

Berliner Ensemble / Der Gott des Gemetzels - hier v.l. Corinna Kirchhoff, Doerte Lyssewski, Thilo Nest, Michael Maertens © Matthias Horn
Berliner Ensemble / Der Gott des Gemetzels - hier v.l. Corinna Kirchhoff, Doerte Lyssewski, Thilo Nest, Michael Maertens © Matthias Horn

Die erste Inszenierung des Intendanten Reese selbst am BE, die von ihm erarbeitete Bühnenfassung von Benjamin von Stuckrad-Barres Panikherz, ist für Februar 2018 geplant. Reese übernimmt auch fünf Stücke aus Claus Peymanns Ära: Der Prinz von Homburg, Peymanns Abschiedsinszenierung am BE - vielleicht zu verstehen als die Andeutung einer Verbeugung gegenüber seinem Vorgänger; Der Gott des Gemetzels von Yasmina Reza in der Regie von Jürgen Gosch; Robert Wilsons Inszenierungen von Die Dreigroschenoper und Becketts Endspiel und den Dauerbrenner, die Heiner Müller Inszenierung von Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui.

Die Programmgestaltung ist geprägt durch ein deutliches Interesse an zeitgenössischen Themen und Texten ganz in der Tradition von Brecht und Heiner Müller. 12 der 17 Premieren in der ersten Saison stammen von lebenden Autoren, etwa vom amerikanischen Pulitzer Preisträger Tracy Letts, vom britischen Dramatiker Dennis Kelly oder von Rainald Goetz.

Ein weiteres ambitioniertes Projekt des Intendanten Reese ist das neue BE-Autorenprogramm, zu dessen Chef der Schriftsteller und Theaterschreiber Moritz Rinke gemacht wurde. Reese erinnert an die Zeit, als “der deutschsprachige Raum die stärksten Theaterschreiber zu bieten hatte: Heiner Müller, Thomas Bernhard, Botho Strauß, Franz Xaver Kroetz“. Das Projekt hat sich die Förderung von Autoren zum Ziel gesetzt. In einer künftigen Autorenwerkstatt sollen darüber hinaus zeitgenössische Autoren gemeinsam mit Regisseuren neue Stücke erarbeiten, die dann am BERLINER ENSEMBLE auch aufgeführt werden.

Eine von Oliver Reese bereits am Schauspiel Frankfurt installierte Gesprächsreihe wird nun auch an das BE übernommen, mit Michel Friedmann als Gastgeber: Ein Forum für intellektuelle Diskussionen. Die Gesprächsreihe hatte zuerst Joschka Fischer zu Gast, dann Nicole Deitelhoff und nun folgt Robert Menasse.

Jenseits der künstlerischen Pläne gibt es noch wesentliche Pläne, was  Umbauten, Renovierungen und Modernisierungen betrifft. Ab 2018/19 soll es zwei neue Spielstätten geben, sprich: das BERLINER ENSEMBLE hätte dann drei feste Spielstätten: das Große Haus, das Kleine Haus, den Werkraum.

Insgesamt vielfältige und ehrgeizige Absichten und Pläne  für den Beginn einer neuen Epoche. Man darf gespannt sein!

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