Stuttgart, Stuttgarter Ballett, Cranko Pur - Hommage auf John Cranko, IOCO Kritik, 10.10.2017

Stuttgart, Stuttgarter Ballett, Cranko Pur - Hommage auf John Cranko, IOCO Kritik, 10.10.2017
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Stuttgarter Ballett | Oper Stuttgart

Stuttgart Opernhaus © A.T. Schaefer

Stuttgart Opernhaus © A.T. Schaefer

  Cranko Pur  -  Ballett zum 90. Geburtstag von John Cranko

In jeder Geste, jedem Schritt - Scharfer Bobachter, großer Menschenfreund

Von Peter Schlang

Am 5. August wäre der Gründer des Stuttgarter Balletts und Vater des gleichnamigen Ballettwunders, John Cranko,  90 Jahre alt geworden. Dies nahm der in seiner 23. und letzten  Spielzeit amtierende Ballettintendant Reid Anderson zum Anlass, den großen Choreografen und Tanzpädagogen mit einem Ballettabend zu ehren, der am 3. Oktober im Stuttgarter Opernhaus seine Premiere erlebte. Anderson griff für  die Geburtstagsfeier also nicht auf eines der beliebten, abendfüllenden Handlungsballette Crankos zurück, sondern stellte dazu drei eher selten aufgeführte und in dieser Kombination noch nie gezeigte kleinere Werke zusammen, allesamt Pretiosen moderner Tanzkunst. Damit schafft er in seiner Abschiedssaison auch den Bezug zu seiner Anfangszeit als Tänzer in Crankos  Stuttgarter Compagnie, der er seit nunmehr 37 Jahren in verschiedenen Rollen angehört. Und wie andere damalige Mitglieder der jungen Truppe wurde auch Reid Anderson wesentlich durch Crankos Ballettschöpfungen geprägt und hob dabei auch  Rollen aus der Taufe, die der große Choreograf eigens für ihn geschaffen hatte.

Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett mit Cranko Pur © Stuttgarter Ballett
Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett mit Cranko Pur © Stuttgarter Ballett

Den Anfang der Feiertagspremiere machte das älteste der an diesem denkwürdigen Abend zu sehenden drei Stücke, das 1963 uraufgeführte L’Estro Armonico, das Cranko zu drei der zwölf gleichnamigen Solokonzerte Antonio Vivaldis geschaffen hatte. Dieses gut halbstündige Stück kommt ganz ohne Handlung aus, ist also ein abstraktes, nur an der musikalischen Vorlage orientiertes Werk, sozusagen „Ballett pur“, in dem man quasi „den Tanz hört und die Musik sieht“. L’Estro Armonico zeigt nicht nur die „musikalische Eingebung“ -  so die deutsche Übersetzung des Titels - Vivaldis, sondern auch die große choreografische Kreativität und  phänomenale musikalische Sensibilität John Crankos, der jeden Schritt seiner sieben Tänzerinnen und acht Tänzer auf die Partitur abgestimmt hat, ohne diese bloß zu illustrieren. Dieses geniale Vorgehen zeigt sich in allen Abläufen und Bewegungen, die für ihre Entstehungszeit ungemein modern gewesen sein müssen und schon alles an Figuren, Sprüngen und Hebungen zeigt, was dem heutigen Ballettpublikum von späteren Balletten vertraut ist. Dennoch hat dieses höchst theatralische Stück nichts von seiner Frische und Radikalität verloren und führt zudem meisterhaft Crankos Humor, insbesondere in Form der von ihm gerne angewandten Umkehr der Traditionen und dem Spiel mit den Konventionen vor, so etwa wenn er mehrfach die traditionellen Trikotfarben parodiert und die männlichen Solisten in Weiß, die Tänzerinnen aber in Schwarz auftreten lässt oder einzelne Schritte und Gesten stark ironisch überhöht.

Die drei Solisten dieses mitreißenden Eingangswerks, Elisa Badenes, David Moore und Martí Fernández Paixà, werden dieser mit höchsten Schwierigkeiten ausgestatteten Herausforderung genauso ohne jeden Abstrich gerecht, wie die je sechs Tänzerinnen und Tänzer der Ensembleszenen ihre ebenso höchst anspruchsvollen Parts souverän bewältigen. Alle zusammen führen sie auf bewundernswerte Weise vor, wie sich Einzelne und Teilgruppen - genau wie im richtigen Leben - zu einem harmonischen Ganzen vereinigen, um sich bald darauf wieder voneinander zu lösen oder auseinander dividieren lassen.

Großen Anteil an der Wirkmächtigkeit dieses Auftaktstücks hatte das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung seines Gastdirigenten Aivo Välja, der den drei aus dem Orchester entliehenen Solisten Elena Graf, Violine, Andreas Noack, Flöte und Ivan Danko, Oboe, jeglichen Raum zur prachtvollen Entfaltung ließ.

Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett mit Cranko Pur © Stuttgarter Ballett
Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett mit Cranko Pur © Stuttgarter Ballett

Nach der ersten Pause bekam das Premierenpublikum die 1970 entstandenen Brouillards zu sehen, die jüngste der jetzt gezeigten Arbeiten, die Cranko zu den stimmungsvollen ersten Klaviervorspielen der zweiten Sammlung von Préludes Claudes Debussys geschaffen hat. Diese zehn Bilder bilden nicht nur aufgrund ihrer Mittelposition das Herzstück dieses Cranko-Abends, zeigen sie doch in ihrer maximalen Verdichtung und der ihnen innewohnenden Mystik die große Kunst des ersten Stuttgarter Ballettchefs der Neuzeit. Zur kongenialen Musik des französischen Impressionisten findet er hoch poetische Menschen- und Naturbilder, welche die Abwechslung und Vielfalt  des Lebens wie dessen Vergänglichkeit auf zart-einfühlsame wie erneut humorvoll-ironische Weise vorführen.

 Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett und Cranko Pur © Stuttgarter Ballett
Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett und Cranko Pur © Stuttgarter Ballett

Zur Darstellung dieser so unterschiedlichen wie vielseitigen Empfindungen und Stimmungen greift Cranko auf altbekannte Ballettfiguren und Bewegungsabläufe wie auf modernste, slapstickhafte  Einfälle zurück. Äußerst beeindruckend etwa, wie er ein Corps mit überkreuzten Armen und Hand in Hand verbunden den titelgebenden Nebel  (Brouillards) darstellen lässt, was gleichzeitig ein schönes Bild für Gemeinschaft und Freundschaft abgibt. Dieses kontrastiert mit dem witzig-vergnügten vierten Bild Général Lavine Eccentric, in dem sich das Trio Alessandro Giaquinto, Matteo Miccini und Cédric Rupp wie in einer Charly Chaplin-Parodie zeigen und ihre Betrachter zum wiederholten Lachen reizen. Aber auch die anderen der vom Rezensenten nicht einzeln erwähnten Szenen bieten unvergessliche, meisterhaft vorgeführte Einblicke in menschliche Höhen wie Abgründe und zeigen eine Compagnie in Höchstform, die alle tänzerischen wie schauspielerischen Herausforderungen jederzeit mühelos bewältigt.

Auch hier zeigte sich die musikalische Begleitung wieder als kongenialer Partner des Tanzes, und man staunte mehr als einmal, wie  einerseits expressiv und andererseits einfühlend Alexander Reitenbach am Flügel den Klavierpart gestaltet – mal Interpret des auf der Bühne zu sehenden Tanzes, mal eigenständiger Schöpfer und Gestalter eines Klangteppichs, auf dem die insgesamt sechs Tänzerinnen und  zwölf Tänzer dankbar ihre Kunst zeigen durften. Auf  jeden Fall ist der Pianist hier jederzeit viel mehr als ein Klavierbegleiter und man kann wieder einmal der Stuttgarter Ballettintendanz und dem gesamten Stuttgarter Staatstheater nicht genug dafür danken, dass sie dem Publikum die woanders als verzichtbaren Luxus angesehene Live-Begleitung gönnen und konsequent auf Konservenmusik als Tanzbegleitung verzichtet.

 Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett und Cranko Pur © Stuttgarter Ballett
Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett und Cranko Pur © Stuttgarter Ballett

So euphorisch gestimmt, erwartete das Premierenpublikum gespannt Crankos großen Klassiker Jeu de Cartes, den er 1965 zur gleichnamigen Musik des berühmten Ballettkomponisten Igor Strawinsky choreografiert hatte. Der Komponist wiederum schuf seine Musik ursprünglich 1936 für den ebenso genialen Choreografen George Balanchine, dessen Version es jedoch in Sachen Witz, Lebendigkeit und Unterhaltungswert nach Meinung vieler Experten in keinem Moment mit der in Stuttgart zu sehenden aufnehmen kann.

Auch hier und zum Abschluss eines insgesamt fast dreistündigen Ballettabends zeigte sich die Stuttgarter  Compagnie mit ihren hier agierenden 16 Tänzerinnen und Tänzern von ihrer allerbesten Seite und riss die Zuschauer in den drei Szenen eines Pokerspiels  immer wieder zu Begeisterungsstürmen hin. Diese galten nicht nur dem in allen drei Teilen als Joker restlos überzeugenden Adhonay Soares da Silva, sondern auch den übrigen, verschiedene Kartenwerte verkörpernden Tänzerinnen und Tänzern. Herzerfrischend, mit welchem Humor, ja Komik, Spielfreude und Ausdruckskraft hier die jeweilige Spielsituation beschrieben, untersucht und schließlich vom Joker, der eigentlich in einem Pokerspiel gar nichts zu suchen hat, durcheinander gewirbelt und von den Füßen auf den Kopf gestellt wird. Vermutlich stand der hier zu sehende Tänzer dieser dankbaren wie heiklen Paraderolle deren ursprünglichem Interpreten, dem zur „Ur-Compagnie“ gehörenden Egon Madsen, in nichts nach. Denn der, wie die Schöpferin des Bühnenbildes und der noch immer wundervollen Kostüme  Dorothee Zippel zum Schlussapplaus auf die Bühne gerufene Madsen konnte gar nicht genug davon bekommen, seinen jugendlich-frechen Nachfolger immer wieder zu umarmen und hochleben zu lassen.

Dieses schöne Bild vom reibungslosen Generationen-Übergang stimmte nicht nur hoffnungsvoll auf die weiteren Höhepunkte und kommenden Repertoire-Abende von Reid Andersons letzter Spielzeit als Ballettdirektor ein, sondern bildete auch den stimmigen Abschluss eines Abends, der zu keiner Zeit museal wirkte noch den geringsten Anschein von Reliquien-Verehrung aufkommen ließ. Vielmehr führte er überzeugend vor Augen, dass auch die momentan agierende Stuttgarter Compagnie ihre Liebe zum Vater des Stuttgarter Ballettwunders und ihre Begeisterung für dessen Schöpfungen auf allerhöchstem Niveau zu demonstrieren vermag und John Crankos überaus wichtige Funktion als Wegbereiter und Anreger  noch immer aktuell und gefragt ist.

Cranko Pur - Stuttgarter Ballett: Weitere Vorstellungen am 07. 10., 13.11., 15.11. und 18.11. und 26.11.2017